ERHARD S. GERSTENBERGER THEOLOGIEN IM ALTEN TESTAMENT PLURALITÄT UND SYNKRETISMUS ALTTESTAMENTLICHEN GOTTESGLAUBENS Die Pluralität und der Synkretismus der alttestamentlichen Überlieferungen sind keineswegs ein Verhängnis, sondern ein außerordentlicher Glücksfall. Diese Mannigfaltigkeit der Theologien öffnet uns den Blick für andere Völker, Zeiten und Gottesvorstellungen. Sie befreit uns zu der aufrichtigen, gelassenen Würdigung der theologischen Leistungen unserer geistlichen Vorväter und Vormütter und sie macht uns fähig, im Dialog mit ihnen und mit den Religionen der Welt einen hilfreichen Gottesglauben für unsere apokalyptische Zeit zu formulieren. Nach einem Abriss über die Sozialgeschichte Israels und Ausführungen über Kult und Ethos in Familie und Sippe, Gott und Göttin in dörflicher Wohngemeinschaft und im Stammesverband behandelt Gerstenberger die Reichstheologien in Israel, die Glaubensgemeinschaft Israel nach den Deportationen und in einem abschließenden Kapitel („Nachwirkungen und Auseinandersetzungen") u.a. die Themen „Der autonome Mensch" „Die ungerechte Welt", „Der befreiende Gott", „Gottesbilder", „Gott für alle“. Professor Dr. Erhard S. Gerstenberger lehrt Altes Testament an der Universität Marburg. Thema: GOTT IN UNSERER ZEIT Abschiedsvorlesung am 23. Juli 1997 in der Alten Universität zu Marburg Eingangsmotto: Von allen Seiten umgibst du mich Und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen 1. Universalität und Kontextualität …. 2. Gotteserfahrungen der Vergangenheit … 3. GOTT in unserer Zeit Bibelinterpretation kann nicht bei der Erhebung von theologischen oder religionsgeschichtlichen Sachverhalten stehenbleiben. Weil wir in der Bibel ein Gründungsdokument unseres Glaubens und unserer Kultur vor uns haben, sind wir direkt von den Aussagen der biblischen Zeugnisse betroffen. Sie sind „Bein von unserem Bein, Fleisch von unserem Fleisch", und mit den eigenen Ahnen geht man bekanntlich anders um als mit Fremden. Wir erkennen uns selbst in der biblischen Vergangenheit, unseren Segen und auch unseren Fluch, haben aber gleichzeitig die Aufgabe, dieses geistliche Erbe in unserer Gegenwart neu zu erschaffen, entsprechend den Parametern unserer Zeiten und Gesellschaften. Dazu ist vor dem Dialog mit den alten Texten eine Verständigung über die veränderten Gesellschaftsstrukturen und Grundeinsichten nötig. Wir suchen nach den für den Glauben heute wichtigsten Kennzeichen der Zeit, bzw. nach ihren Hauptstrukturen und Hauptproblemen. Dabei ist vorausgesetzt: Der Versuch, auf das Leben, die Welt, das Unbedingte an reagieren, kann nicht nur über antike Texte erfolgen. Lateinamerikanische Theologinnen und Theologen wie Carlos Mesters sprechen unbefangen von einem längeren Suchweg des Exegeten. „Vom Leben zur Bibel", „von der Bibel zum Leben" geht der Pfad. Das heißt: Bibelinterpreten setzen sich der Wirklichkeit aus, erkennen in den Strukturen und Ereignissen heute die lebenschaffende Kraft und leiden unter den Todeseinflüssen. Sie treten in den Dialog mit den biblischen Zeugen und ihren Erkenntnissen und kehren zurück zum gegenwärtigen Leben. In traditioneller Sprache: Ist Gott wirklich Gott, dann wirkt er/sie/es auch in heutigen Verhältnissen und durch sie. Die Erfahrungen der Antike sind wertvolle Leuchtfeuer. Aber den Kurs des Glaubensbootes heute müssen wir selbst finden in unbekannten, neuen Gewässern. Der einzelne im Getriebe der Gesellschaft Wie sind denn die heutigen Verhältnisse beschaffen, in denen wir dem Anspruch des Anderen, dem bedrängenden Leben, dem unerklärlichen Leiden und der Sinnfrage im Ganzen begegnen? - Der Schichtenaufbau menschlicher Gesellschaft ist nach wie vor Realität, wenngleich bedeutsame Umstrukturierungen geschehen sind. Am Anfang steht nicht mehr die Familieneinheit, sondern das autonome, fast autistische (Horst Eberhard Richter) Individuum. Es ist eine Welt für sich, alles übrige ist angeblich seinetwillen geschaffen. Selbst der globale Markt, das entgegengesetzte Ende des Spektrums, soll noch dem Einzelnen dienen: Moderner Irrglaube, welcher nach dem jetzigen, Stand der Dinge die Masse der Weltbevölkerung dem Elend und Untergang preisgibt? Zwischen beiden Polen, dem lndividuum und der Weltgesellschaft, liegen eben jene Gesellschaftsformen der Zehner, Hunderter, Tausender und Hunderttausender und Millionen-Klasse, wie wir sie schon aus der Antike kennen. Die Industriegesellschaft hat sie ihren Erfordernissen entsprechend gründlich umgemodelt. Vor allem muss der einzelne beweglich sein, er muss einsatzbereit sein als winziges Rädchen im großen Getriebe. Die Familie existiert noch in stark reduzierter Gestalt. Sie zieht noch Kinder groß, mehr schlecht als recht. Sie gibt ein bisschen Geborgenheit, die dem autonomen Individuum oft so kostbar ist, und der tägliche Gedankenaustausch zwischen Eheleuten soll im Durchschnitt noch fünf bis sechs Minuten in Anspruch nehmen. Zahlreiche andere Gruppierungen im Zehner und Hunderter-Bereich menschlicher Vergesellschaftung haben den Familienverband ergänzt oder ersetzt. Von der Kindergartengruppe bis zum Seniorenklub, von Arbeits-, Freizeit-, Kunstvereinigungen, von Hilfe- und Selbsthilfezirkeln bis zu politischen und religiösen Gruppierungen sorgen heute zahllose soziale Kleingebilde für das nur face-to-face erlebbare, notwendige Beziehungsgeflecht. In den zahlenmäßig höheren Gesellschaftsformen herrschen seit eh und jäh ähnliche Strukturen der Abhängigkeit und Dominanz, der gemeinsamen Kulturleistung und der selbstzerstörerischen Konflikte. Die himmelstürmende Vergrößerung menschlicher Macht durch mechanisches und elektronisches Gerät (vom Handwerkszeug zum Denkwerkzeug!), die Überdimensionierung wirtschaftlicher Systeme steigern zwar gute wie böse Effekte der Großgesellschaft, aber die Konturen dieser anonymen, bürokratischen, schwer demokratisierbaren Vergesellschaftungen sind in Antike und Moderne einander ähnlich. Unsere Hauptprobleme liegen auf der Hand: Die Rolle des einzelnen in den immer größeren Getrieben der Gesellschaft - gedeihliche Interaktion der einzelnen Gesellschaftsformationen demokratische Strukturierung von Autorität - weitsichtiger Umgang mit den natürlichen Ressourcen menschenwürdiges Leben für alle - global gerechte Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung. Die eine Welt unter dem einen Gott Nicht nur die gesellschaftlichen Veränderungen spielen für theologische Rede heute eine Rolle. Es sind auch die Umwälzungen in Wissenschaft und Technik und das damit gegebene neue Verhältnis zur Natur, die unsere traditionell geheiligten Denkmuster beeinflussen müssen. Aus der Tiefe des Universums und der Zeit, aus den Genom-Strukturen und der atomaren Wunderwelt sieht uns das große Geheimnis an und fordert unsere Stellungnahme. Wie und wozu befinden wir uns auf diesem Planeten am Rande einer Galaxie, irgendwo in der Peripherie des Universums? Die antiken Vorfahren sahen vieles ganz anders in ihrem geo- bestenfalls heliozentrischen, anthropomorphen und patriarchalen, übersichtlichen Weltganzen. Theologie, Kirche, und alle vernunftbegabten Wesen können den grundsätzlichen Anfragen an die eigene Position nicht mehr ausweichen. Die Dringlichkeit der im Kern religiösen Fragestellung wird dadurch erhöht, dass nach ernstzunehmenden Vorausberechnungen der Menschheit und dem Leben auf diesem Planeten nur noch wenig Zeit zugemessen ist, wenn wir so weiterwirtschaften wie bisher. Apokalyptische Albträume, seit Jahrtausenden in der Menschheit im Schwange, (vgl. Dan 2; 7; Ofbg 20f) scheinen nun der Verwirklichung nahe. Hauptprobleme: Bedrohung der planetarischen Biosphäre Nichtkontrolle der wissenschaftlichen und technischen, sowie der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen. Jedes Segment unserer Gesellschaft ist theologisch ernstzunehmen und wird entsprechend den Ergebnissen der Bibelinterpretation eigene theologische Parameter entwickeln, die nicht ohne weiteres harmonisierbar sind. Aber es ist unsere Aufgabe, diese Schichtenmodelle aufeinander zu beziehen, keine von ihnen übermächtig werden zu lassen und sie alle so weit wie möglich auf das Ziel: die eine Welt unter dem einen Gott hin zu orientieren. Dabei leisten die geschichtlich erworbenen kulturellen und religiösen Prägungen Hilfestellung. Denn wir sind seit jener biblischen Antike, die sich bald (seit hellenistischen Zeiten: Alexander der Große) mit griechischem Gedankengut verband, gewohnt, z.B. monistisch und nicht dualistisch, eher rationalistisch als mystisch, zunehmend individualistisch statt kollektiv, transzendental mit starken Einschüssen von Immanenz, oft hierarchisch, mit wichtigen Elementen demokratischer Tradition, leider auch viel patriarchaler als die Gleichberechtigung aller suchend, zu denken und Welt zu konstruieren. Die Aufzählung zeigt, dass nicht alle überkommenen Denkmuster gut für uns sind. Wir haben uns aber mit ihnen auseinanderzusetzen. Sie sind in unserem Blut und im kulturellen wie religiösen Gepäck. Wandlungen von Gottesrede im Individualbereich Das Individuum ist seit jenen ersten Entscheidungsbefugnissen hinsichtlich der Religionswahl (Ezechiel!) in der abendländischen Tradition immer mehr zum Zentrum alles Denkens geworden (Renaissance; Aufklärung; Industriezeitalter). Damit wurde die Einzelperson theologisch bedeutsam, weit über die alten Muster des Familienglaubens im Alten Testament und im Alten Orient hinaus. Wir können die Welt nicht mehr von der Familieneinheit, der patriarchalen Wir-Gruppe her konstruieren, wie das bis heute gelegentlich von konservativen Christen versucht wird. Es kommt hinzu, dass die antike Bipolarität der Geschlechter, welche die Welt in zwei sexuell geschiedene Machtsphären einteilte, für unsere Lebensführung keine Bedeutung hat oder - nach den geltenden Rechtsgrundsätzen – keine Bedeutung mehr haben dürfte. Unsere Welt ist im Prinzip unisex und homogen. Das heißt für die theologische Anthropologie heute: Der Einzelmensch besitzt eine unantastbare, weil von Gott gewollte und geschützte Würde. Die Geschlechter sind absolut gleichwertig, jedem Menschen müssen ohne Rücksicht auf Geburtsland, Sozialstatus, Rasse, Geschlecht, Konfession die gleichen Rechte eingeräumt werden. Die Privilegien schließen die oft schon formulierten Menschenrechte ein, aber man müsste heute weiter denken und angesichts der grandiosen Erfolge menschlicher Forschung und Technik und einer gegenüber der Antike unvorstellbar hohen Produktivität grundsätzliche Lebensrechte wie die auf Arbeit, Bildung, Wohnung, Gesundheit usw. hinzunehmen. Die Anerkennung des Individuums als des fundamentalen Bezugspunktes ist theologisch geboten. Aber das bedeutet nicht, dass die Einzelperson in ihrer Autonomie der einzige und letzte Referenzpunkt sein dürfte. Die Welt trägt viele Individuen. Sie sind zur Koexistenz und Kooperation gezwungen, weil de facto keiner völlig ohne andere Menschen und ohne die umgebende Natur existieren kann. Wir sind alle hineinverwoben in größere Zusammenhänge, in denen sich Gottheit auf andere Weise manifestiert, d.h. die anderen Regeln folgen. Der Einzelmensch in einer atomisierten Gesellschaft fühlt sich häufig verraten und verlassen. Er erlebt seine Umgebung, sich selbst, Gott, als feindlich und bedrückend. Christliche Gemeinde sollte den Deprimierten helfend, seelsorgerlich zur Seite stehen. Dann könnte vielleicht ein neues Vertrauen wachsen auch in den unfassbaren Gott. In kindlicher Naivität könnten wir Du sagen zu dem, das uns bedrängt und doch trägt. Ein Psalm drückt das so aus: „Jahwe, ich bin nicht hochmütig, ich blicke nicht überheblich in die Welt. Ich habe keine großen Wünsche, die unerfüllbar wären. Im Gegenteil: ich bin ruhig und ausgeglichen; wie ein gestilltes Kind an der Mutterbrust, so still bin ich!" Ps 131,1f). Die Überleitung zur Kleingruppe ist deutlich. Wandlungen im Primärgruppenbereich Kaum eine gesellschaftliche Formation ist in den zweieinhalb Jahrtausenden seit der alttestamentlichen Periode so starkem Wandel unterworfen worden wie Familie und Sippe. Von einer autarken und umfassenden Lebens-, Arbeits-, Glaubenseinheit degenerierte der Urverband menschlichen Zusammenlebens zu einer begrenzten Reproduktionsstätte und - wenn es hoch kommt - Reparaturwerkstatt für lädierte Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer. Die Funktionsverluste der natürlichen Intimgemeinschaft sind enorm. Man wundert sich, dass die Zahl der Single-Wohneinheiten nicht noch viel stärker steigt als es bereits der Fall ist. Wenn in manchen kirchlichen Verlautbarungen die Familie immer noch als der einzig gültige Normalfall für menschliches Zusammenleben angesehen wird, dann ist das pures Wunschdenken. Eine Vielzahl von anderen Gemeinschaftsformen ist neben die Familie getreten. Außer den schon erwähnten Alleinwohnenden gibt es Alleinerziehende, Wohngemeinschaften verschiedenster Art, homophile Paare, Arbeits-, Techniker-, Künstlerteams und viele Arten von Zweck- und Freizeitgruppen. Menschen leben - wie das in der Antike sporadisch auch der Fall war - temporär oder auf längere Sicht intensiv zusammen und finden in solchen außerfamiliären Vereinigungen zu einem erheblichen Teil die Sinnerfüllung ihres Lebens. 5411 Die antike Verwandtschaftsguppe hat also Konkurrenz bekommen. Die heutigen Kleingemeinschaften sind sehr wichtig geworden, und wir können nicht umhin, für sie und mit ihnen nach dem ethisch richtigen Verhalten zu suchen. Wesentlich ist: Das Du Gottes wird in der intimen Atmosphäre im Mitmenschen anschaulich. Liebe, Geborgenheit, persönliche Akzeptanz lassen sich fast ausschließlich im Kleingruppenbereich erfahren. Also lässt sich auch umgekehrt sagen: Das Göttliche oder das Weltganze steht diesen neuen Gesellschaftsformen nicht uninteressiert gegenüber. Die Intimgruppen haben Verantwortung für Einzelmenschen und für die höherorganisierte Gesellschaft. Sie bilden analog zu den antiken Familien und Sippen eigene Vorstellungen von dem was richtig und erstrebenswert, folglich von Normen aus, die auf einen gesamten Sinnzusammenhang zielen. Darin liegt ihre theologische Bedeutung. Wandlungen im Sekundär-, Tertiärbereich Die zahlenmäßig stärkeren sozialen Gruppierungen von der Dorf- und Stadtteilebene bis zum Volk, Staat, Staatenbund, zur Religions- und Kultgemeinschaft folgen wiederum je eigenen Gesetzen. Sie sind theologisch besonders interessant, weil sich in ihnen (noch) die wichtigsten wirtschaftlichen- und militärischen, wissenschaftlichen und kulturellen Kräfte auswirken. Schließlich hängen alle diese „höheren" Entfaltungen menschlicher Erfindungsgabe und Gestaltungskraft von der gemeinsamen Arbeit vieler Individuen - und besonders heutzutage - von dem entsprechenden Kapitalaufkommen größerer Verbände ab. Kulturleistungen jeder Art kosten gemeinsame Anstrengung und viel Geld, das wussten schon die alten Erzähler, die vom „Turmbau zu Babel" berichteten. Sie schätzen die menschliche Leistung als so hoch ein, dass sich sogar Gott davor fürchten musste (Gen 1 1,1-9). Aus der menschlichen Geschichte dürfte klar sein, dass anwachsende Macht in diesen Vergesellschaftungen zu einem außerordentlich großen Religionsbedarf führt. Macht will sich göttlich legitimieren: Sie braucht gerade darum dringend der Korrektur vom übergeordneten Ganzen her. Neuzeitliche Nationalstaaten mit ihren ausgedehnten Symbolsystemen bieten das beste Beispiel für säkularisierte Religionsformen. Aber auch Wirtschaftsunternehmen versuchen manchmal, sich mit einem Nimbus zu umgeben und Heiligenlegenden aufzubauen, um die eigene Existenz zu sichern. Religionsgemeinschaften arbeiten überwiegend in Großgesellschaften, allerdings fast immer mit lokalen Basisgruppen. Theologie hat die Aufgabe, die entstandenen und sich verändernden Strukturen zu durchleuchten, ihre Gottesvorstellungen kritisch zu sichten, und dem Missbrauch der Machtentfaltungen zu begegnen. Die Großgesellschaften haben nämlich aus der Sicht biblischer Traditionen und nach mancher kritischer Untersuchung besonnener Zeitgenossinnen und Zeitgenossen deutlich untergeordnete Funktionen. Sie sollen den Menschen dienen und sich nicht verabsolutieren. Die Umrisse eines Gottesbildes im Zwischendeck der Großorganisationen könnte mit biblischen Begriffen gezeichnet werden: Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, jenen Orientierungspunkten des“konziliaren Prozesses", der vor einigen Jahren Kirche und Öffentlichkeit auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Neubesinnung aufmerksam gemacht hat. Die Zeiten der ängstlichen Abgrenzungen sind jedenfalls vorbei. Intoleranz und Ausschließlichkeitsansprüche kann dieser Planet nicht mehr ertragen. Die unerkennbare eine Gottheit garantiert das Lebensrecht aller Geschöpfe und drängt alle zur Koexistenz. In der partikularen und alten Sprache eines Psalms: Er wird unser Land durch seine Gegenwart erhellen. Treue und Wahrheit sollen sich treffen, / Gerechtigkeit und Frieden werden sich küssen (Ps 85,10b-11). Theologie muss kontextuell und ökumenisch werden Die pluralistische Globalgesellschaft erfordert einen Neuentwurf von Theologie. Unsere heutige Wirklichkeit ist derartig komplex, dass kein Einzelmensch mehr den vollen Überblick haben kann. Wir werden mehr und mehr abhängig von elektronischen Datensystemen und den zugehörigen 1 541 Die Kirchen legen m.E. der sexuellen Komponente des Zusammenlebens aufgrund von antiquierten Tabu-Vorstellungen eine viel zu große Bedeutung bei. Sexualität ist nur eine der auf soziale Bindungen zielenden Kräfte. Sie sollte nicht isoliert betont, vielmehr bis auf mögliche kriminelle Handlungen einfach der privaten Verantwortung überlassen werden. Vgl. dazu mein Gutachten über Homosexualität im Alten Testament in: Klaus Bartl [Hg.], Schwule, Lesben, ... - Kirche, EKHN-Dokumentation 2, Frankfurt 1996, 124-158 und meinen Kommentar: Das dritte Buch Mose, Leviticus, ATD 6, Göttingen 1993, zu Lev 18 und 20. Expertinnen und Experten. Sie können letzten Endes allein Entscheidungsprozesse für größere Räume vorbereiten. Trotz der immensen Schwierigkeiten werden Theologinnen und Theologen darauf dringen müssen, dass gerade auch im Rahmen der Globalisierung der Lebensverhältnisse auf diesem Planeten auch eine globale Theologie entsteht. Es kann nicht die nach imperialen Mustern konstruierte Missionstheologie der früheren Jahrhunderte sein. Aber indem wir unsere Welt als eine Einheit erfahren, die durch die Menschheit gefährdet ist, drängt sich uns die Gottesfrage auf. Welchen Sinn hat das Stäubchen Erde im Sonnensystem? (Viel weiter sollten wir wohl nicht fragen, denn wir können die Existenz von Millionen von Weltkörpern, die Leben hervorgebracht haben, erahnen). Die begrenzte, an unseren traditionellen Einstellungen angelehnte Antwort könnte lauten: Die Erde mit ihren Lebensformen ist ein Experiment, dessen Durchführbarkeit getestet wird. Wir nehmen an diesem Test teil. Globale Theologie kann aber eines nicht meinen: Ein geschlossenes, in sich stimmiges Lehrsystem! Das kleine Wort GOTT weist uns mit seinem komplexen, auf vielen gesellschaftlichen Ebenen verschieden auszulegenden Inhalt auf das unergründliche Geheimnis der Welt und der menschlichen Existenz hin. Viele Schwierigkeiten, die wir mit den widersprüchlichen Gottesbegriffen haben, ergeben sich daraus, dass wir ständig versuchen, verschiedenste Aussagen über Gott logisch auf einen Nenner zu bringen. Diese Versuche müssen an der Wirklichkeit scheitern. Wenn wir aber in einer zutiefst pluralistischen Welt auf die rechnerische Vereinheitlichung verzichten, wenn wir in Erkenntnis unserer theologischen Beschränktheit staunend die Vielfalt der Welt wahrnehmen, hinter der undefinierbar aber (nach unseren Vorstellungen) real die Einheit Gottes verborgen ist, wenn wir in den Überlebensfragen der Menschheit nach gemeinsamen Antworten suchen und uns zu gemeinsamen Entscheidungen durchringen, dann entsprechen wir am besten der Gottesgegenwart in dieser Welt. Die Gottesfrage ist ein Menschheitsproblem. Sie ist, wie alles religiöse Tun und Trachten, eine Frage des Seins oder Nichtseins. Wenn wir die Zivilisation auf diesem Planeten erhalten wollen, werden wir unser Denken über Gott verändern müssen. Die Möglichkeit aber, in Richtung auf das Unbedingte, das unsere Welt „im innersten zusammenhält" etwas aussagen zu können, mag sich als die (vielleicht einmalige) Chance erweisen, das Weltganze zu erkennen und sich in ihm auf Dauer einzurichten. Dazu müssten wir aber bereit sein, enges Anspruchsdenken nach außen hin zu öffnen. Oder anders gesagt: Theologie muss kontextuell und ökumenisch werden. Ausgangsmotto: Helder Camara Alles ist vom Geheimnis geprägt denn alles kommt aus Deinen Händen oder aus den Händen des Mit-Schöpfers Mensch: Das Papier, worauf ich schreibe, der Kugelschreiber, den ich benütze, der Tisch, woran ich sitze, die Bücher, die mich umgeben, die Kleider, die mich bedecken, die Luft, die ich atme, das Licht, das ich betrachte, der Boden, der mich trägt. Das Herz hüpft vor Freude. Lichtvoller Eindruck allumfassender Ganzheit.