DIE SPITZE FEDER DES JOHANN MATTHESON - Hamburger Musiker und Musikschriftsteller Ein Vortrag vor der Deutschen Clavichord Societät bei den Clavichordtagen in Hamburg am 12.4.2008 im Hause von Dr. Andreas Beurmann gehalten von Diez Eichler Es gilt das gesprochene Wort DIE SPITZE FEDER DES JOHANN MATTHESON Wer sich historisch-kritisch mit dem Werk und der Person Johann Matthesons auseinandersetzt, wird sich unweigerlich vor der Frage sehen, ob man diesen Hamburger Diplomaten, Opernsänger, Komponisten, Cembalisten und Capellmeister, Musiktheoretiker und Übersetzer als eine Art Universalgenie, oder aber für einen Wichtigtuer halten will. In jedem Fall zwingt Mattheson seine Subjektivität, mit der er sich als Kritiker und Analytiker stets zeigt, jedem Leser quasi auf. Angesichts seiner Polemik ist Neutralität anscheinend schwierig oder sogar ausgeschlossen. So geht es natürlich dem Vortragenden auch, was vielleicht ein Grund dafür ist, daß eben dieser gebeten wurde, hier zu sprechen. Dieser Vortrag versucht nicht, die wissenschaftlich kritischen Würdigungen um eine weitere zu ergänzen. Absicht ist vielmehr, einen kleinen Einblick in Leben und Werk Matthesons zu geben und Interesse zu wecken. Dabei soll Mattheson möglichst viel selbst zu Wort kommen, denn im Wort liegt seine besondere Stärke. Johann Mattheson wurde am 28.9.1681 als Sohn des AcciseEinnehmers Johann Mattheson und dessen Frau Margareta Höling geboren. Eine Autobiographie Matthesons findet sich in der „Ehrenpforte“ – diese hat ein wenig Ähnlichkeit mit den damals üblichen Nekrologen, den gedruckten Nachrufen auf den Tod bedeutender Persönlichkeiten, die dort gern so positiv überhöht dargestellt wurden, daß der Spruch „jemand lüge wie gedruckt“ vermutlich daher stammt. Jedenfalls erzählt er dort, daß er als Kind zunächst von Hauslehrern, später in der Johannisschule unterrichtet wurde, und zwar in den Fächern Latein, Griechisch, Dichtkunst (lat.), Tanzen, Reißen, Rechnen, Gambe, Violine, Flöte und Oboe, Fechten, Reiten. Er hatte Unterricht in Klavier und Setzkunst bei Joh. Nicolaus Hanff. Er schreibt, er habe keine höhere 2 © Diez Eichler, 2008 Schule besucht, im Alter von 9 Jahren aber zwei Collegia in Jura belegt. Ihn habe aber die Musik mehr interessiert, und im gleichen Jahr habe der Hamburger Opernstifter Gerhard Schott ihn als Sänger an die Oper geholt (mit 9 Jahren!). Mit 12 Jahren holte ihn der Graf von Güldenlöw als Edelknabe in sein Haus – „Die weisse Feder auf dem Hute, die sammittene verbrämte Kleidung, der silberne Hirschfänger u.d.g. machten dem Burschen das Hertze groß, Weil aber dem Vater das Hofeleben, zumahl in Kopenhagen, wiederrathen wurde, hub er den schrifftlich-verfasseten Contract wieder auf, und Johann weinete bitterlich, wie er seinen geliebten Staat ablegen muste. Das sind Fatalitäten!“ Grundlage einer Ehrenpforte S. 190 Mit 16 Jahren bekam Mattheson seinen Stimmbruch, vorher hatte er vor allem Frauenrollen gesungen. Mit 18 Jahren führte er dann seine erste selbst komponierte Oper, „Plejades“ auf. Mit 20 bestand er sein erstes Degenduell, was er selbst erwähnenswert findet, weil es zwei Jahre später zu jenem berühmten Duell mit Georg Friedrich Händel kam, welches beinahe zu dessen Ende geführt hätte (womit Matthesons Einfluß auf die Musikgeschichte noch größer ausgefallen wäre) „…, wenn es GOttes Führung nicht so gnädig gefüget, daß mir die Klinge, im Stossen auf einen breiten, metallenen Rockknopf des Gegners, zersprungen wäre.“ Grundlage einer Ehrenpforte S. 95 Hinterher habe man sich recht schnell wieder vertragen, worauf sie sogar „bessere Freunde wurden, als vorhin.“ Recht bekannt ist die Geschichte der gemeinsamen Reise mit Händel nach Lübeck anläßlich der Nachfolge Dieterich Buxtehudes, welche ein Jahr zuvor stattfand. „Weil aber eine Heyraths-Bedingung bey der Sache vorgeschlagen wurde, wozu keiner von uns beiden die geringste Lust bezeigte, schieden wir … von dannen.“ Grundlage einer Ehrenpforte, S. 94 Das Jahr 1704 brachte eine wichtige Begegnung, Mattheson wurde als Musiklehrer für den Sohn des englischen Gesandten von Wich bestellt 3 © Diez Eichler, 2008 – nur zwei Jahre später wird er Sekretär des Gesandten, was eine wichtige diplomatische Stellung (und entsprechende Belohnung) bedeutet. Er hatte dazu eigens Englische Sprache, Geschichte, Rechte und Staatskunde gelernt. 1705 macht sich eine erste „Verstopffung des Gehörs“ bemerkbar – ob Matthesons etwa zeitgleicher Abschied von der Hamburger Oper damit zusammenhängt, läßt sich aus seinen Angaben nicht ablesen. Mattheson hatte mindestens sechs Opern für dieses Haus komponiert, er verlegte sich nun mehr auf die Kirchenmusik, für die er ab 1718 am lutherischen Dom als Director musices und Canonicus auch verantwortlich war. Er schrieb zahlreiche Oratorien, darunter die heute noch bekannte BrockesPassion, das „Lied des Lamms“, ein Weihnachtsoratorium und viele andere, darunter auch so denkwürdige Titel wie des Passions-Oratoriums „Der blutrünstige Keltertreter“ von 1721. Als sein Dienstherr von Wich 1709 zum Gesandten auch für die Hansestädte des niedersächischen Kreises und die Herzoge von Holstein und Mecklenburg ernannt wird, erhöht sich Matthesons Einkommen und er heiratet die englische Pfarrerstochter Catharina Jennings. Über diese Ehe schreibt er selbst: „Kinder hat sie nicht gebracht; aber tausend Vergnügen: welches offt bey Kindern fehlet.“ (Ehrenpforte S. 197) Diese Bemerkung findet sogar Eingang in Walthers Musicalisches Lexikon, wo es recht ungewöhnlich heißt: „mit welcher er auch nunmehro über 20 Jahr in der vergnügtesten Ehe, obgleich ohne Kinder lebet“ (S. 390). Warum Walther sich einen so privaten Übergriff erlaubt, ist nicht klar. Erstaunlicherweise erscheint das Lexikon acht Jahre vor der Ehrenpforte, woher also die Formulierung stammen mag, ist auch ungewiß. 1713 stecken die Schweden Altona in Brand und der russische Zar Peter kommt zu Besuch nach Hamburg. Er steigt beim britischen Gesandten ab, was für Mattheson viel Arbeit bedeutet, was ihn aber nicht daran hindert, das „Neueröffnete Orchestre“ zu schreiben. Dieses Werk ist eine polemische Auseinandersetzung mit dem Zustand der allgemeinen Musiklehre seiner Zeit und entzündet sich in erster Linie 4 © Diez Eichler, 2008 daran, daß für die Musiklehre noch immer Techniken und Termini gebraucht wurden, die aus der Antike und dem Mittelalter stammten, und die längst nicht mehr ausreichten, um die „moderne“ Musik zu begründen. Allem voran wendet Mattheson sich gegen die Solmisationslehre (Stichworte Modi, Hexachordlehre, Guidonische Hand etc.), da ja das Dur/Moll-System doch längst etabliert ist. Er entwickelt an dieser Stelle jenes „Verzeichnis“ der Tonartencharakteristik, welches heute gern mit seinem Namen verbunden wird, auch wenn es kaum jemand wirklich studiert hat. Es ist das Kapitel „Von der Musicalischen Tohne Eigenschafft und Würckung in Ausdrückung der Affecten“ (S. 231). Was oft übersehen wird, ist, daß Mattheson hier nicht im Sinn hat, eine verbindliche Affektenlehre zu etablieren, sondern ausdrücklich subjektiv seine Meinung von der Wirkung der Tonarten beschreibt: „Gleichwie nun die Alten / also sind auch die heutigen Musici wol schwerlich einerley Meinung in dem was die Eigenschafft der Tohne betrifft / und kan auch nicht leichtlich eine Gleichförmigkeit in allen Stücken hierüber praetendiret werden / massen es wol dabey bleibet: Quod capita, tot sensus“ Das Neu=eröffnete Orchestre P.III Cap.II §6 S. 235 Wenn uns heute die Diskussion um Modi und Tonarten, um Tonleitern oder Hexachorde überhaupt nicht mehr betrifft und deshalb unbedeutend vorkommt, so dürfen wir zwei Dinge nicht vergessen: Erstens war zu Matthesons Zeit der theoretische Unterricht noch völlig dem „alten System“ verpflichtet, zweitens hat Mattheson mit seinen Schriften sicher erheblich dazu beigetragen, daß sich dieses seinerzeit änderte – wir bauen also auf den auch von ihm gelegten Fundamenten! Die Diskussion, ob die Quarte eine Konsonanz oder eine Dissonanz ist, zeigt das Aufeinanderprallen alter und neuer Denkweise. Mathematisch ist sie eine Konsonanz, vom Gehör aber wird sie (z.B. als Quartvorhalt vor der Terz) als dissonant gedeutet. Mattheson plädiert energisch dafür, in der Musik den sensus über die ratio zu stellen, was sehr dem modernen philosophischen Denken seiner Zeit entspricht. 5 © Diez Eichler, 2008 Neben diesen Diskussionen liefert Mattheson im Neueröffneten Orchestre einige Bemerkungen zur Musik, zu den Instrumenten, den Stilen. Hier ein wenig wahllos ein paar weitere Zitate: „Es ist mir selber wiederfahren / daß gewisse Leute meine schlechte Arbeit hochgehalten und sehr gerühmet / so lange sie gegläubet / es sey dieselbe von Bononcini, Ziani, oder einem anderen grossen Meister / so bald sie aber hinter die Warheit gekommen / ist niemand mehr zu Hause gewesen.“ Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; Einleitung S.22 „Wer von der heutigen Italiänischen / Frantzösischen / Englischen und Teutschen Music ein generales, von allen Praejudiciis gesaubertes / und gesundes Urtheil fällen will / der muß die Composition und Execution solcher National=Music (wenn ich also reden darff) nicht miteinander confundiren / sondern nothwendig und sehr genau distinguiren; denn sonst wird er ein wol executiertes Stück / wenn gleich die Composition mittelmäßig ist / biß an den Himmel erheben / und hingegen eine vortreffliche Composition, wenn dieselbe das Unglück hat / schlecht executiret zu werden / gäntzlich verachten.“ Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; P.III.Cap.I.§1 „Die Italiäner executiren am Besten; die Frantzosen divertiren am Besten; die Teutschen aber componiren und arbeiten am Besten; und die Engelländer judiciren am Besten.“ Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; P.III.Cap.I.§12 „Erfordert nun aber ein Orgel-Werck zu tractiren eine eigene Methode … / so erfordert gleichwol auch im Gegentheyl ein Clavicymbel zu spielen / eine gantz absonderliche Mannier / und hat man wol noch nie einen perfecten Clavicymbalisten und dabey habilen Musicum so sehr auff der 6 © Diez Eichler, 2008 Orgel stümpern gehöret / als wol manchen ehrbaren / andächtigen und scheelsüchtigen Organisten auff dem Claviere.“ Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; P.III.Cap.III§3 „Die vollstimmigen Clavire, Ital. Clavicembali, Cembali : Gall. Clavessins, Clavecins, bleiben dennoch Meister über alle andere Instrumente, und verstehet man dadurch allerhand Arten derselben / als nemlich / die so genandten Flügel oder Steert-Stücke / die Spinette, unterschiedlicher Facon und Grösse / die Regalen / die Positive und endlich die vor andere beliebten Clavicordia, kleine und grosse / unter welchen allen die Flügel und Clavicordia den Preiß behalten. Zweene Brüder / Brabänder von Geburth / mit Namen Rücker / haben in deren Verfertigung / insonderheit der viereckten Clavicymbel, auch Flügel / viel Glück und Reputation gehabt. Der von Brocken Arbeit ist durchgehends gut. Middelburg reussirt in Clavicordiis vor allem / wiewol die Fleischer es ihm ziemlich gleich thun / deren einer die kostbarste und sauberste Arbeit von der Welt machet / der andere seinen Wercken einen besonders starcken und hellen Resonantz zu geben weiß.“ Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; P.III.Cap.III§4 „Hand- und Galanterie-Sachen / als da sind / Ouverturen, Sonaten, Toccaten, Suiten, &c. werden am besten und reinlichsten auff einem guten Clavicordio herausgebracht / als woselbst man die Sing-Art viel deutlicher / mit Aushalten und adouciren / ausdrücken kan / denn auff den allezeit gleich starck nach-klingenden Flügeln und Epinetten. Will einer eine delicate Faust und reine Manier hören / der führe seinen Candidaten zu einem saubern Clavicordio ; denn auff grossen / mit 3 à 4 Zügen oder Registern versehenen Clavicymbeln, werden dem Gehör viele Brouillerien echappiren, und schwerlich wird man die Manieren mit distinction vernehmen können. Positive, oder kleine Orgel-Wercke in Häusern / sind vor Liebhaber / die gerne einen Choral hören und mitsingen / sonst aber bey Concerten nicht brauchbar.“ 7 © Diez Eichler, 2008 Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; P.III.Cap.III.§4 „Rein gestimmet / halb gespielet / ist eine gute alte Regul.“ Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; P.III.Cap.III.§18 Über die Laute: „Der insinuante Klang dieses betriegerischen Instrumentes verspricht allezeit mehr als er hält / und ehe man recht weiß / wo das Fort und Foible einer Laute sitzet / so meinet man / es könne nichts charmanters in der Welt gehöret werden / wie ich denn selbst durch die Sirenen=Art hintergangen worden bin: kommt man aber ein wenig hinter die barmherzigen Künste / so fällt alle Gutheit auff einmahl weg; für das beste Lauten=Stück wird doppelt bezahlet / wenn man nur das dazu gehörige ewige Stimmen anhören soll. Denn wenn ein Lauteniste 80. Jahr alt wird / so hat er gewiß 60. Jahr gestimmet.“ Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; P.III.Cap.III.§14 So wollen wir „…die platten Guitarren mit ihrem Strump Strump den Spaniern gerne beym Knoblauch=Schmauß überlassen.“ Das neu=eröffnete Orchestre, 1713; P.III.Cap.III.§17 Genug davon. Es soll nicht der Eindruck entstehen, das Neueröffnete Orchestre sei nur unterhaltsam gemeint. Dieser Eindruck entstand jedenfalls nicht bei den Zeitgenossen, die sich zum Teil geradezu empört gegen Matthesons Geringschätzung der „Alten Meister“ der Musiklehre wendeten. Besonders Johann Buttstedt, Organist in Erfurt tat sich hervor und veröffentlichte drei Jahre später eine Gegenschrift unter dem Titel: „Ut,re, mi, fa, sol, la, tota musica et harmonia aeterna, oder Neu=eröffnetes, altes, wahres, eintziges und ewiges Fundamentum Musices, entgegen gesetzt dem Neu=eröffneten Orchestre… in welchem und zwar im 1. Theil 8 © Diez Eichler, 2008 des Herrn Authoris des Orchestre irrige Meynungen … widerleget, im andern Theil aber das rechte Fundamentum Musices gezeiget“. Es war ja Matthesons Wunsch gewesen, mit seiner Veröffentlichung eine Diskussion loszutreten, die in Korrespondenzen und Veröffentlichungen geführt würde. Daß der Gegenangriff aber so persönlich und geradezu beleidigend erfolgen würde, war wahrscheinlich nicht intendiert. Es überrascht aber gar nicht, daß Matthesons Antwort wieder in Form eines Buches erfolgte, und zwar „Das beschützte Orchestre“. Und nun wird sowohl die Polemik schneidender, als auch der Inhalt sehr viel schärfer und übrigens auch erheblich umfangreicher – das neueröffnete Orchestre umfaßte 338 Seiten, der zweite Band immerhin 561! Schon im Titel zückt Mattheson seine Feder so, wie sonst gelegentlich seinen Degen und schreibt: „Ut Re Mi Fa Sol La – Todte (nicht tota) Musica Unter ansehnlicher Begleitung der zwölf Griechischen Modorum, als ehrbahrer Verwandten und Trauerleute / zu Grabe gebracht und mit einem Monument, zum ewigen Andencken / beehret wird von Mattheson.“ Mattheson muß sich arg beleidigt gefühlt haben durch Buttstedts belehrenden Tonfall. Wortreich ereifert er sich gegen den Angriff: „Man möchte bedencken / daß eine Hand die andere wasche / und wie einer ins Holtz rufe / also ihm gemeiniglich wieder geantwortet werde. Es wäre denn wohl besser / ehe man so mit Dummheit / Unwissenheit / Einfalt und andern Anzüglichkeiten zuplumpte / dem Horatio ein wenig Gehör zu geben / und seiner klugen Vorstellung Libro Primo Epistula 18 nachzulesen / wo es heisset: Consentire tuis studiis qui crediderit te Fautor utroque tuum laudabit pollice ludum. * Nicht zwar / als wolte man nach Art schäbichter Freunde verfahren / die da sprechen: Kratze mich / ich kratze dich wieder. Das ist sehr niederträchtig; Nein / sondern damit man in seinen gutgemeynten * Epistulae 1,18,66: Glaubt nur einer, daß du in seine Geschäftigkeit einstimmst, Willig mit Hand und Mund dein Spiel auch lobet und preist er 9 © Diez Eichler, 2008 Conatibus ferner angespornet werde / und dabey von seinem Nechsten alles gute mit Wahrheits-Grunde sagen und rühmen / die Fehler aber best-müglichst bedecken und entschuldigen möge.“ Das beschützte Orchestre, Vorspiel §12f. Die Verwendung des unübersetzten Horaz-Zitats ist typisch für diese Schrift Matthesons, der nun in ausgiebigem Gebrauch der lateinischen Sprache und der Verwendung klassischer Zitate auf sein eigenes hohes Bildungsniveau hinweist. Hierher gehört auch, daß er seinem Widersacher Buttstedt, den er als „den Widerleger“, den „Antagonisten“, den „Herrn Verfolger“, „Herrn Arglist“, meist aber einfach den „Herrn Organist“ tituliert, mit spürbarer Genugtuung nachweist, daß er falsch aus historischen Quellen zitiert, oder z.B. eine unzulängliche Übersetzung zitiert, die vom Original abweicht, was Mattheson natürlich weiß (hier nimmt er die deutsche Teilübersetzung von Athanasius Kirchers Musurgia Universalis auseinander, S.119). Inhaltlich bringt der zweite Orchestre-Band nicht viel Neues. Mattheson polemisiert gegen die reine Schriftgläubigkeit gegenüber den antiken Traktaten. Nach der Verteidigung seiner Positionen greift er einzelne Stellen aus Buttstedts Buch auf und an. Dessen Versuch, die Musiklehre der Antike mit Bibelzitaten als ewig gültig zu rechtfertigen, kommentiert Mattheson zum Beispiel so: Es seien „Ja wohl recht überflüßige und recht kindische Gedancken! Wer scheert sich was drum / ob Adam und Eva eins mit einander gehümmert haben / wobey Cain zuweilen die Leyer gedrehet? Wunder ist es / daß sie nicht solmisieren gelernet. Es sind ja Lappereyen / dafür sich ein Mann / der seine Kinder-Schue bereits vertreten hat / billig schämen solte…“ Das beschützte Orchestre P.II.Cap.I.Lectio II §11 (S. 305) Kann man beim ersten Teil des Orchestres von einer polemischen Aussage sprechen, so ist der zweite Teil deren aggressive Verteidigung. Der schließlich noch folgende dritte Teil, „Das forschende Orchestre“ bringt dann eine ausführliche Rechtfertigung der Grundannahmen (so 10 © Diez Eichler, 2008 schreibt Dietrich Bartel im Vorwort zur Neuausgabe der OrchestreSchriften im Laaber-Verlag, S. XXV). Das forschende Orchestre ist noch umfangreicher als seine Vorgänger (789 Seiten, wir erinnern uns: 1.Band 338 Seiten, 2.Band 561 Seiten) und, sicher durch die Unterstützung durch prominente Musiker, darunter übrigens auch Telemann, in seinem Tonfall viel weniger angriffslustig. Vielleicht macht sich auch zunehmendes Alter bemerkbar, Mattheson ist nun 40 Jahre alt, und hat „auf dem Kamp“ ein eigenes Haus gebaut, und ist während der Hamburger Pestepidemie des Jahres 1714 als Stellvertreter (subdelegatus) des Herrn von Wich in Erscheinung getreten. Wir lesen im Vorwort an den Leser: „Man kann unmüglich so Engelrein seyn / daß einem / bey Untersuchung streitiger Dinge / nicht hie und da ein Wörtgen entfahren solte / welches nicht / wenn es auf eine GoldWage geleget würde / ein wenig zu leicht oder zu schwer seyn möchte. So bin ich auch keineswegs in Abrede / daß mein Stylus hin und wieder etwas hardi scheine; aber eben darum bitte hiemit den Leser / wenn ihm die geringste Billigkeit beywohnet / meinem temperamento, meiner ernstlichheilsamen intention, und meiner aufrichtigen Meinung solche zu gute zu halten / anbey festiglich zu glauben / es lasse sich aufs äuserste angelegen seyn / der Music und Ihm zu dienen Der Autor.“ Das forschende Orchestre, Ad Lectorem XL. Es folgt eine philosophische Schrift über das Verhältnis von Sinneswahrnehmung zur Vernunft. Das Denken kann laut Mattheson ohne vorangegangene Sinneserfahrung nicht stattfinden. „Denn / die da vermeynen / das Gesicht stecke in den Augen / das Gehör in den Ohren / etc. kommen mir für wie jener / der in den Gedancken stunde / die liebliche Melodie befinde sich im Bauche der Laute; oder wie einer der etwan die Mahler-Kunst im Pinsel suchen wolte. Wahr ist es / die Werckzeuge sind von solcher Art / daß man ohne sie weder spielen noch mahlen kan / wie sichs gebühret; allein / wenn auch keine Laute / kein Pinsel / oder keine Kreide mehr in der Welt wären / würde ich doch / meines Theils / niemahlen an Weisens und Denners virtù zweifeln. Ein 11 © Diez Eichler, 2008 anders ist Klingen / welches dem Leibe beygeleget wird; ein anderes Hören / welches der Seelen in dem Leibe zukömmt.“ Das forschende Orchestre, 1.Cap.§73. S. 92 Gegen die philosophische Theorie des Rationalismus folgt Mattheson den Theorien des Empirismus John Lockes (1632 – 1704): „Hat uns GOtt nicht mit sinnlichen Werckzeugen / mit Fleisch und Blut erschaffen / welches materiel? Hat er unsere animam rationalem nicht auch mit vernünfftigen / Geist-vollen Sinnen versehen / welches spirituel? Hätte der weise Schöpfer gewolt / daß wir der Sinnen und ihrer organorum müßig gehen solten / er hätte uns an deren statt / durch andere Wege / wohl zehnmal so viel Verstand davor beylegen können. Es wäre ihm nichts gewesen. Nun ers aber so gemacht hat / daß wir ohne der Sinnen-Beywohnung / Anleitung und Anweisung / nicht vor drey Heller Verstand haben können / wer will ihn meistern? Es ist ja keine Ursache vorhanden zu glauben / daß die Seele dencke / ehe und bevor die Sinne ihr Bilder verschafft haben / darauf sie dencken könne (No reason to beleive, that the soul thinks, before the Senses haue furnish’d it with Ideas to think on, Lock)“ Das forschende Orchestre, 1.Cap.§111 S. 126f) So spricht Mattheson auch über den „End-Zweck“ der Musik, ein Begriff der so auch in der Generalbaßschule des Friedrich Ehrhardt Niedt 1710 vorkam in einem Satz, den Johann Sebastian Bach daraus zitierte (von dem deshalb viele glauben, er sei von Bach selbst…). Bei Niedt hieß es: „Endlich soll auch der Finis oder End=Ursache aller Music / und also auch des General-Basses seyn / nichts als nur GOttes Ehre und Recreation des Gemüths / wo dieses nicht in acht genommen wird / da ist auch keine recht eigentliche Music / und diejenigen / welche diese edle und göttliche Kunst missbrauchen / zum Zunder der Wollust und fleischlicher Begierden / die sind Teuffels=Musicanten / denn der Satan hat seine Lust solch schändlich Ding zu hören / ihm ist solche Music aber gut gnug / aber in den Ohren GOttes ist es ein schändliches Geplärr.“ 12 © Diez Eichler, 2008 Friedrich Ehrhard Niedt: Musicalische Handleitung; Erster Theil 1710; Cap.II Der zweite und dritte Teil der Schule wurde übrigens von Mattheson herausgegeben. Bei Bach liest man 1738 dieses: „…und soll, wie aller Musik, also auch des Generalbasses Finis und Endursache anders nicht als nur zu Gottes Ehre und Rekreation des Gemüts sein. Wo dieses nicht in acht genommen wird, da ist`s keine eigentliche Musik, sondern nur ein teuflisches Geplärr und Geleier.“ Johann Sebastian Bach: Gründlicher Unterricht des Generalbasses, 2.Absatz Mattheson aber schreibt 1721: „Ich will / mit Erlaubniß / noch ein ander Exempel beybringen / um desto klärer darzuthun / daß das Gehör / nicht aber numerus, des Musici Zweck sey. Ein Goldschmied macht mir ein Geschirr / und ich zahle ihm Geld dafür; das sind ja zwey differente Dinge. Wenn einer nun sagen wolte: Des Goldschmidts Absicht wäre nicht so wohl die Verfertigung des Geschirrs / als mein Geld; so müste diese Absicht falsch seyn / bevorab / da solche auch bey dem Gelde nicht einmahl aufhöret / sondern wieder andere so genannte fines nach sich ziehet / als da sind: Häuser zu bauen / Kleider zu kauffen / etc. welche schier unzehlbar. Wer auch alles beyeinander zu fassen vermeinete / und vorgeben würde: Des Goldschmids Absehen mit aller seiner Arbeit sey: glücklich zu leben; dem könte man abermahl hinzusetzen: wohl zu sterben, wohl begraben zu werden; die Seinigen zu versorgen; & sic in infinitum. Aufs letzte dörffte es gar dahin auslauffen: Der Goldschmid habe seine Arbeit GOtt zu Ehren verfertiget / weil er etwann von seinem Gewinn den Armen Gutes gethan / und was dergleichen abgeschmackte Folgereyen mehr seyn mögen / die aus solchen weit=gehohlten Grund=Sätzen / und gar zu ferne gesteckten Absichten hervor kriechen / und lauter Verwirrung anrichten müssen. Dannenhero man billig dabey bleibet / wie des Goldschmidts erstes / nähestes und vornehmstes Ziel ist / die Verfertigung seiner Arbeit; so / 13 © Diez Eichler, 2008 daß sie dem Käuffer gefalle: und was dann weiter folget / die Würckung dieser Haupt=Absicht genennet werden könne. So auch / daß des Musici erste / wahre und vornehmste Absicht der hörende Sinn und dessen ehrliche Ergötzung / (Sensus Auditus, ejusdemque honesta voluptas) und was denn im Verstande und in der Seelen weiter daraus erfolget / eine Wirckung dieses vornehmsten Zwecks sey.“ Das forschende Orchestre, Erster Theil, Cap.II.§46 S.174f Soviel zu den drei Orchestre-Schriften. Sie sind neben ihrem unterhaltsamen Bild des Menschen Mattheson ein wichtiges Dokument der Aufklärung in der Musik des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Zwischen dem beschützten und dem forschenden Orchestre veröffentlichte Mattheson 1719 die Organisten-Probe, die er später stark erweiterte und als Große Generalbaßschule herausgab (1731). Dieses Werk ist von besonderem Interesse, weil es neben den sehr interessanten Vorstellungsbedingungen für das Organistenamt am Hamburger Dom viele praktische und stilistisch höchst wertvolle Hinweise zum fortgeschrittenen Generalbaßspiel enthält. Deren genauere Betrachtung sprengt leider den Rahmen dieses Vortrags, sie seien aber allen Generalbaßspielern ausdrücklich zur Auseinandersetzung empfohlen! Da die große Generalbaßschule ausdrücklich für fortgeschrittene Generalbaßspieler gemeint ist, wurde Mattheson gebeten, doch auch eine Schule für die Anfänger zu schreiben, die er 1731 begann, und 1735 im Druck herausgab. Die „Kleine Generalbaßschule“ ist ebenfalls ein sehr wichtiges Dokument zur Unterrichtspraxis jener Zeit. Sie ist eine pädagogisch so gut gemachte Einführung in die allerersten Grundlagen der Musiklehre, daß man sie heute noch benutzen könnte. Leider erlaubt dieser Vortrag auch keine genauere Betrachtung dieser Dinge, es seien stellvertretend ein paar Zitate herausgegriffen, die vielleicht Neugier auf Weiteres wecken: „Von der Lehr-Art überhaupt. Ein Mensch, der sich einmahl das Clavier zu seinem Haupt-Werck erkohren 14 © Diez Eichler, 2008 hat, bringe es durch Fleiß so weit, daß er wenigstens die Kupffer gestochene Hand-Sachen von Kuhnau, Händel, Graupner, Telemann, Bach; oder, wenn ich mich mitrechnen darff, auch die meinige, nebst anderen Wercken solcher Art, in die Faust, recht in die Faust bekömmt: es geschehe nun solches in einem Jahr, oder in einem halben Jahr; je eher, je lieber.“ Kleine Generalbaßschule, Zweite Anzeige, §.1. S. 43 „Ich bleibe einmahl und allemahl bei dem Wahlspruch: Wer nicht singen kann, der kann auch nicht spielen. Es muß gesungen seyn, und sollte es auch nur in Gedancken geschehen.“ „Wer nun meinem treuen Rath folgen will, der wehle sich einen Lehrmeister, der entweder bey dem Claviere manierlich singet, (ob er gleich keine schöne Stimme habe), oder auch, nebst dem Clavier noch ein ander gebräuchliches Instrument, als z.E. eine Queer-Flöte, Viola di Gamba, oder Violine wol spielet.“ Kleine Generalbaßschule, Zweite Anzeige, §.12./§.13. S. 46 Es folgen ein paar Gedanken zu den Qualitäten eines guten Lehrers: “Vom Lehr-Meister §.2. Es gehören sehr viele gute Eigenschaften zu einem Lehrlinge; aber zehnmal mehr zu einem Lehrer. Die Wahl ungeschickter Meister verdirbt die besten Schüler. Mancher meynet es wol gut; kann jedoch nicht mehr geben, als er selber besitzet. Die meisten gehen bey ihren Schülern in die Schule, und machen es wie die jungen unerfahrnen Aerzte, die, zum Versuch, ein Paar Hundert Krancke in die Grube schicken, und sich dabey üben: auch noch dazu tüchtig bezahlen lassen. §.3. Ein anders ist, selber wol spielen; ein anders aber, gute Spieler machen. Ich kenne einige Meister, die sich im Spielen keine Katzen düncken lassen, und denen man endlich auch ein Viertel-Stündgen, ohne Gähnen zuhören kann; allein, wenn sie jemand unterweisen sollen, so 15 © Diez Eichler, 2008 wissen sie nicht, ob die Sache von hinten oder von vorne anzufangen sey. Sie dencken, es sey genug, wenn sie nur ein Paar Zeilen mit Noten aufschreiben, und dabey, ohne Ordnung, so obenhin melden, wie sie ungefehr gegriffen werden müssen; spielens einmahl in aller Eil vor; schlagen ein Bein über das andre; nehmen Schnup-Toback; sehen auf die Uhr, oder zum Fenster hinaus; schütteln den Kopf; stampfen mit den Füssen, und gehen davon. Diese Art wird nicht anders.“ Kleine Generalbaßschule, Unterste Klasse Dritte Anzeige, S. 49 „§. 16. Hiernächst ist auch darauf zu sehen, daß man zum Lehr-Meister einen bescheidenen, sittsamen Menschen wehle, der keine öffentliche große Laster an sich habe; kein aufgeblasener Fantast; kein Liebhaber falscher Griffe bey jungem Frauenzimmer; kein schmutziger Sau-Nickel; kein Trunckenbold, oder Bruder-liederlich sey: denn, wenn er auch sonst alle Künste besäße, und hätte diese oder andre Unarten an sich, so würde der Untergebene an guten Sitten weit mehr dabey verlieren, als im Spielen gewinnen.“ Kleine Generalbaßschule, Unterste Klasse Dritte Anzeige, S. 54 Mattheson fordert Regelmäßigkeit im Unterricht, das Nachholen ausgefallener Stunden hält er für keinen Ersatz, denn „in einer versäumten Stunde ist mehr zu vergessen, als in zehn nachgeholten zu lernen“ (Unterste Klasse Dritte Anzeige, § 17, S. 54). Auch solle man nicht zu streng auf die Uhr sehen bei der Einhaltung der Unterrichtszeit, denn manchmal sei man gerade „in solch guter Laune, daß an einem glücklichen Fortgange kein Zweifel ist“, und andererseits sei es auch unnötig, nur deshalb „einen neuen Vortrag auf die Bahn zu bringen, und die Begriffe zu vermischen“, weil „die Uhr noch nicht 60 Minuten weiset“ (ebenda, § 18, S.55). Ferner solle der Lehrmeister nicht ungeduldig sein: „Wer keine Gelassenheit und Mäßigung seiner Gemüths-Bewegung besitzet, der gebe sich ja mit der Unterweisung andrer nicht ab.“ (ebenda, §.19. S. 55) 16 © Diez Eichler, 2008 Ein hübscher Einblick in den Unterrichtsalltag wird hier gewährt: „Das ist ein alberner Meister, (wird manches fromme Mutter-Hertz hiebey gedencken) er kömmt nun schon zum dritten mahl, und hat unserm Hänsgen oder Gretgen noch kein Menuet, ja noch keine eintzige rechtschaffende Note vorgeschrieben. Die Leute meynen, wenn ein Lehrer nur seinem Untergebenen fein viele Stücklein ins Buch mahlet, damit selbiges bald voll werde, so sey alles gar herrlich bestellet. Es hat sich wol!“ Kleine Generalbaßschule, Unterster Klasse 3te Aufgabe, §.2. S.75 Eine schöne Idee, wie man dem Schüler die Notenwerte erklären kann, findet sich auch: Man könne diese „allenfalls nicht besser, als durch die Zerschneidung eines Apfels, oder Stücks Papier, vorbilden, und denen, die es schwer finden, ein sichtliches, besonders Exempel davon geben. Denn ist denn das gantze Stück Papier (es sey nun so groß, wie es wolle; doch nicht kleiner, denn ein Quart-Blat) ein Bild des gantzen Schlages in der Zeitmaasse. Schneidet man das Papier in zwey gleiche Theile von einander, so stellen solche im Tact zween halbe Schläge vor, die im singen oder spielen so viel weniger Zeit erfordern, als die Papiere kleiner geworden sind. Hernach schneidet man diese in Viertel u.s.w….“ Kleine Generalbaßschule, Unterster Klasse 5. Aufgabe, §21. S.91f. Als letztes Beispiel noch eine gewagte Erklärung von „Dur“ und „Moll“: „Die Bedeutung des weichen und harten, des mol und dur, kann man nicht besser zeigen, als mit einer blossen Saite, die erst ins c, hernach ins cis gestimmet, oder stärcker angespannet wird; denn im ersten Fall ist die Saite schlaf oder weich; im andern aber etwas steiffer und härter, welches 17 © Diez Eichler, 2008 nicht nur die Vernunfft lehret; sondern auch mit den Sinnen begriffen, ja mit den Fingern gefühlet werden kann.“ Kleine Generalbaßschule, Unterster Klasse 7. Aufgabe, §11. S.107 Im Übrigen folgt dann eine umfangreiche Einführung in die Kunst des Spielens nach Bezifferung. Leider sind die Beispiele für Generalbaßaussetzungen in einer aus drucktechnischen Gründen nicht gut lesbaren Tabulatur abgedruckt, ich habe aber eine Transkription in Noten gemacht, die ich möglicherweise veröffentlichen werde. An dieser Stelle sei erwähnt, daß Mattheson neben seinen musikalischen Schriften eine Vielzahl englischer Texte in Übersetzung veröffentlichte. Dies waren sowohl politisch-diplomatische Fachschriften wie z.B. eine „Vertheidigung des wieder die schwedischen Gesandten in England angestellten Verfahrens“ (1717) oder „Betrachtungen über den gegenwärtigen Zustand der Europäischen Staatsgeschäfte“ (1731), es waren aber auch Aufsätze wie „Die Eigenschafften und Tugenden des edlen Tobacks“ (1712) (ich bitte, diesen Titel im Kopf zu behalten, denn darauf wird noch zurückzukommen sein) oder „Mariae Scotiae Lebensbeschreibung“ (1725), und schließlich ganzer Romane, z.B. von Daniel Defoe die „Moll Flanders“ (1723). Bisher ebenfalls unerwähnt geblieben sind einige andere Schriften Matthesons zur Musik, so die später in Buchform zusammengefaßte Musikzeitschrift „Critica musica“, die 1722 begonnen wurde und 1725 dann gedruckt erschien. Es ist wohl die erste deutschsprachige Musikzeitschrift, und sie speist sich unter anderem aus Matthesons umfangreicher Korrespondenz, die er im Zusammenhang mit den Orchestre-Schriften mit vielen bedeutenden Musikern geführt hatte. Darin finden sich neben gelehrten Disputen über musikalische Fragen auch Klatsch-Nachrichten über bekannte Musiker, z.B. darüber, daß Veracini in „Verrückung seines Geistes“ „zwey Stockwerke hoch zum Fenster hinausgesprungen“ sei, und dabei „den einen Fuß zweymahl und die 18 © Diez Eichler, 2008 Hüffte ganz entzwey gefallen“ habe (Critica Musica, P.II, S. 152), und dergleichen. Auch von unsern Clavichorden ist gelegentlich die Rede, wovon hier natürlich auch zitiert werden soll: „Wenn es aber heißt: Clavichordia, wären nirgends / als in Teutschland zu finden / und hernach: man habe bei einem Teutschen Organisten in England ein Clavichordium gehöret; so müssen ja doch in England (wenigstens bey einem Teutschen / deren itzund sehr viel da sind) Clavichordia vorhanden seyn. Hier in Hamburg wohnen Leute / die alle Jahre Clavichordia, so viel sie nur machen können / nach England / nach Spanien / nach Holland etc. senden. Wo bleiben die denn? Daß man dieses angenehme Instrument ein heiseres Clavichordium nennet / ist sehr schimpflich / und weil ichs im Orchestre den Candidaten vorschlage / will mein Freund der Engländer Sentiment dem meinigen entgegensetzen / sagend: die grössesten Maitres daselbst hielten dafür / daß ein Scholar / so fern er was tüchtiges lernen will / gleich mit befiederten Instrumenten anfangen / niemals aber ein Clavichordium spielen soll. Diese Maitres wollen mir grosgünstig verzeihen: ich bin nicht / und werde nimmer / ihrer Meinung. Meine Ursache steckt in arte modulatoria, in der SingKunst. Wer diese versteht / versteht jene auch / und findet sie richtig.“ Critica Musica P.VI. S.151 Es findet sich auch eine Beschreibung des „neuerfundenen Claviceins, auf welchem das piano und forte zu haben“, welches Bartolomeo Cristofori in Florenz vorgestellt hat, welches manchen „so vorgekommen, als ob der Klang matt und stumpf wäre. Allein, diese Meynung rührete nur von dem, uns auf andern gemeinen Clavicembeln angewohnten Silberklange her, zumahl, wann man dieses Instrument das erstemahl unter die Hände bekommt: da sich doch in kurzer Zeit das Ohr hernach so gewöhnet, und sich in dieses Instrument so verliebt, daß es nicht mehr davon absondern, oder an den anderen gemeinen Clavesseins 19 © Diez Eichler, 2008 ferner einiges Vergnügen haben kan. Wobey auch zu bemercken, daß es noch angenehmer klinge, wenn man sich ein wenig davon entfernet.“ (P.VIII S. 336) Erwähnt werden soll noch das „Cembal d’Amour“ von Silbermann, von welchem Mattheson sagt, er habe eine Zeichnung davon und sehe „der Beschreybung Post-täglich entgegen“ (P.VII S. 243). Auf der letzten Seite der Critica Musica berichtet er dann, er habe eine Beschreibung in den „Breslauer Sammlungen“ gesehen, „allein, die Beschreibung will noch nichts sagen, weil nicht gemeldet worden, worinnen eigentlich seine Vorzüge vor anderen Instrumenten, und die grosse Kunst des Verfertigers bestehet“ (P.VIII S. 380). Zu diesem Instrument weiß Lothar Bemmann wohl mehr zu sagen… Abschließend seien noch zwei spätere und sicher ebenso wichtige Schriften Matthesons zumindest genannt: Im Jahr 1737 erschien der „Kern melodischer Wissenschaft“, worin Mattheson (im Gegensatz zu Rameau) postuliert, daß die Melodie einen höheren Stellenwert einnehme als die Harmonie (wieder ein sehr „moderner“, rokokohafter Gedanke!). Eine Melodie habe „leicht, lieblich, deutlich und fließend“ zu sein (Drittes Capitel, §.12. S.34). Es folgen klare Regeln und Hinweise, wie eine solche Melodie beschaffen sein muß und wie man sie anfertigen soll. Als letzte große musiktheoretische Veröffentlichung (es folgten noch acht weitere, weniger bekannte kleinere Schriften zur Musik) gibt der inzwischen 57jährige Mattheson 1739 den „Vollkommenen Capellmeister“ heraus, der heute noch so bekannt und verbreitet ist, daß ich ihn hier nicht weiter beleuchten will. Die Sammlung der biografischen Notizen über zeitgenössische Komponisten, die „Grundlage einer Musicalischen Ehrenpforte“ von 1740 haben wir als Quelle für Matthesons Autobiographie schon eingangs kennengelernt. 20 © Diez Eichler, 2008 Es sei nun wohl genug zitiert und dargestellt worden, um deutlich werden zu lassen, daß Matthesons Schriften in vielerlei Hinsicht unsere Aufmerksamkeit verdienen. Sie sind unterhaltsam, geben ein schönes Zeitbild jener Epoche, informieren über Wichtiges und Unwichtiges aus Musiklehre und Musikleben, sind eine wichtige Quelle für die wenigen, die sich die „historisch informierte Aufführungspraxis“ nicht nur auf die Fahnen schreiben wollen, sondern sich tatsächlich historisch informieren. -------------------------Johann Mattheson starb 1764 mit 83 Jahren. Da er keine Nachkommen hatte, hatte er verfügt, daß seine umfangreiche und wertvolle Bibliothek verkauft werden und der Erlös für eine neue Orgel im Hamburger Michel (der Kirchenbau wurde 1762 vollendet) gestiftet werden solle. Leider ging diese Orgel beim Brand im Jahr 1906 verloren und ihre Nachfolgerin, ein monumentales Werk von Walcker, überstand zwar den zweiten Weltkrieg, nicht aber den Kleingeist der Jahre 1959/60. Das Gehäuse des von Mattheson gestifteten Instruments ist aber heute noch im Michel zu bewundern, es enthält jetzt eine Steinmeyer-Orgel von 1962 mit 85 Registern auf 5 Manualen. Und wenn man schon mal dort ist, kann man in der Krypta nicht nur das Grab Carl Philipp Emanuel Bachs besuchen, sondern auch die Ruhestätte Matthesons würdigen. Zum Abschluß dieses Vortrages lassen wir uns noch einmal vom 39jährigen Mattheson selbst belehren und hören aus dem Vorwort zu den als „Der brauchbare Virtuoso“ 1720 gedruckten Sonaten für Traverso und Basso continuo ein paar Gedanken über das Saufen und über das Rauchen (die sich von der oben erwähnten Schrift über die Tugenden des edlen Tobacks wohl unterscheiden) „Sauffen ist leider gleichsam das Proprium quarti modi etlicher Virtuosen / so wie das Lachen dem Menschen allein eigen ist / und kan mit keiner Feder beschrieben werden / was dieses Laster der Music durchgehends für Schmach / Schimpf und Nachtheil bringet / ja wie es nur 21 © Diez Eichler, 2008 gar zu offt die besten Künstler und geschicktesten Köpffe unbrauchbar macht / insonderheit wenn der Brandtwein den Meister spielet.“ „Was soll ich von dem Toback-Parfum viel sagen? Wer des Dinges gewohnet ist / wird es doch nicht lassen, Zwar raucht mancher feiner und honetter Mann wohl bißweilen seiner Gesundheit / auch Lust halber / ein Pfeifgen Toback; aber wenn er doch unter hübsche Leute gehen will / wird er sich sauber machen / und den Geruch so viel müglich corrigiren. Ich kenne viele vornehme Personen / denen mancher Virtuose darüber unbrauchbar und zuwieder geworden / daß er so unterträglich starck von Toback gestuncken.“ Der brauchbare Virtuoso, Actus Primus, S.3 + FINIS + 22 © Diez Eichler, 2008 Literaturverzeichnis Johann Mattheson: Das Neu=Eröffnete Orchestre, Oder Universelle und gründliche Anleitung / Wie ein Galant Homme einen vollkommenen Begriff von der Hoheit und Würde der edlen Music erlangen / seinen Gout darnach formiren / die Terminos technicos verstehen und geschicklich von dieser vortrefflichen Wissenschafft raisonnieren möge. 1713 Das Beschützte Orchestre, oder desselben Zweyte Eröffnung / worinn nicht nur einem würcklichen galant-homme, der eben kein ProfeßionsVerwandter / sondern auch manchem Musico selbst die allerauffrichtigste und deutlichste Vorstellung musicalischer Wissenschafften / wie sich diselbe vom Schulstand tüchtig gesäubert / eigentlich und wahrhafftig verhalten / ertheilet; aller wiedrigen Auslegung und gedungenen Aufbürdung aber völliger und truckener Bescheid gegeben; so dann endlich des lange verbannet gewesenen Ut Re Mi Fa Sol La – Todte (nicht tota) Musica unter ansehnlicher Begleitung der zwölf Griechischen Modorum, als ehrbahrer Verwandten und Trauerleute / zu Grabe gebracht und mit einem Monument, zum ewigen Andencken / beehret wird von Mattheson, 1717 Das Forschende Orchestre, oder desselben Dritte Eröffnung. Darinn SENVS VINDICIAE ET QUARTAE BLANDITIAE, D.i. Der beschirmte SinnenRang und der Schmeichelnde Quarten-Klang / Allen unpartheyischen Syntechnitis zum Nutzen und Nachdenken; keinem Menschen aber zum Nachtheil / sana ratione & autoritate untersuchet / und vermuthlich in ihre rechtes Licht gestellet werden von JOANNE MATTHESON, 1721 Reprints der drei Orchestre-Schriften Laaber-Verlag, 2002 23 © Diez Eichler, 2008 Der brauchbare Virtuoso, welcher sich (nach beliebiger Überlesung der Vorrede) mit zwölff neuen Kammer-Sonaten / auf der Flute Traversiere, der Violine und dem Claviere / bey Gelegenheit hören lassen mag; als wozu ihm hiemit völlige Erlaubniß gibt Joannes Mattheson, 1720 Faksimile-Edition Broude Performers’ Facsimiles PF221 Critica Musica, d.i. Grundrichtige Untersuch- und Beutheilung / Vieler / theils vorgefaßten / theils einfältigen Meinungen / Argumenten und Einwürffe / so in alten und neuen / gedruckten und ungedruckten / Musicalischen Schrifften zu finden. Zur müglichsten Ausräutung aller groben Irrthümer / und zur Beförderung eines bessern Wachsthums der reinen harmonischen Wissenschafft / in verschiedene Theile abgefasset / und Stück-weise heraus gegeben von Mattheson, 1722-25 Reprint Laaber-Verlag, 2003 Grosse Generalbaßschule, Oder: Der exemplarischen Organisten-Probe Zweite / verbesserte und vermehrte Auflage / Bestehend in Dreien Classen, Als: In einer gründlichen Vorbereitung, In 24 leichten Exempeln, In 24 schweren Prob-Stücken: Zu solcher Gestalt eingerichtet / Daß / wer die erste wol verstehet; und in den beiden andern Classen alles reine trifft; so dann das darin enthaltene gut anzubringen weiß, derselbe ein Meister im General-Baß heissen könne. 1731 Reprint Olms-Verlag, 2006 Kleine Generalbaßschule, Worin nicht nur Lernende, sondern vornehmlich Lehrende, aus den allerersten Anfangs-Gründen des ClavierSpielens, überhaupt und besonders, durch verschiedene Classen und Ordnungen der Accorde Stuffen-weise, mittelst gewisser Lectionen oder stündlichen Aufgaben, zu mehrer Vollkommenheit in dieser Wissenschafft, 24 © Diez Eichler, 2008 richtig, getreulich, und auf die deutlichste Lehr-Art, kürtzlich angeführet werden. 1735 Reprint Laaber-Verlag, 2003 Kern Melodischer Wißenschafft bestehend in den auserlesensten Haupt- und Grund-Lehren der musicalischen Setz-Kunst oder Composition, als ein Vorläuffer des Vollkommenen Capellmeisters, ausgearbeitet von Mattheson, 1737 Reprint Georg-Olms-Verlag, 1990 Der Vollkommene Capellmeister, das ist Gründliche Anzeige aller derjenigen Sachen, die einer wissen, können, und vollkommen inne haben muß, der einer Capelle mit Ehren und Nutzen vorstehen will: Zum Versuch entworffen von Mattheson, 1739 Reprint Bärenreiter-Verlag, 1954 Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der Tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc. erscheinen sollen. Zum fernern Ausbau angegeben von Mattheson. 1740 Vollständiger, originalgetreuer Neudruck mit gelegentlichen bibliographischen Hinweisen und Matthesons Nachträgen herausgegeben von Max Schneider, 1910 Reprint Bärenreiter-Verlag, 1969 Quellen anderer Autoren: Friedrich Erhard Niedt: Musicalische Handleitung / oder gründlicher Unterricht. Vermittelst welchen ein Liebhaber der Edlen Music in kurtzer Zeit sich so weit 25 © Diez Eichler, 2008 perfectioniren kan / daß Er nicht allein den General-Bass nach denen gesetzten deutlichen und wenigen Regeln fertig spielen / sondern auch folglich allerley Sachen selbst componiren / und ein rechtschaffener Organiste und Musicus heissen könne. Erster Theil. Handelt vom General-Baß, denselben schlecht weg zu spielen, 1710 Reprint Uitgeverij Frits Knuf, 1976 Johann Gottfried Walther: Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec, darinnen nicht allein die Musici, welche so wol in alten als neuern Zeiten, ingleichen bey verschiedenen Nationen, durch Theorie und Praxin sich hervor gethan, und was von jedem bekannt worden, oder er in Schrifften hinterlassen, mit allem Fleiße und nach den vornehmsten Umständen angeführet, sondern auch die in Griechischer, Lateinischer, Italiänischer und Frantzösischer Sprache gebräuchliche Musicalische Kunst- oder sonst dahin gehörige Wörter, nach Alphabetischer Ordnung vorgetragen und erkläret, und zugleich die meisten vorkommende Signaturen erläutert werden von Johann Gottfried Walthern, Leipzig 1732 Reprint Bärenreiter-Verlag 1953 26 © Diez Eichler, 2008