Hessischer Rundfunk

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Hessischer Rundfunk
Redaktion: Marlis von Rössing
Aufnahme: Marlene Breuer
WISSENSWERT
Terra Incognita 1: Aufbruch statt Abbruch
Görlitz ist mitten in Europa
Von
Dagmar Hase
Sendung: Dienstag, 03.10.2006, 09:25 – 09:50 Uhr, hr2
Sprecherin:
Zitator:
Regie: Marlene Breuer
Musik
06-095
COPYRIGHT:
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Jede andere Verwendung (zum Beispiel Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung,
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“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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Zustimmung des Autors / der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung
des Hessischen Rundfunks.
ATMOGörlitz01
Atmo in Pfarrkirche Peter und Paul. Chorübung ca. 20”,
Atmo Schritte, darüber:
Sprecherin
Ein Chor junger Leute probt in der Görlitzer Peterskirche. Zwischen den
hohen, schmal-schlichten Freipfeilern, die das spätgotische
Sterngewölbe ganz zart gen Himmel strecken, verliert sich im diffusen
Nachmittagslicht eine reisegeleitete Besuchergruppe, die hier auf die
Schnelle einen Eindruck von der lichten Erhabenheit und der Akustik der
Peterskirche bekommen soll.
ATMOGörlitz02
nochmal Chorübung
Blende in:
ATMOGörlitz03
Ausschnitt Konzert Peterskirche, Chorgesangstück
Ausschnitt Konzert Peterskirche, Sopransolo
Sprecherin
Das Franz-Liszt-Oratorium, aufgeführt im Rahmen der Internationalen
Musikfestspiele in der Görlitzer Peterskirche – eines von vielen
kulturellen Ereignissen, mit denen die Stadt drei Stunden südöstlich von
Berlin gelegen und nur einen Autobahnstundensprung von Dresden
entfernt eigene Akzente setzen will. Eigene Akzente setzen MUSS, denn
aus westlicher – und damit meist auch aus Investorensicht - liegt die
östlichste Stadt Deutschlands am Rand. Am Rand der Republik, die hier
an das neue EU-Europa grenzt. An Polen, und nur wenige Kilometer
südlich an Tschechien. Weitsichtige Kartenleser dagegen sehen eine alte
Achse, die eine neue werden könnte: Für sie liegt Görlitz zwischen Berlin
und Prag, Dresden und Wroclaw.
nochmal
Aus- oder neu einblenden Konzert Peterskirche
ATMOGörlitz03
Dazu
ATMOGörlitz04
Atmo Schritte Besucher (= 04A) und Stadtgeräusche (= 04B)
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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Sprecherin
Egal, aus welcher Richtung der Besucher sich nähert - die Türme von
Sankt Peter und Paul lenken den Blick auf die Stadt am westlichen Ufer
der Lausitzer Neiße. Folgt er ihrer unübersehbaren Einladung, landet er
im ältesten Teil von Görlitz: die spätgotische Hauptpfarrkirche Sankt
Peter und Paul thront auf romanischen Fundamenten grau-schwarz und
trutzig hoch über dem Flussufer - den Altarraum gen Osten, dem
Sonnenaufgang, der Neiße und damit Zgorzélec [Sgorjéletz= j wie franz.
“jamais”],
der polnischen Seite der seit 1945 geteilten Stadt zugekehrt.
ATMOGörlitz05
Kirchenbesucher
Darüber
Die Touristen, die nach dem sanften Licht im Kircheninneren jetzt auf
Sprecherin
den Stufen des Südportals orientierungssuchend in die grelle
Nachmittagssonne blinzeln, könnten – folgten sie einem schmalen Weg
abwärts – über die neue Altstadtbrücke hinüberwandern, den eher
gelangweilt wirkenden Grenzpolizisten freundlich mit dem
Personalausweis zuwinkend. Aber der Blick bleibt an einem weiteren
Trutzbau hängen: Mit seiner Längsseite verstellt er graugestrichen und
kleinfenstrig die Sicht auf das polnische Ufer. Hausherr ist hier der
Architekt und ehemalige Stadtplaner Frank Heppert, seines Zeichens
Leiter des Fortbildungszentrums für Handwerk und Denkmalpflege in
Görlitz, das sich gemeinsam mit der Denkmalakademie zum
Kompetenzzentrum für Sanierungen und Restaurierungen entwickelt.
Somit ist Frank Heppert eigentlich ein Spurenleser, einer, der aus der in
Görlitz so reichhaltig vorhandenen historischen Bausubstanz die
Hinterlassenschaften vergangener Zeiten herausliest, ihre gleichsam
aufeinander geschichteten und ineinander verwobenen Zeichen
entschlüsselt; ein in die Geheimsprache der Steine, der Deckenbalken,
der Fensterstürze Eingeweihter, sozusagen.
OTONGörlitz01
... das ist ein alter Speicherbau, und der ist zum Beispiel datiert 1529 mit
einer Inschrift, wir wissen aber, dass es eines der ältesten Gebäude in
dieser Stadt ist. Das ist erklärlich durch die Lage an der Peterskirche,
also im ältesten, im wirklich aller ältesten Teil der historischen Altstadt
..... (Atmo aufschließen ... reingehen, so ... ) Hier sind wir also in
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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diesem Waidhaus, .... man erkennt zum Beispiel an den Bogenformen
und an der Konstruktion, dass es sich um ein sehr frühes Bauteil handelt,
und wenn man die Ziegelformate und die ... Mauerwerksanschlüsse
sieht, würde ich sagen, also eine späte Romanik ...
Sprecherin
Görlitz – eine Stadt mit reicher Vergangenheit.....
MUSIK 01
z.B.: CD (privat): Paschale Mysterium “Original Gregorianische
Romanik
Gesänge”, T:3 “Ave Rex noster” // capella antigua München
Choralschola, Leitung Dr. Konrad Ruhland
Zitator
ZITAT
“Im zwölften Jahrhundert begann der reichliche Zuzug westdeutscher
Bauern und Handwerker .... es waren Flamländer darunter, die die
Leinenweberei und Tuchweberei einführten und dadurch den Grund zu
Gewerbe und Handel legten ....
Sprecherin
.... schreibt in den 19hundertzwanziger Jahren die Schriftstellerin und
Historikerin Ricarda Huch über Görlitz.
Zitator
ZITAT
“Unter den Privilegien König Johanns von Böhmen .... war das
wichtigste, daß alle Kaufleute welche Waid führten, woher sie auch
kämen, sobald sie die Oberlausitz berührten, den Waid nur in Görlitz
niederlegen und verkaufen sollten.”
(Ricarda Huch: Im alten Reich – Lebensbilder deutscher Städte, Bremen 1927)
Sprecherin
Mit Waid, genauer: dem Kraut Färberwaid, wurden bis zur Entdeckung
Amerikas und damit der Indigo-Pflanze Tuche und Stoffe blau, schwarz
oder grün gefärbt; Tuch, aus dem nicht zuletzt reichlich
Soldatenuniformen geschneidert wurden. Ins Lagerhaus, also in das
Görlitzer Waidhaus, gelangte das aus Thüringen gelieferte Waid ab dem
14. Jahrhundert über die “Via regia”, “Königsstrasse” – eine durch den
Herrscher privilegierte und für Militär und Handel wichtige
Verbindungsstrecke. Und als Knotenpunkt auf der hier so genannten
Hohen Straße zwischen Leipzig und Breslau breitete sich die
aufstrebende Handelsstadt Görlitz aus, von mal mehr, mal weniger
gottgefälliger ökonomischer Strebsamkeit vorangetrieben.
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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...
Hier kreuzte diese West-Ost-Verbindung die Nord-Südstrecke Stettin –
Prag. Wohlmeinende sehen in dieser Via regia eine frühe,
transkontinentale Kaufmanns- und Pilgerstrecke, deren östlichster Punkt
im ukrainischen Kiew und westlichster im spanischen Santiago de
Compostela ausgemacht wird. So viel unternehmerische Bewegung rief
Raubritter-Instinkte wach: Gegen die zunehmende Zahl von Überfällen
adliger Geld- und Wareneintreiber gründete Görlitz gemeinsam mit
Lauban, dem heute polnischen Lúban, mit Bautzen, Zittau, Löbau und
Kamenz schon 1346 den Sechs-Städte-Bund; ein frühes Handelskartell,
das sich auszahlte: Bis in das 16. Jahrhundert hinein dauerte die
wirtschaftliche und damit kulturelle Blütezeit der Tuchmacherstadt Görlitz
an der Neiße; noch heute künden die Namen “Dreiraden”- und
“Vierradenmühle” von den Walkwerken, die das Flusswasser für Gerber,
Weber und Färber antrieb.
MUSIK 02
z.B. CD “España Antigua”, T:9 “Canarios” (17.Jhr) oder T:15 “Fantasía”
Renaissance
(16. Jhr)
OTONGörlitz02
Das ist das Haus Petersstraße Nummer 7, datiert 1544, eine typische
Renaissancefassade. Wir finden als Grundton ein Anthrazitgrau, ... dazu
ein gebrochenes Weiß, .... (... Also mehr als Farbigkeit außer der im
dunklen Rot noch gehaltenen Jahreszahl ist hier erst mal gar nicht
vorhanden.) Und trotzdem ist es eine gegliederte und sehr streng und
nach außen hin auch Haltung zeigende Fassade, besser kann man sie
sich nicht vorstellen.
Sprecherin
Frank Heppert, der Spurenleser der Görlitzer Baugeschichte, hat sich nur
wenige Schritte vom Waidhaus und der Peterskirche entfernt, und schon
reihen sich in der historischen Altstadt die vom Reichtum ihrer Bewohner
kündenden Profanbauten aus der Renaissance – inzwischen aufwändig
restauriert – wie Perlen aneinander. Er deutet auf unterschiedliche
Putzschichten, auf unterschiedliche Fensterhöhen, und setzt sie in
Wohngeschichte um:
OTONGörlitz03
.... Also nach Stadtbränden und wirtschaftlichen Wandlungen hat
wahrscheinlich der eine Hausherr seinen Nachbarn aufgekauft oder hat
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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das Haus übernommen, ... Also: Strukturen haben sich gewandelt, es
wurde eine Eingangshalle entwickelt und natürlich bei dieser Größe des
Hauses und der Haustiefe, ... wurde sozusagen im Inneren des Hauses
ein spezieller Kern entwickelt, um Licht und Luft in dieses Gebilde zu
bringen, nämlich die Treppenhalle, und die Kombination aus
Eingangshalle und Treppenhalle führt zu dem Görlitzer Hallenhaus. ...
Sprecherin
Für viele Denkmalschützer ist Görlitz die Schönste im ganzen Land,
nirgends findet sich eine so geschlossen erhaltene Altstadt, nirgends ein
so großes Jugendstil- und Gründerzeitviertel drum herum. 3600
Baudenkmäler aus dieser Zeit, aber auch aus Barock, Renaissance und
Gotik wetteifern mit ihren größtenteils schon wieder schmucken
Fassaden um die touristische Aufmerksamkeit; sie spiegeln mehr als 900
Jahre Stadtgeschichte wider. Kaum kommt man vom Fleck in dieser
Stadt.
.... dazu
Zwischen dem so gern pittoresk genannten steinernen Überfluss an
ATMOGörlitz06
Zeitzeugen gleich hinter der graumächtigen Nicolaikirche – sie gilt nun
wirklich als das älteste Gotteshaus der Besiedlung “villa Gorélic” [sprich:
Goréliz] aus dem 11. Jahrhundert – gleich dahinter also liegt die grüne
Oase des alten Nicolaifriedhofs, leicht bergan steigend, übersät mit
romantisch-moosbewucherten Grabsteinen, und überdacht von den
Blätterkronen uralter Baumriesen.
... steht frei ...
ATMO Nicolaifriedhof stereo, Vögel, fernes Stadtrauschen, Blätterrauschen
Darüber
“Es kann sich ein Mensch vom Mutterleibe an im ganzen Leben seiner
Zitator
Zeit in dieser Welt nichts fürnehmen, das ihm nützlicher und nötiger sei,
dass er sich selbst recht lerne erkennen, was er sei, woraus und von
wem, wozu er geschaffen worden und was sein Amt sei.”
Sprecherin
Jacob Böhme, ein Görlitzer Schuhmacher, geboren 1575, gestorben
1624. Sein Geburtshaus steht drüben am polnischen Ufer der Neiße,
klein, leuchtend rot, heute ein Museum. Der Handwerksmeister Böhme
versuchte die Schöpfung, wie sie die Bibel lehrt, in Einklang zu bringen
mit den neu aufziehenden Erkenntnissen der Wissenschaft; im Umfeld
der nachlutherischen Konfessionsstreitigkeiten und Glaubensspaltungen
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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wetterte der Protestant gegen die “Mauerkirche” und “selbstgemachte
Götzen”, was ihm andauernde Streitereien und Händel mit der Obrigkeit
einbrachte. Ein Görlitzer mit eigenem sturen Kopf, dafür sind sie
berühmt; wer sich mit ihnen über ihre Mentalität unterhält, wird das
verschämt-stolze, ganz kleine Lächeln im Mundwinkel ob der
solchermaßen gepflegten Sturheit immer wieder wahrnehmen können.
Meist aber wird es überdeckt, überdeckt von Sorgenfalten, von einer
lange eingeübten Bitterkeit. Historische Altstadtschätze sind etwas
Schönes, Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze für die Jungen allerdings
schaffen sie nicht. Die Jugend wandert ab, die Arbeitslosenquote ist
extrem hoch, Görlitz wird eine zunehmend alte Stadt.
Zitator
“Lerne erkennen was Du bist und was Deines Amtes sei” ...
Sprecherin
... Jacob Böhme scheint seinen Görlitzern eine unlösbare Aufgabe
hinterlassen zu haben. Da haben sie den 30 jährigen Krieg überstanden,
dann die Herrschaft der Sachsen, und schließlich die der Preußen. 1815
werden sie zu Bewohnern der preußischen Provinz Schlesien – noch
heute sehen sie sich als Schlesier, und nicht als Sachsen, zumal die
Landeshauptstadt Dresden der ewige Konkurrent ist im Kampf um
Hochschulstandorte, um Kulturgelder.
MUSIK 03
z.B.: CD Antonin Dvořák “Aus der Neuen Welt” T:1 Adagio – Allegro
molto von etwa 2’06” an 30” frei ....
Sprecherin
Dabei mangelt es ja nicht an Vorbildern, was Bürgerengagement und
unternehmerischen Ideenreichtum angeht. Gleich 1830, die erste
Eisenbahn ist gerade durch England gerollt, verhilft nämlich wieder mal
ein Görlitzer seiner Stadt zum Anschluss an die Zukunft: Christoph
Lüders eröffnet die Wagenbauanstalt, später Waggonbau WUMAG, in
der DDR das volkseigene “Betriebskombinat Schienenfahrzeugbau”. Im
Moment: ein solider Ableger der kanadischen Bombardier Werke. Von
ATMOGörlitz07
hier kommen die knallroten Doppelstockzüge, die die Deutsche Bahn im
Dazu
Regionalverkehr einsetzt. Von hier werden Komplettwagen und
Baugruppen nach Israel geliefert, nach Luxemburg, Schweden oder
Rumänien. 1200 Menschen arbeiten zur Zeit in dem modernisierten
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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Werk, Konstruktionsmechaniker, Schlosser, Schweißer, Tischler,
Elektriker, Lackierer. Und Ingenieure wie Falk Kühnel, Manager in der
Rohbaufertigung und Farbgebung.
OTONGörlitz04
Also wenn man jetzt auf großen Bahnhöfen wie in Köln steht und man
sieht eben, dass diese Doppelstockfahrzeuge mit
Hochgeschwindigkeitszügen des ICEs miteinander dort verkehren, und
man blickt dann so auf die Brücke und sagt, das sind also Fahrzeuge, die
[Atmo läuft
hier in Görlitz am Standort gebaut und gefertigt wurden, das erregt
weiter]
innerlich doch einen gewissen Stolz.
Sprecherin
Seit 35 Jahren ist Falk Kühnel dabei, hat die wirtschaftliche Anbindung
an die vormaligen Ostblockländer kommen und gehen sehen, und bleibt
gelassen optimistisch, was die Zukunft seines Standorts angeht.
OTONGörlitz05
Also wir sind die östlichste Stadt, und irgendwo ist eben dieser Teil des
Hin- und Hers, ..... dieses Verkehren mit den Anliegerstaaten, oder
Anliegerländern, das ist bei uns noch nicht selbstverständlich. .... Es gibt
ja hier Strecken, die von Görlitz nach Liberec ((sprich:Lieberetts)) führen,
...und das muss natürlich jetzt in dieser Richtung weiter wachsen.
OTONGörlitz06
...... es ist ja jetzt schon so, dass Görlitz in vieler Hinsicht zentral ist, ja,
wenn man es von den großen mittelosteuropäischen Metropolen aus
sieht - also wir sind ungefähr gleich weit entfernt von Dresden, von
Berlin, von Prag und von Breslau, mittendrin liegt Görlitz also durchaus
nicht am Rande des Kosmos; nur wenn man es von Westdeutschland
aus sieht, dann ist es natürlich sehr weit im Osten. Aber je stärker diese
Region wird, auch wirtschaftlich stärker, umso günstiger wird eigentlich
die Lage von Görlitz.
Sprecherin
Optimismus bringen auch die Zugereisten in Görlitz mit, und sie
betrachten die Stadt und ihre Umgebung oft aus einem neuen
Blickwinkel. Markus Bauer, geboren in Frankfurt am Main, ist Direktor
des neuen Schlesischen Museums, hochfein untergebracht im
altstädtischen Schönhof – nur zwei Plätze von der Peterskirche entfernt,
seit dem Mittelalter Wohnsitz führender Familiengeschlechter der Stadt,
und jetzt aufwändig restauriert. Ein passender Ort für ein Museum, das
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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die Geschichte der Schlesier als Teil der Geschichte dieser europäischen
Region begreift und ausdrücklich KEIN Vertriebenenmuseum sein will.
Eine Region mit eigener Kultur, eigenen Traditionen, großer
Handwerkskunst und eigenen Dialekten; das Mannheimer Institut für
Deutsche Sprache bringt sie in der Dauerausstellung zum Klingen, wie
diese Schilderung einer Hochzeit auf Gebirgsschlesisch:
ATMOGörlitz08
Ton Ausstellung: Dialekt: Hochzeit Maiwaldau. Gebirgsschlesisch.
OTONGörlitz07
... Es geht um die Vergangenheit Schlesiens....... Aber es geht auch
darum, diese Vergangenheit von traditionellen Sichtweisen zu befreien
oder neue Perspektiven, neue Sichtweisen hinzuzufügen. ..... ... wie geht
man mit der Geschichte dieses Landes um, das heute polnisch ist, das
früher überwiegend deutsch war, von Deutschen geprägt war, das ein
wichtiges Element natürlich auch der deutschen Nationalgeschichte
darstellt, wie schafft man das, tatsächlich so etwas wie eine europäische
Geschichtslandschaft zu konstituieren.
ATMOGörlitz09
Familie vor Grenzverlaufskarte .... ca. 1'30
darüber:
Sprecherin
Für Museumsdirektor Markus Bauer gibt es in der schlesischen
Geschichte durchaus Traditionen, die auch die Zukunft einer
europäischen Region Schlesien mitbestimmen könnten, in deren
deutschem Zipfel Görlitz liegt. Angesichts der Utopie eines Europa der
Regionen - weniger der Nationalstaaten - verweist er zum Beispiel auf
das einst erfolgreiche Nebeneinander von Polen und Deutschen in
Oberschlesien.
OTONGörlitz08
... Ich glaube, dass ... Görlitz eine Zukunft hat in vielfacher Hinsicht als ein Tor
nach Polen, und das heißt natürlich, ins polnische Schlesien, weil zunächst mal
kommt man ja nach Schlesien, wenn man hier von Görlitz aus nach Polen reist.
Und an dieser Pforte nach Schlesien da sitzen eben auch wir mit dem
Schlesischen Museum, bemühen uns darum, diesen Eindruck mitzubestimmen,
den man hat, wenn man von hier aus nach Polen reist, und auch natürlich den
Reisenden vorzubereiten auf das, was ihn jenseits der Grenze erwartet.
ATMOGörlitz10
Atmo Streetball-Fest in Zgorzelec
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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NEU
darüber
Jenseits der Grenze, nur einen kurzen Spaziergang über die
Sprecherin
Altstadtbrücke entfernt, die gleich unterhalb der Peterskirche liegt, an
einem sommerlichen Samstagnachmittag: Die Hauptstraße in Zgorzélec
[Sgorjéletz –j wie franz. ‚jamais‘]
hat sich in ein Spielfeld verwandelt. Ein
Streetball-Wettbewerb für Junge und Junggebliebene zeigt, dass die
östliche Schwester von Görlitz nicht mit dem Problem der Überalterung
kämpft, mit dem Wegzug junger Leute der Arbeit hinterher; hier tummeln
sich Kinder und junge Familien, die mit großen Hoffnungen in die
Grenzstadt ziehen, auch wenn sichtbar weniger Millionen in die
Sanierung der Gründerzeithäuser fließen als einen Katzensprung weiter
auf deutscher Seite. Diese nicht nur geografische Nähe wird inzwischen
mit deutsch-polnischen Projekten für Schülerinnen und Schülern
gefördert.
OTONGörlitz09
... dieses letzte Mal war über Geschichte von Eltern, von Großeltern hier,
... Was wissen Deutsche und Polen über uns und über Euch zum
Beispiel, und was wissen sie über Geschichte nach Zweitem Weltkrieg,
woher kommen wir, und weil diese Kinder, oft sie wissen nicht, woher
kommen Großeltern oder noch früher. .... ... Und einige sagten, dass sie
wohnen in alte Häuser und früher dort wohnten Deutsche. ... wir machten
ein Treffen, und wir machten große Karte, und waren Punkte, grüne und
rote, woher kommen wir und woher Deutsche zum Beispiel. Und war
einige Punkten dass diese Großeltern, deutsche, kommen aus der
polnischen Seite, und wir kommen aus Ost. Und Deutsche denken, dass
wir sind Ukrainer, oder Weißrussen ... aber wir sind Polen. ....
ATMOGörlitz11
Atmo Stadtgeräusche, Gang, Autos.
NEU darüber
Sprecherin
Wanda Struchowska ist Lehrerin in Zgorzelec, schmal, sportlich, mit
einem sanft-neugierigen Blick. Der Rundgang mit ihr führt vorbei an den
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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einträglichen Zigaretten- und Devisenbuden gleich hinter der
Grenzbrücke für Autofahrer, vorbei an vormals prachtvollen Stadtvillen,
die bis vor kurzem Kindergärten beherbergten, vorbei an Hauseingängen
mit ganzen Schilderwäldern, die auf soziale Vereine, Lokalredaktionen
und Architekturbüros verweisen, bis die 34jährige auf eine
baugeschichtliche Überraschung deutet:
OTONGörlitz10
Wir gehen zu dom kultury. .... Dieses Gebäude ist hat schon 100 Jahr.
Und das war eine - wie heißt das – Gedenkhalle hier für Kaiser Wilhelm
II. Und er war hier. .. Und das ist wie Reichstag, ja, dieses Gebäude. Und
dieser Architekt machte Reichstag. ... Das ist Dom Kultury, das ist
Kulturhaus hier. ...
Sprecherin
Ein markanter Punkt, dieser mächtige graubraune Kuppelbau nahe am
Grenzfluss. Mit ihm verbinden sich große und kleine Geschichten, zum
Beispiel für Rolf Karbaum, parteiloser Ex-Oberbürgermeister von Görlitz,
der bei Wanda im Kurs polnisch lernt. Geboren 1940 auf der Ostseite der
Neiße. Seit 1944 auf der westlichen Neiße-Seite zuhause – er erlebt die
Teilung der Stadt an der Grenze eines geteilten Landes. Erlebt die
späten Bomben, von denen nur etwa 35 Görlitzer Häuser getroffen
werden. Erlebt in den 50er Jahren, wie Stacheldraht, Wachtürme und
Schießbefehl die DDR-Seite von der polnischen Seite trennen. Das
ändert sich mit der Jahreswende 1972:
OTONGörlitz11
... ich hab auch ein Foto vom 1.1.72: Mein Sohn liegt im Kinderwagen, es
war ein bitterkalter Erster Januar, die Sonne schien, und wir stehen vor
dem Dom Kultury, also vor der ehemaligen Ruhmeshalle und haben ein
Foto von diesem denkwürdigen Tag gemacht. Das war schon bewegend
für uns ...
Sprecherin
Das Aufatmen und der kleine Grenzverkehr nach dem denkwürdigen
Foto vom 1.1.72 währen nur sieben Jahre; dann geht in der
DDR-Obrigkeit die Angst um vor dem Solidarnosc-Bazillus, es gibt
wieder Schießbefehl, und ein Gang über die Neißebrücke ist fast
unmöglich. Jetzt schlendert Rolf Karbaum regelmäßig über die neue
Altstadtbrücke, der gezückte Personalausweis wird kaum eines Blickes
gewürdigt. Die Enkelkinder sind in einem polnischen Kindergarten, in
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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dem niemand deutsch spricht.
OTONGörlitz12
.... und da mussten sie sich vom ersten Tag ihres Kindergarten-Daseins
zurechtfinden, das haben sie glänzend getan, und heute spricht der
ältere von beiden, der demnächst fünf wird, perfekt polnisch, jedenfalls
sagte mir die Direktorin, dass er nicht zu unterscheiden sei in der
Sprache von gleichaltrigen polnischen Kindern, und das ist doch etwas
sehr Schönes. ...
Sprecherin
Die enge Freundschaft mit dem Bürgermeister von Zgorzélec erleichterte
Rolf Karbaum in seiner Amtszeit vieles, auch die gemeinsame
Bewerbung für die Kulturhauptstadt, grenzübergreifende Absprachen, die
gemeinsamen Entwürfe städtebaulicher Projekte wie des Brückenparks,
der an beiden Ufern ein verbindendes Kulturterrain werden soll. Die
schönen Pläne, die Görlitz und Zgorzélec (Sgorjéletz) eine
kultur-europäische Zukunft bescheren sollten, stehen nun auf dem
Prüfstand. Wenn es nach dem amtierenden Kulturbürgermeister Ulf
Großmann geht, dann werden sie alle umgesetzt, nur vielleicht nicht in
solch kurzer Zeit wie vorgesehen. Die Verbindung zur polnischen Seite
ist auch ihm eine Herzens- aber auch eine Vernunftsache; zum Beispiel
das Koordinationsbüro für Jugendaktivitäten hüben und drüben.
OTONGörlitz13
Heute leben eben in dieser Region zwei Nationen, die Polen und die
Deutschen, und ne dritte noch dazu, nämlich die Tschechen, die
vergessen wir so häufig, wenn wir hier reden, ...und wir gehen auf das
Europa der Regionen zu, und da sollen ja die Ländergrenzen nicht mehr
die Rolle spielen, aber die Einheit in der Vielfalt, so heißt es ja im
Verfassungsentwurf, ist das entscheidende. ...Es soll nun schon jeder
sein Spezifikum kulturell, sprachlich und so weiter einbringen; und da
sehe ich eine enorme Chance, vor allem, was die, was diese Region
dann spannend und interessant macht.
Sprecherin
Das Prinzip Hoffnung am Rande Deutschlands heißt also Europa. Heißt:
Kultur. Heißt: Bildungsstandort. Die Görlitzer Fachhochschule, das
Görlitzer Berufsschulzentrum. Die Görlitzer Denkmalakademie. Die
inzwischen arg strapazierten Füße des wissbegierigen Görlitz-Flaneurs
haben mittlerweile das nahezu perfekt restaurierte, aber irgendwie allzu
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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stille Gründerzeitviertel erreicht, und ruhen aus vor einem der vielen
leeren Schaufenster. Einmal mehr erzählen hier die überall präsenten
Aufkleber “Zu vermieten” von den Ladenhütern der Immobilienmakler;
gardinenlose Fenster, hinter denen sich auch nicht der Hauch eines
Möbelschattens zeigen will, stehen für den drastischen Rückgang der
Bevölkerungszahlen. In den 1950er Jahren nach Krieg und Vertreibung
waren es 100 000 Einwohner. 1982: 80 000, 2006: knapp 57 000.
Aber das Prinzip Hoffnung am Rande Deutschlands und im Herzen
Europas hat noch einen anderen Namen: Pensionopolis.
MUSIK 04
z.B. CD “Galerie” HR6109559 T:2 “Renoir”
Belle Epoque
Sprecherin
Schon einmal, zur Mitte des 19. Jahrhunderts, verhalfen vornehmlich
Berliner Rentner der durch den Eisenbahnanschluss wieder
aufstrebenden Stadt am grünen Ufer der Neiße zu einer ihrer
Blütezeiten. Sie wussten den geruhsameren Rhythmus, der Zeit für ein
Schwätzchen im Laden lässt, zu schätzen. Gründerzeit-Euphorie
schwappte über nach Görlitz - diesem Unternehmergeist verdankt Görlitz
auch einen ebenso süßen wie zeitlosen Exportschlager.
OTONGörlitz14
.... Wenn man die Liebesperle würde durchschneiden, ist ein kleines
Zuckerkristall drinnen. wird dann ummantelt, mit einer Drageedecke, wie
man sagt. .... Also das heißt, eine große Kugel, also aus dem kleinen
Zuckerkristall wird eine Liebesperle. .... und da läuft das mehr oder
weniger von dem Zuckerkristall bis zur Fertigstellung cirka 100 Stunden,
so lange dauert der Prozess. ... Also hier werden am Tag ungefähr 4000
Kilo Liebesperlen hergestellt, das ist schon viel. .... So eine Anlage, wie
wir sie haben, die fährt 20- bis 30Tausend Flaschen
ATMOGörlitz12
Liebesperlenproduktion
NEU
darüber
In 22 Länder auf der ganzen Welt werden die kleinen bunten Perlen aus
Sprecherin
Görlitz geliefert - verpackt in allerlei durchsichtige Formen. Ihr Erfinder
Rudolf Hoinkis gründete seinen Drageebetrieb schon 1896 in der damals
aufstrebenden Stadt. Heute betreibt Enkel Bernd-Christian Hoinkis
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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zusammen mit seinem Bruder die Liebesperlen- und Pastillenproduktion
neu, zahlt den Firmen-Rückkauf bei der Treuhand ab, beschäftigt
insgesamt 150 Leute im ausgebauten Betrieb, will demnächst die
Umsatzmarke von 10 Millionen Euro überspringen und versucht, dem
vielen Auf und Ab in der Firmengeschichte und damit auch in der
eigenen Lebensgeschichte mit der sprichwörtlichen schlesischen Sturheit
zu begegnen.
OTONGörlitz15
... wo wir zum ersten mal in solche Handelsketten kamen, da hatte man
uns erklärt: Mein lieber guter Hoinkis, das ist alles schön und gut, aber
das ist ein sogenannter Kirmesartikel, ihr habt ja da in der Ostzone sicher
geschlafen im Tal der Ahnungslosen, und da sind wir manchmal
aufgestanden und haben gesagt zu diesen Einkäufern von dieser Kette:
Sie müssen sich mal eins merken im Prinzip: der Großvater hat schon
Liebesperlen verkauft, ich werde welche verkaufen, und mein Sohn wird
auch dann welche noch verkaufen, sage ich, also Kinder wachsen immer
nach, ... also wir bewegen uns eigentlich wieder so in die Sache der
Nostalgie, dass die älteren Herrschaften sagen: Ach das habe ich auch
schon mal vor 40, 50 Jahren gehabt, das tue ich meinem Enkel oder so
was wieder kaufen, und fahren eigentlich damit ganz gut, ja.
Sprecherin
Da sind sie wieder, die als Kunden begehrten Pensionäre. Und sie
kommen heute ähnlich wie vor gut 100 Jahren. Sie kommen, wie Uschi
Grangé und Peter Wallauer aus Hessen, die seit knapp drei Jahren im
Görlitzer Gründerzeitviertel leben.
OTONGörlitz16
...... An Görlitz hat uns gereizt, ... dass hier wunderschöne Bausubstanz
erhalten ist, und das hat uns dazu bewogen, hier einen Besuch zu
machen und der hat uns sofort überzeugt, und wir haben uns dann gleich
entschlossen, unser Alter hier zu verbringen. …. Und diese unmittelbare
Nähe zu Polen, das heißt, wir leben ja in einer Stadt, die zu einem Drittel
polnisch ist, hat uns auch gereizt im Hinblick auf die Verständigung
zwischen Völkern, die ja sehr intensiv sich miteinander gestritten und
auseinandergesetzt haben mit sehr Grausamkeiten und sehr viel
Nachdruck. Und insofern freut es mich, dass das, was ich als junger
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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Mensch erlebt habe, hier noch mal in einer anderen Form Leben
bekommt und Versöhnung und trotz aller Schwierigkeiten doch eine
entscheidende Entwicklung sein wird hier.
Sprecherin
Rentner und Pensionäre, die Dienstleistungen brauchen, und kleine
Geschäfte ---- es könnte schlechtere Perspektiven geben für die
Doppelstadt. Auf neue Arbeitsplätze nicht nur in der Gastronomie,
sondern auch im weiteren Umfeld von kulturellen und sportlichen
Veranstaltungen setzt das Prinzip Hoffnung namens Tourismus :
Freilufttheater, Musiktage, die Nähe zum Riesengebirge, die Nähe zu
Prag und Wroclaw: das alles sind schon jetzt attraktive Angebote. Viele
Einheimische und aus Ost oder West Zugereiste mühen sich hier um
Ideen, damit die Stadt überlebt, leisten Kärrnerarbeit, wenn es um das
Erschließen von Geldtöpfen geht und glauben an eine Zukunft jenseits
der Industriearbeitsplätze. Von denen gingen zuletzt 1997 sechstausend
verloren, als der Braunkohletagebau Hagenwerder südlich von Görlitz
geschlossen wurde. Jetzt wird die 70 Meter tiefe Grube zum See, und
das Gelände darum herum soll mit Strand, Yachthafen, Golfclubs und
Wanderwegen eine Touristenattraktion werden.
Hans Rainer Baier, 68, hat hier als junger Mann noch Kohle gefördert; er
ist gebürtiger Schlesier, Beutesachse, wie er betont. “Rübergekommen”,
so nennt er seine Kriegsflucht nach Görlitz. Das Haus seiner Familie auf
der polnischen Seite hat er nie wieder sehen wollen, die Heimat sollte in
Erinnerung bleiben, wie sie früher war. Trotz leidvoller Grenzerfahrung
gibt es für ihn noch einen wichtigen Hoffungsträger:
OTONGörlitz17
Ich bild mir ein: die Polen haben ja jetzt eine neue Generation und wir.
Und die Jugend ich bild mir ein die tut zusammenwachsen. ...
... hier ist ne Segelsportgruppe, die sind jetzt momentan in Polen drüben,
haben die einen See, da kommen Polen und Tschechen hierüber dann...
ich will mal sagen, das ist doch eine schöne Ecke hier. ...
ENDE
“Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase
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