0 Hessischer Rundfunk Redaktion: Marlis von Rössing Aufnahme: Marlene Breuer WISSENSWERT Terra Incognita 1: Aufbruch statt Abbruch Görlitz ist mitten in Europa Von Dagmar Hase Sendung: Dienstag, 03.10.2006, 09:25 – 09:50 Uhr, hr2 Sprecherin: Zitator: Regie: Marlene Breuer Musik 06-095 COPYRIGHT: Diese Manuskripte sind urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf sie nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (zum Beispiel Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 0 1 Zustimmung des Autors / der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. ATMOGörlitz01 Atmo in Pfarrkirche Peter und Paul. Chorübung ca. 20”, Atmo Schritte, darüber: Sprecherin Ein Chor junger Leute probt in der Görlitzer Peterskirche. Zwischen den hohen, schmal-schlichten Freipfeilern, die das spätgotische Sterngewölbe ganz zart gen Himmel strecken, verliert sich im diffusen Nachmittagslicht eine reisegeleitete Besuchergruppe, die hier auf die Schnelle einen Eindruck von der lichten Erhabenheit und der Akustik der Peterskirche bekommen soll. ATMOGörlitz02 nochmal Chorübung Blende in: ATMOGörlitz03 Ausschnitt Konzert Peterskirche, Chorgesangstück Ausschnitt Konzert Peterskirche, Sopransolo Sprecherin Das Franz-Liszt-Oratorium, aufgeführt im Rahmen der Internationalen Musikfestspiele in der Görlitzer Peterskirche – eines von vielen kulturellen Ereignissen, mit denen die Stadt drei Stunden südöstlich von Berlin gelegen und nur einen Autobahnstundensprung von Dresden entfernt eigene Akzente setzen will. Eigene Akzente setzen MUSS, denn aus westlicher – und damit meist auch aus Investorensicht - liegt die östlichste Stadt Deutschlands am Rand. Am Rand der Republik, die hier an das neue EU-Europa grenzt. An Polen, und nur wenige Kilometer südlich an Tschechien. Weitsichtige Kartenleser dagegen sehen eine alte Achse, die eine neue werden könnte: Für sie liegt Görlitz zwischen Berlin und Prag, Dresden und Wroclaw. nochmal Aus- oder neu einblenden Konzert Peterskirche ATMOGörlitz03 Dazu ATMOGörlitz04 Atmo Schritte Besucher (= 04A) und Stadtgeräusche (= 04B) “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 1 2 Sprecherin Egal, aus welcher Richtung der Besucher sich nähert - die Türme von Sankt Peter und Paul lenken den Blick auf die Stadt am westlichen Ufer der Lausitzer Neiße. Folgt er ihrer unübersehbaren Einladung, landet er im ältesten Teil von Görlitz: die spätgotische Hauptpfarrkirche Sankt Peter und Paul thront auf romanischen Fundamenten grau-schwarz und trutzig hoch über dem Flussufer - den Altarraum gen Osten, dem Sonnenaufgang, der Neiße und damit Zgorzélec [Sgorjéletz= j wie franz. “jamais”], der polnischen Seite der seit 1945 geteilten Stadt zugekehrt. ATMOGörlitz05 Kirchenbesucher Darüber Die Touristen, die nach dem sanften Licht im Kircheninneren jetzt auf Sprecherin den Stufen des Südportals orientierungssuchend in die grelle Nachmittagssonne blinzeln, könnten – folgten sie einem schmalen Weg abwärts – über die neue Altstadtbrücke hinüberwandern, den eher gelangweilt wirkenden Grenzpolizisten freundlich mit dem Personalausweis zuwinkend. Aber der Blick bleibt an einem weiteren Trutzbau hängen: Mit seiner Längsseite verstellt er graugestrichen und kleinfenstrig die Sicht auf das polnische Ufer. Hausherr ist hier der Architekt und ehemalige Stadtplaner Frank Heppert, seines Zeichens Leiter des Fortbildungszentrums für Handwerk und Denkmalpflege in Görlitz, das sich gemeinsam mit der Denkmalakademie zum Kompetenzzentrum für Sanierungen und Restaurierungen entwickelt. Somit ist Frank Heppert eigentlich ein Spurenleser, einer, der aus der in Görlitz so reichhaltig vorhandenen historischen Bausubstanz die Hinterlassenschaften vergangener Zeiten herausliest, ihre gleichsam aufeinander geschichteten und ineinander verwobenen Zeichen entschlüsselt; ein in die Geheimsprache der Steine, der Deckenbalken, der Fensterstürze Eingeweihter, sozusagen. OTONGörlitz01 ... das ist ein alter Speicherbau, und der ist zum Beispiel datiert 1529 mit einer Inschrift, wir wissen aber, dass es eines der ältesten Gebäude in dieser Stadt ist. Das ist erklärlich durch die Lage an der Peterskirche, also im ältesten, im wirklich aller ältesten Teil der historischen Altstadt ..... (Atmo aufschließen ... reingehen, so ... ) Hier sind wir also in “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 2 3 diesem Waidhaus, .... man erkennt zum Beispiel an den Bogenformen und an der Konstruktion, dass es sich um ein sehr frühes Bauteil handelt, und wenn man die Ziegelformate und die ... Mauerwerksanschlüsse sieht, würde ich sagen, also eine späte Romanik ... Sprecherin Görlitz – eine Stadt mit reicher Vergangenheit..... MUSIK 01 z.B.: CD (privat): Paschale Mysterium “Original Gregorianische Romanik Gesänge”, T:3 “Ave Rex noster” // capella antigua München Choralschola, Leitung Dr. Konrad Ruhland Zitator ZITAT “Im zwölften Jahrhundert begann der reichliche Zuzug westdeutscher Bauern und Handwerker .... es waren Flamländer darunter, die die Leinenweberei und Tuchweberei einführten und dadurch den Grund zu Gewerbe und Handel legten .... Sprecherin .... schreibt in den 19hundertzwanziger Jahren die Schriftstellerin und Historikerin Ricarda Huch über Görlitz. Zitator ZITAT “Unter den Privilegien König Johanns von Böhmen .... war das wichtigste, daß alle Kaufleute welche Waid führten, woher sie auch kämen, sobald sie die Oberlausitz berührten, den Waid nur in Görlitz niederlegen und verkaufen sollten.” (Ricarda Huch: Im alten Reich – Lebensbilder deutscher Städte, Bremen 1927) Sprecherin Mit Waid, genauer: dem Kraut Färberwaid, wurden bis zur Entdeckung Amerikas und damit der Indigo-Pflanze Tuche und Stoffe blau, schwarz oder grün gefärbt; Tuch, aus dem nicht zuletzt reichlich Soldatenuniformen geschneidert wurden. Ins Lagerhaus, also in das Görlitzer Waidhaus, gelangte das aus Thüringen gelieferte Waid ab dem 14. Jahrhundert über die “Via regia”, “Königsstrasse” – eine durch den Herrscher privilegierte und für Militär und Handel wichtige Verbindungsstrecke. Und als Knotenpunkt auf der hier so genannten Hohen Straße zwischen Leipzig und Breslau breitete sich die aufstrebende Handelsstadt Görlitz aus, von mal mehr, mal weniger gottgefälliger ökonomischer Strebsamkeit vorangetrieben. “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 3 4 ... Hier kreuzte diese West-Ost-Verbindung die Nord-Südstrecke Stettin – Prag. Wohlmeinende sehen in dieser Via regia eine frühe, transkontinentale Kaufmanns- und Pilgerstrecke, deren östlichster Punkt im ukrainischen Kiew und westlichster im spanischen Santiago de Compostela ausgemacht wird. So viel unternehmerische Bewegung rief Raubritter-Instinkte wach: Gegen die zunehmende Zahl von Überfällen adliger Geld- und Wareneintreiber gründete Görlitz gemeinsam mit Lauban, dem heute polnischen Lúban, mit Bautzen, Zittau, Löbau und Kamenz schon 1346 den Sechs-Städte-Bund; ein frühes Handelskartell, das sich auszahlte: Bis in das 16. Jahrhundert hinein dauerte die wirtschaftliche und damit kulturelle Blütezeit der Tuchmacherstadt Görlitz an der Neiße; noch heute künden die Namen “Dreiraden”- und “Vierradenmühle” von den Walkwerken, die das Flusswasser für Gerber, Weber und Färber antrieb. MUSIK 02 z.B. CD “España Antigua”, T:9 “Canarios” (17.Jhr) oder T:15 “Fantasía” Renaissance (16. Jhr) OTONGörlitz02 Das ist das Haus Petersstraße Nummer 7, datiert 1544, eine typische Renaissancefassade. Wir finden als Grundton ein Anthrazitgrau, ... dazu ein gebrochenes Weiß, .... (... Also mehr als Farbigkeit außer der im dunklen Rot noch gehaltenen Jahreszahl ist hier erst mal gar nicht vorhanden.) Und trotzdem ist es eine gegliederte und sehr streng und nach außen hin auch Haltung zeigende Fassade, besser kann man sie sich nicht vorstellen. Sprecherin Frank Heppert, der Spurenleser der Görlitzer Baugeschichte, hat sich nur wenige Schritte vom Waidhaus und der Peterskirche entfernt, und schon reihen sich in der historischen Altstadt die vom Reichtum ihrer Bewohner kündenden Profanbauten aus der Renaissance – inzwischen aufwändig restauriert – wie Perlen aneinander. Er deutet auf unterschiedliche Putzschichten, auf unterschiedliche Fensterhöhen, und setzt sie in Wohngeschichte um: OTONGörlitz03 .... Also nach Stadtbränden und wirtschaftlichen Wandlungen hat wahrscheinlich der eine Hausherr seinen Nachbarn aufgekauft oder hat “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 4 5 das Haus übernommen, ... Also: Strukturen haben sich gewandelt, es wurde eine Eingangshalle entwickelt und natürlich bei dieser Größe des Hauses und der Haustiefe, ... wurde sozusagen im Inneren des Hauses ein spezieller Kern entwickelt, um Licht und Luft in dieses Gebilde zu bringen, nämlich die Treppenhalle, und die Kombination aus Eingangshalle und Treppenhalle führt zu dem Görlitzer Hallenhaus. ... Sprecherin Für viele Denkmalschützer ist Görlitz die Schönste im ganzen Land, nirgends findet sich eine so geschlossen erhaltene Altstadt, nirgends ein so großes Jugendstil- und Gründerzeitviertel drum herum. 3600 Baudenkmäler aus dieser Zeit, aber auch aus Barock, Renaissance und Gotik wetteifern mit ihren größtenteils schon wieder schmucken Fassaden um die touristische Aufmerksamkeit; sie spiegeln mehr als 900 Jahre Stadtgeschichte wider. Kaum kommt man vom Fleck in dieser Stadt. .... dazu Zwischen dem so gern pittoresk genannten steinernen Überfluss an ATMOGörlitz06 Zeitzeugen gleich hinter der graumächtigen Nicolaikirche – sie gilt nun wirklich als das älteste Gotteshaus der Besiedlung “villa Gorélic” [sprich: Goréliz] aus dem 11. Jahrhundert – gleich dahinter also liegt die grüne Oase des alten Nicolaifriedhofs, leicht bergan steigend, übersät mit romantisch-moosbewucherten Grabsteinen, und überdacht von den Blätterkronen uralter Baumriesen. ... steht frei ... ATMO Nicolaifriedhof stereo, Vögel, fernes Stadtrauschen, Blätterrauschen Darüber “Es kann sich ein Mensch vom Mutterleibe an im ganzen Leben seiner Zitator Zeit in dieser Welt nichts fürnehmen, das ihm nützlicher und nötiger sei, dass er sich selbst recht lerne erkennen, was er sei, woraus und von wem, wozu er geschaffen worden und was sein Amt sei.” Sprecherin Jacob Böhme, ein Görlitzer Schuhmacher, geboren 1575, gestorben 1624. Sein Geburtshaus steht drüben am polnischen Ufer der Neiße, klein, leuchtend rot, heute ein Museum. Der Handwerksmeister Böhme versuchte die Schöpfung, wie sie die Bibel lehrt, in Einklang zu bringen mit den neu aufziehenden Erkenntnissen der Wissenschaft; im Umfeld der nachlutherischen Konfessionsstreitigkeiten und Glaubensspaltungen “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 5 6 wetterte der Protestant gegen die “Mauerkirche” und “selbstgemachte Götzen”, was ihm andauernde Streitereien und Händel mit der Obrigkeit einbrachte. Ein Görlitzer mit eigenem sturen Kopf, dafür sind sie berühmt; wer sich mit ihnen über ihre Mentalität unterhält, wird das verschämt-stolze, ganz kleine Lächeln im Mundwinkel ob der solchermaßen gepflegten Sturheit immer wieder wahrnehmen können. Meist aber wird es überdeckt, überdeckt von Sorgenfalten, von einer lange eingeübten Bitterkeit. Historische Altstadtschätze sind etwas Schönes, Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze für die Jungen allerdings schaffen sie nicht. Die Jugend wandert ab, die Arbeitslosenquote ist extrem hoch, Görlitz wird eine zunehmend alte Stadt. Zitator “Lerne erkennen was Du bist und was Deines Amtes sei” ... Sprecherin ... Jacob Böhme scheint seinen Görlitzern eine unlösbare Aufgabe hinterlassen zu haben. Da haben sie den 30 jährigen Krieg überstanden, dann die Herrschaft der Sachsen, und schließlich die der Preußen. 1815 werden sie zu Bewohnern der preußischen Provinz Schlesien – noch heute sehen sie sich als Schlesier, und nicht als Sachsen, zumal die Landeshauptstadt Dresden der ewige Konkurrent ist im Kampf um Hochschulstandorte, um Kulturgelder. MUSIK 03 z.B.: CD Antonin Dvořák “Aus der Neuen Welt” T:1 Adagio – Allegro molto von etwa 2’06” an 30” frei .... Sprecherin Dabei mangelt es ja nicht an Vorbildern, was Bürgerengagement und unternehmerischen Ideenreichtum angeht. Gleich 1830, die erste Eisenbahn ist gerade durch England gerollt, verhilft nämlich wieder mal ein Görlitzer seiner Stadt zum Anschluss an die Zukunft: Christoph Lüders eröffnet die Wagenbauanstalt, später Waggonbau WUMAG, in der DDR das volkseigene “Betriebskombinat Schienenfahrzeugbau”. Im Moment: ein solider Ableger der kanadischen Bombardier Werke. Von ATMOGörlitz07 hier kommen die knallroten Doppelstockzüge, die die Deutsche Bahn im Dazu Regionalverkehr einsetzt. Von hier werden Komplettwagen und Baugruppen nach Israel geliefert, nach Luxemburg, Schweden oder Rumänien. 1200 Menschen arbeiten zur Zeit in dem modernisierten “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 6 7 Werk, Konstruktionsmechaniker, Schlosser, Schweißer, Tischler, Elektriker, Lackierer. Und Ingenieure wie Falk Kühnel, Manager in der Rohbaufertigung und Farbgebung. OTONGörlitz04 Also wenn man jetzt auf großen Bahnhöfen wie in Köln steht und man sieht eben, dass diese Doppelstockfahrzeuge mit Hochgeschwindigkeitszügen des ICEs miteinander dort verkehren, und man blickt dann so auf die Brücke und sagt, das sind also Fahrzeuge, die [Atmo läuft hier in Görlitz am Standort gebaut und gefertigt wurden, das erregt weiter] innerlich doch einen gewissen Stolz. Sprecherin Seit 35 Jahren ist Falk Kühnel dabei, hat die wirtschaftliche Anbindung an die vormaligen Ostblockländer kommen und gehen sehen, und bleibt gelassen optimistisch, was die Zukunft seines Standorts angeht. OTONGörlitz05 Also wir sind die östlichste Stadt, und irgendwo ist eben dieser Teil des Hin- und Hers, ..... dieses Verkehren mit den Anliegerstaaten, oder Anliegerländern, das ist bei uns noch nicht selbstverständlich. .... Es gibt ja hier Strecken, die von Görlitz nach Liberec ((sprich:Lieberetts)) führen, ...und das muss natürlich jetzt in dieser Richtung weiter wachsen. OTONGörlitz06 ...... es ist ja jetzt schon so, dass Görlitz in vieler Hinsicht zentral ist, ja, wenn man es von den großen mittelosteuropäischen Metropolen aus sieht - also wir sind ungefähr gleich weit entfernt von Dresden, von Berlin, von Prag und von Breslau, mittendrin liegt Görlitz also durchaus nicht am Rande des Kosmos; nur wenn man es von Westdeutschland aus sieht, dann ist es natürlich sehr weit im Osten. Aber je stärker diese Region wird, auch wirtschaftlich stärker, umso günstiger wird eigentlich die Lage von Görlitz. Sprecherin Optimismus bringen auch die Zugereisten in Görlitz mit, und sie betrachten die Stadt und ihre Umgebung oft aus einem neuen Blickwinkel. Markus Bauer, geboren in Frankfurt am Main, ist Direktor des neuen Schlesischen Museums, hochfein untergebracht im altstädtischen Schönhof – nur zwei Plätze von der Peterskirche entfernt, seit dem Mittelalter Wohnsitz führender Familiengeschlechter der Stadt, und jetzt aufwändig restauriert. Ein passender Ort für ein Museum, das “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 7 8 die Geschichte der Schlesier als Teil der Geschichte dieser europäischen Region begreift und ausdrücklich KEIN Vertriebenenmuseum sein will. Eine Region mit eigener Kultur, eigenen Traditionen, großer Handwerkskunst und eigenen Dialekten; das Mannheimer Institut für Deutsche Sprache bringt sie in der Dauerausstellung zum Klingen, wie diese Schilderung einer Hochzeit auf Gebirgsschlesisch: ATMOGörlitz08 Ton Ausstellung: Dialekt: Hochzeit Maiwaldau. Gebirgsschlesisch. OTONGörlitz07 ... Es geht um die Vergangenheit Schlesiens....... Aber es geht auch darum, diese Vergangenheit von traditionellen Sichtweisen zu befreien oder neue Perspektiven, neue Sichtweisen hinzuzufügen. ..... ... wie geht man mit der Geschichte dieses Landes um, das heute polnisch ist, das früher überwiegend deutsch war, von Deutschen geprägt war, das ein wichtiges Element natürlich auch der deutschen Nationalgeschichte darstellt, wie schafft man das, tatsächlich so etwas wie eine europäische Geschichtslandschaft zu konstituieren. ATMOGörlitz09 Familie vor Grenzverlaufskarte .... ca. 1'30 darüber: Sprecherin Für Museumsdirektor Markus Bauer gibt es in der schlesischen Geschichte durchaus Traditionen, die auch die Zukunft einer europäischen Region Schlesien mitbestimmen könnten, in deren deutschem Zipfel Görlitz liegt. Angesichts der Utopie eines Europa der Regionen - weniger der Nationalstaaten - verweist er zum Beispiel auf das einst erfolgreiche Nebeneinander von Polen und Deutschen in Oberschlesien. OTONGörlitz08 ... Ich glaube, dass ... Görlitz eine Zukunft hat in vielfacher Hinsicht als ein Tor nach Polen, und das heißt natürlich, ins polnische Schlesien, weil zunächst mal kommt man ja nach Schlesien, wenn man hier von Görlitz aus nach Polen reist. Und an dieser Pforte nach Schlesien da sitzen eben auch wir mit dem Schlesischen Museum, bemühen uns darum, diesen Eindruck mitzubestimmen, den man hat, wenn man von hier aus nach Polen reist, und auch natürlich den Reisenden vorzubereiten auf das, was ihn jenseits der Grenze erwartet. ATMOGörlitz10 Atmo Streetball-Fest in Zgorzelec “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 8 9 NEU darüber Jenseits der Grenze, nur einen kurzen Spaziergang über die Sprecherin Altstadtbrücke entfernt, die gleich unterhalb der Peterskirche liegt, an einem sommerlichen Samstagnachmittag: Die Hauptstraße in Zgorzélec [Sgorjéletz –j wie franz. ‚jamais‘] hat sich in ein Spielfeld verwandelt. Ein Streetball-Wettbewerb für Junge und Junggebliebene zeigt, dass die östliche Schwester von Görlitz nicht mit dem Problem der Überalterung kämpft, mit dem Wegzug junger Leute der Arbeit hinterher; hier tummeln sich Kinder und junge Familien, die mit großen Hoffnungen in die Grenzstadt ziehen, auch wenn sichtbar weniger Millionen in die Sanierung der Gründerzeithäuser fließen als einen Katzensprung weiter auf deutscher Seite. Diese nicht nur geografische Nähe wird inzwischen mit deutsch-polnischen Projekten für Schülerinnen und Schülern gefördert. OTONGörlitz09 ... dieses letzte Mal war über Geschichte von Eltern, von Großeltern hier, ... Was wissen Deutsche und Polen über uns und über Euch zum Beispiel, und was wissen sie über Geschichte nach Zweitem Weltkrieg, woher kommen wir, und weil diese Kinder, oft sie wissen nicht, woher kommen Großeltern oder noch früher. .... ... Und einige sagten, dass sie wohnen in alte Häuser und früher dort wohnten Deutsche. ... wir machten ein Treffen, und wir machten große Karte, und waren Punkte, grüne und rote, woher kommen wir und woher Deutsche zum Beispiel. Und war einige Punkten dass diese Großeltern, deutsche, kommen aus der polnischen Seite, und wir kommen aus Ost. Und Deutsche denken, dass wir sind Ukrainer, oder Weißrussen ... aber wir sind Polen. .... ATMOGörlitz11 Atmo Stadtgeräusche, Gang, Autos. NEU darüber Sprecherin Wanda Struchowska ist Lehrerin in Zgorzelec, schmal, sportlich, mit einem sanft-neugierigen Blick. Der Rundgang mit ihr führt vorbei an den “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 9 10 einträglichen Zigaretten- und Devisenbuden gleich hinter der Grenzbrücke für Autofahrer, vorbei an vormals prachtvollen Stadtvillen, die bis vor kurzem Kindergärten beherbergten, vorbei an Hauseingängen mit ganzen Schilderwäldern, die auf soziale Vereine, Lokalredaktionen und Architekturbüros verweisen, bis die 34jährige auf eine baugeschichtliche Überraschung deutet: OTONGörlitz10 Wir gehen zu dom kultury. .... Dieses Gebäude ist hat schon 100 Jahr. Und das war eine - wie heißt das – Gedenkhalle hier für Kaiser Wilhelm II. Und er war hier. .. Und das ist wie Reichstag, ja, dieses Gebäude. Und dieser Architekt machte Reichstag. ... Das ist Dom Kultury, das ist Kulturhaus hier. ... Sprecherin Ein markanter Punkt, dieser mächtige graubraune Kuppelbau nahe am Grenzfluss. Mit ihm verbinden sich große und kleine Geschichten, zum Beispiel für Rolf Karbaum, parteiloser Ex-Oberbürgermeister von Görlitz, der bei Wanda im Kurs polnisch lernt. Geboren 1940 auf der Ostseite der Neiße. Seit 1944 auf der westlichen Neiße-Seite zuhause – er erlebt die Teilung der Stadt an der Grenze eines geteilten Landes. Erlebt die späten Bomben, von denen nur etwa 35 Görlitzer Häuser getroffen werden. Erlebt in den 50er Jahren, wie Stacheldraht, Wachtürme und Schießbefehl die DDR-Seite von der polnischen Seite trennen. Das ändert sich mit der Jahreswende 1972: OTONGörlitz11 ... ich hab auch ein Foto vom 1.1.72: Mein Sohn liegt im Kinderwagen, es war ein bitterkalter Erster Januar, die Sonne schien, und wir stehen vor dem Dom Kultury, also vor der ehemaligen Ruhmeshalle und haben ein Foto von diesem denkwürdigen Tag gemacht. Das war schon bewegend für uns ... Sprecherin Das Aufatmen und der kleine Grenzverkehr nach dem denkwürdigen Foto vom 1.1.72 währen nur sieben Jahre; dann geht in der DDR-Obrigkeit die Angst um vor dem Solidarnosc-Bazillus, es gibt wieder Schießbefehl, und ein Gang über die Neißebrücke ist fast unmöglich. Jetzt schlendert Rolf Karbaum regelmäßig über die neue Altstadtbrücke, der gezückte Personalausweis wird kaum eines Blickes gewürdigt. Die Enkelkinder sind in einem polnischen Kindergarten, in “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 10 11 dem niemand deutsch spricht. OTONGörlitz12 .... und da mussten sie sich vom ersten Tag ihres Kindergarten-Daseins zurechtfinden, das haben sie glänzend getan, und heute spricht der ältere von beiden, der demnächst fünf wird, perfekt polnisch, jedenfalls sagte mir die Direktorin, dass er nicht zu unterscheiden sei in der Sprache von gleichaltrigen polnischen Kindern, und das ist doch etwas sehr Schönes. ... Sprecherin Die enge Freundschaft mit dem Bürgermeister von Zgorzélec erleichterte Rolf Karbaum in seiner Amtszeit vieles, auch die gemeinsame Bewerbung für die Kulturhauptstadt, grenzübergreifende Absprachen, die gemeinsamen Entwürfe städtebaulicher Projekte wie des Brückenparks, der an beiden Ufern ein verbindendes Kulturterrain werden soll. Die schönen Pläne, die Görlitz und Zgorzélec (Sgorjéletz) eine kultur-europäische Zukunft bescheren sollten, stehen nun auf dem Prüfstand. Wenn es nach dem amtierenden Kulturbürgermeister Ulf Großmann geht, dann werden sie alle umgesetzt, nur vielleicht nicht in solch kurzer Zeit wie vorgesehen. Die Verbindung zur polnischen Seite ist auch ihm eine Herzens- aber auch eine Vernunftsache; zum Beispiel das Koordinationsbüro für Jugendaktivitäten hüben und drüben. OTONGörlitz13 Heute leben eben in dieser Region zwei Nationen, die Polen und die Deutschen, und ne dritte noch dazu, nämlich die Tschechen, die vergessen wir so häufig, wenn wir hier reden, ...und wir gehen auf das Europa der Regionen zu, und da sollen ja die Ländergrenzen nicht mehr die Rolle spielen, aber die Einheit in der Vielfalt, so heißt es ja im Verfassungsentwurf, ist das entscheidende. ...Es soll nun schon jeder sein Spezifikum kulturell, sprachlich und so weiter einbringen; und da sehe ich eine enorme Chance, vor allem, was die, was diese Region dann spannend und interessant macht. Sprecherin Das Prinzip Hoffnung am Rande Deutschlands heißt also Europa. Heißt: Kultur. Heißt: Bildungsstandort. Die Görlitzer Fachhochschule, das Görlitzer Berufsschulzentrum. Die Görlitzer Denkmalakademie. Die inzwischen arg strapazierten Füße des wissbegierigen Görlitz-Flaneurs haben mittlerweile das nahezu perfekt restaurierte, aber irgendwie allzu “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 11 12 stille Gründerzeitviertel erreicht, und ruhen aus vor einem der vielen leeren Schaufenster. Einmal mehr erzählen hier die überall präsenten Aufkleber “Zu vermieten” von den Ladenhütern der Immobilienmakler; gardinenlose Fenster, hinter denen sich auch nicht der Hauch eines Möbelschattens zeigen will, stehen für den drastischen Rückgang der Bevölkerungszahlen. In den 1950er Jahren nach Krieg und Vertreibung waren es 100 000 Einwohner. 1982: 80 000, 2006: knapp 57 000. Aber das Prinzip Hoffnung am Rande Deutschlands und im Herzen Europas hat noch einen anderen Namen: Pensionopolis. MUSIK 04 z.B. CD “Galerie” HR6109559 T:2 “Renoir” Belle Epoque Sprecherin Schon einmal, zur Mitte des 19. Jahrhunderts, verhalfen vornehmlich Berliner Rentner der durch den Eisenbahnanschluss wieder aufstrebenden Stadt am grünen Ufer der Neiße zu einer ihrer Blütezeiten. Sie wussten den geruhsameren Rhythmus, der Zeit für ein Schwätzchen im Laden lässt, zu schätzen. Gründerzeit-Euphorie schwappte über nach Görlitz - diesem Unternehmergeist verdankt Görlitz auch einen ebenso süßen wie zeitlosen Exportschlager. OTONGörlitz14 .... Wenn man die Liebesperle würde durchschneiden, ist ein kleines Zuckerkristall drinnen. wird dann ummantelt, mit einer Drageedecke, wie man sagt. .... Also das heißt, eine große Kugel, also aus dem kleinen Zuckerkristall wird eine Liebesperle. .... und da läuft das mehr oder weniger von dem Zuckerkristall bis zur Fertigstellung cirka 100 Stunden, so lange dauert der Prozess. ... Also hier werden am Tag ungefähr 4000 Kilo Liebesperlen hergestellt, das ist schon viel. .... So eine Anlage, wie wir sie haben, die fährt 20- bis 30Tausend Flaschen ATMOGörlitz12 Liebesperlenproduktion NEU darüber In 22 Länder auf der ganzen Welt werden die kleinen bunten Perlen aus Sprecherin Görlitz geliefert - verpackt in allerlei durchsichtige Formen. Ihr Erfinder Rudolf Hoinkis gründete seinen Drageebetrieb schon 1896 in der damals aufstrebenden Stadt. Heute betreibt Enkel Bernd-Christian Hoinkis “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 12 13 zusammen mit seinem Bruder die Liebesperlen- und Pastillenproduktion neu, zahlt den Firmen-Rückkauf bei der Treuhand ab, beschäftigt insgesamt 150 Leute im ausgebauten Betrieb, will demnächst die Umsatzmarke von 10 Millionen Euro überspringen und versucht, dem vielen Auf und Ab in der Firmengeschichte und damit auch in der eigenen Lebensgeschichte mit der sprichwörtlichen schlesischen Sturheit zu begegnen. OTONGörlitz15 ... wo wir zum ersten mal in solche Handelsketten kamen, da hatte man uns erklärt: Mein lieber guter Hoinkis, das ist alles schön und gut, aber das ist ein sogenannter Kirmesartikel, ihr habt ja da in der Ostzone sicher geschlafen im Tal der Ahnungslosen, und da sind wir manchmal aufgestanden und haben gesagt zu diesen Einkäufern von dieser Kette: Sie müssen sich mal eins merken im Prinzip: der Großvater hat schon Liebesperlen verkauft, ich werde welche verkaufen, und mein Sohn wird auch dann welche noch verkaufen, sage ich, also Kinder wachsen immer nach, ... also wir bewegen uns eigentlich wieder so in die Sache der Nostalgie, dass die älteren Herrschaften sagen: Ach das habe ich auch schon mal vor 40, 50 Jahren gehabt, das tue ich meinem Enkel oder so was wieder kaufen, und fahren eigentlich damit ganz gut, ja. Sprecherin Da sind sie wieder, die als Kunden begehrten Pensionäre. Und sie kommen heute ähnlich wie vor gut 100 Jahren. Sie kommen, wie Uschi Grangé und Peter Wallauer aus Hessen, die seit knapp drei Jahren im Görlitzer Gründerzeitviertel leben. OTONGörlitz16 ...... An Görlitz hat uns gereizt, ... dass hier wunderschöne Bausubstanz erhalten ist, und das hat uns dazu bewogen, hier einen Besuch zu machen und der hat uns sofort überzeugt, und wir haben uns dann gleich entschlossen, unser Alter hier zu verbringen. …. Und diese unmittelbare Nähe zu Polen, das heißt, wir leben ja in einer Stadt, die zu einem Drittel polnisch ist, hat uns auch gereizt im Hinblick auf die Verständigung zwischen Völkern, die ja sehr intensiv sich miteinander gestritten und auseinandergesetzt haben mit sehr Grausamkeiten und sehr viel Nachdruck. Und insofern freut es mich, dass das, was ich als junger “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 13 14 Mensch erlebt habe, hier noch mal in einer anderen Form Leben bekommt und Versöhnung und trotz aller Schwierigkeiten doch eine entscheidende Entwicklung sein wird hier. Sprecherin Rentner und Pensionäre, die Dienstleistungen brauchen, und kleine Geschäfte ---- es könnte schlechtere Perspektiven geben für die Doppelstadt. Auf neue Arbeitsplätze nicht nur in der Gastronomie, sondern auch im weiteren Umfeld von kulturellen und sportlichen Veranstaltungen setzt das Prinzip Hoffnung namens Tourismus : Freilufttheater, Musiktage, die Nähe zum Riesengebirge, die Nähe zu Prag und Wroclaw: das alles sind schon jetzt attraktive Angebote. Viele Einheimische und aus Ost oder West Zugereiste mühen sich hier um Ideen, damit die Stadt überlebt, leisten Kärrnerarbeit, wenn es um das Erschließen von Geldtöpfen geht und glauben an eine Zukunft jenseits der Industriearbeitsplätze. Von denen gingen zuletzt 1997 sechstausend verloren, als der Braunkohletagebau Hagenwerder südlich von Görlitz geschlossen wurde. Jetzt wird die 70 Meter tiefe Grube zum See, und das Gelände darum herum soll mit Strand, Yachthafen, Golfclubs und Wanderwegen eine Touristenattraktion werden. Hans Rainer Baier, 68, hat hier als junger Mann noch Kohle gefördert; er ist gebürtiger Schlesier, Beutesachse, wie er betont. “Rübergekommen”, so nennt er seine Kriegsflucht nach Görlitz. Das Haus seiner Familie auf der polnischen Seite hat er nie wieder sehen wollen, die Heimat sollte in Erinnerung bleiben, wie sie früher war. Trotz leidvoller Grenzerfahrung gibt es für ihn noch einen wichtigen Hoffungsträger: OTONGörlitz17 Ich bild mir ein: die Polen haben ja jetzt eine neue Generation und wir. Und die Jugend ich bild mir ein die tut zusammenwachsen. ... ... hier ist ne Segelsportgruppe, die sind jetzt momentan in Polen drüben, haben die einen See, da kommen Polen und Tschechen hierüber dann... ich will mal sagen, das ist doch eine schöne Ecke hier. ... ENDE “Aufbruch statt Abbruch – Görlitz ist mitten in Europa” v. Dagmar Hase 14