Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Dr. Karl-Heinz Wellmann Wissenswert Stichwort Biodiversität: Ein Plan zur Rettung gefährdeter Haustierrassen Von Yvonne Mabille Donnerstag, 29.05.2008, 08.30 Uhr, hr2-kultur Sprecherin: Dagmar Fulle Sprecher: Helge Heynold, Petra Fehrmann 08-082 COPYRIGHT: Seite 2 Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Musik 1: Ravanhattha Sprecherin: 31. August 2007, Pressekonferenz in Wembach im Odenwald. Hier, eine gute Autostunde von Frankfurt entfernt, hat die „Liga für Hirtenvölker und nachhaltige Viehwirtschaft“ eine Geschäftsstelle. Kreuzblende Atmo 1: Stimmen Hirtenvertreter von weither sind angekommen: Kamelzüchter aus dem nordindischen Rajasthan - zwei Raikas mit leuchtend roten, weit ausladenden Turbanen über den wettergegerbten ruhigen Gesichtern. Sie tragen weiße Hemden und weite Beinkleider aus geschickt geschlungenen weißen Tüchern. Mit ihnen reist Dailibai, eine Tierheilerin - „sicherlich die erste Raikafrau die je ihren Fuß aus Rajasthan herausgesetzt hat,“ sagt die Tierärztin Ilse KöhlerRollefson von der „Liga“. Einblendung 01 Der Sinn der Reise der Raikas ist, dass sie morgen nach Interlaken weiterfahren, wo die erste Konferenz zu den tiergenetischen Ressourcen stattfinden wird. Diese Konferenz ist organisiert von der Welternährungsbehörde in Zusammenarbeit mit der Schweizer Regierung. Bei dieser Konferenz geht es darum, dass sich die Staaten darüber einigen wollen, wie man nun in den nächsten Jahren vorgehen muss, um den Verlust der tiergenetischen Ressourcen zu vermeiden.Tiergenetische Ressourcen – das ist mehr so'n technischer Begriff, aber das bedeutet im Grunde genommen gehören dazu unsere ganzen Haustierrassen. Seite 3 Seite 4 Sprecherin Bei den nordindischen Raikas sind das vor allem Schafe und Kamele. Seit mehr als 1000 Jahren züchten sie die einhöckrigen Dromedare. Seit Generationen ziehen sie mit ihren Tieren durch die Tharwüste, auf der Suche nach guten Weideplätzen. Musik 2 kurz frei Sprecherin Es ist Raika-Glaube, dass Gott Shiva – als er das Kamel erschaffen hatte – dem Volk der Raikas den Auftrag gab, sich um diese Tiere zu kümmern. Davon berichtet auch Tola Ram Bhopas Gesang. Der wendige hagere Mann aus der Musiker-Kaste begleitet sich selbst mit den rauen Klängen seines exotischen Saiteninstruments – der Ravanhattha. Musik weg Sprecherin Die traditionelle Lebensweise der indischen Kamelzüchter ist bedroht. Immer öfter werden ihnen ihre Weideplätze streitig gemacht. So hat Rajasthans Regierung jahrelang die Bauern und den Bewässerungsanbau gefördert. Brunnenbohrungen und Dieselpumpen wurden und werden subventioniert. Schon bald zeigte sich allerdings, dass die trockenen und halbtrockenen Gebiete sich nicht für den Ackerbau eignen. Der Grundwasserspiegel ist völlig abgesunken, die Wüste breitet sich aus. Die Raikas sind inzwischen vor Gericht gezogen, um dort die alten Weiderechte wieder zu erstreiten – erzählt Rama Ram Raika in seiner Sprache, in Marwari. Seite 5 Einblendung 02 Übersetzung:Ohne Weiderechte haben wir keine Zukunft. Wir haben immer Weiderechte gehabt. Und unsere Eltern haben noch große Herden gehabt. Die haben über 500 Schafe gehabt. Wir haben jetzt nur noch 50 oder 100. Und wenn sich die Situation nicht ändert, dann ist unsere Existenzweise bald vorbei. Sprecherin Was der Hirte Rama Ram Raika beklagt, gilt weltweit für einige hundert Millionen Menschen. Es sind Tierhalter ohne eigenes Land. Sie sichern ihren Lebensunterhalt, indem sie ihre Kamele, Schafe oder Ziegen auf abgeernteten Feldern oder auf Gemeindegrund weiden lassen. Oder auf brachliegenden unfruchtbaren Staatsflächen, die nur nach großen Regenfällen ergrünen und Futter bieten. Ohne Zugang zu diesen Weiden müssen die Hirten ihre Herden aufgeben. Das bedeutet oft das Aus für die alten Rassen. Sie gehen verloren. Die jüngste Bedrohung für die Hirten heißt Biodiesel. Indien plant, in großem Stil pflanzlichen Treibstoff aus der Purgiernuss zu gewinnen. Dafür soll diese stark ölhaltige Nuss auf sogenanntem wasteland – auf Niemandsland – angebaut werden, sagt Ilse Köhler-Rollefson. Einblendung 03 Die haben das in Rajasthan in ganz großem Stil vor, die wollen diese wastelands verpachten an Organisationen oder auch an Privatmenschen, damit dann da Biodiesel angebaut werden kann. Sprecherin Und das bedeutet: Kein Platz für Hirten und ihre Tiere. Dailibai, die Tierheilerin, erzählt, dass die Raikas ganz ohne staatlichen Veterinärdienst auskommen müssen. Die kleine energische Frau hat das traditionelle Heilwissen Seite 6 von ihrem Vater gelernt. Den fehlenden staatlichen Veterinärdienst kann sie jedoch nicht ersetzen. Vor allem an Impfstoffen für die Kamele mangele es, sagt sie. Einblendung 04 Marwari Übersetzung:Wir wissen nicht, was wir machen sollen. Uns wird immer gesagt: Hört auf, macht was anderes. Unsere Kinder gehen in die Stadt, um Arbeit zu suchen. Aber sie kommen auch oft zurück und sagen, dass es ihnen nicht gefällt. Sie möchten lieber Tiere halten. Sprecherin Gerade die optimal angepassten Kamele, Rinder, Schafe und auch das Geflügel besitzen Eigenschaften, die aus modernen Züchtungen längst verschwunden sind. Die Lokalrassen reproduzieren sich noch unter extremen klimatischen Bedingungen. Trotz Hitze, Kälte oder Trockenheit geben sie Milch, Fleisch und Wolle. Sie benötigen dafür kein Kraftfutter, wie es die modernen Hochleistungstiere in ihren klimatisierten Ställen bekommen. Die alten Rassen sind widerstandsfähig gegen Parasiten und Krankheitserreger. Das ist angesichts der Klimaerwärmung und neuer Tierseuchen für die Züchtung von unschätzbarem Wert. Darum sucht die Staatengemeinschaft nun nach Wegen, um zu retten, was noch zu retten ist von dem in Jahrhunderten geschaffenen Reichtum an Arten und Rassen. Musik 3 Schweizer Bergbauernchor frei, dann liegenlassen Sprecherin Die erste UN-Konferenz über Haustiere tagte im Herbst 2007 in Interlaken in der Schweiz. Auf der Tagesordnung standen die weltweite Bestandsaufnahme Seite 7 über Haus- und Nutztiere und der Globale Aktionsplan für den Erhalt der tiergenetischen Ressourcen. Die Schweiz nutzte ihre Rolle als Gastgeberin und machte das Thema den 300 Delegierten und Beobachtern auch sinnlich fassbar. Am Rande der FAOKonferenz führte sie vor, was sich alles im uralten Zusammenspiel von Mensch, Tier und Landschaft entwickelt hat – von angepassten Ziegen- und Rinderrassen und der Kulturlandschaft der Berge über ausgesuchte Käse- und Wurstspezialitäten bis hin zum Jodeln – die ursprüngliche Weise der Hirten, ihre Tiere zu rufen. So konnten die Gäste aus aller Welt die ganze Palette agrar-kultureller Produkte genießen. Kreuzblende Atmo 2: Sprecherin Stimmen im Konferenzsaal Im nahegelegenen Konferenzgebäude stand unterdessen der Weltzustandsbericht der Haustiere auf der Tagesordnung. Das Ergebnis der globalen Inventur ist alarmierend. Von den rund 7600 gezählten Haus- und Nutztierrassen kann nur ein gutes Drittel als gesichert gelten. Einblendung 06 In dem Bericht dreht es sich zum erstenmal nicht um ein reines Inventar von tiergenischen Ressourcen, von Tierrassen und deren Populationsgrößen. Sondern es dreht sich auch darum, was die Länder für Möglichkeiten haben, diese Ressourcen zu managen. Wieviele ausgebildete Leute sie haben. Welche Möglichkeiten es gibt, überhaupt eine Ausbildung in dem Bereich zu machen. Wieviel Forschungsinstitute es gibt, an was die genau arbeiten. Wieviele Genbanken es gibt oder eben nicht gibt? Seite 8 Sprecherin Der Bericht fragt auch nach den Ursachen für den rapiden Schwund der Vielfalt. Neben verlorenen Weiderechten gehören akute Bedrohungen wie Dürren, Überschwemmungen, Seuchen und kriegerische Auseinandersetzungen dazu. Als Hauptursache nennt die FAO jedoch die rasche Ausbreitung der industriellen Fleisch- und Milchproduktion auf allen Kontinenten. Hochleistungstiere, die mühelos mitsamt Haltungssystem und Kraftfutter rund um die Welt ausgetauscht werden können, verdrängen die alten Rassen, die unter den bestehenden Bedingungen nicht konkurrenzfähig sind. Zitator Weltweit werden ein Drittel des Schweinefleisches, die Hälfte der Eier und Dreiviertel der Masthähnchen mit immer weniger Hochleistungsrassen erzeugt. Sprecherin Je einheitlicher die Erbanlagen der Tiere sind, umso bedrohlicher sind Krankheiten und Schädlinge. Neue Seuchen können schnell um sich greifen, wie sich zuletzt bei der Vogelgrippe gezeigt hat. Um die Bestände der Massentierhaltung zu schützen, werden auch lokale Rassen aus der sogenannten Hinterhofhaltung ins Visier genommen. Mit gravierenden Folgen, erinnert sich Beate Scherf. Einblendung 08 Wenn die Geflügelgrippe wirklich massiv ausbricht, werden ja die Tiere gekeult, werden die Tiere ganz schnell geschlachtet, um einfach die weitere Ausbreitung zu verhindern. Wenn aber dabei eine ganze Rasse mit geschlachtet wird, dann wird es natürlich kritisch. Seite 9 Sprecherin Seuchen, die an Grenzen nicht halt machen, weltweit gehandelte Tiere und tierische Produkte – bei den tiergenetischen Ressourcen hängen alle Länder von einander ab. Darum hat die Staatengemeinschaft in Interlaken einen Globalen Aktionsplan verabschiedet. Er soll laufend fortgeschrieben werden. Atmo 3 Abstimmung; bleibt liegen Sprecherin Paragraph für Paragraph stimmten die Delegierten die Dokumente ab. Der globale Aktionsplan sieht vor, die Rassen und ihre Eigenschaften genauer zu erforschen, um sie besser nutzen und besser erhalten zu können. Dabei soll der Schwerpunkt auf der Erhaltung „in vivo“ liegen, das heißt im Stall oder auf dem Hof. Ergänzend dazu müssen in vitro-Methoden weiterentwickelt werden – wie das Einfrieren von Samen, Embryonen und Eizellen in flüssigem Stickstoff, die sogenannte Kryokonservierung. Hirten und kleine Tierhalter brauchen gleichwohl mehr politische Unterstützung in ihren Ländern. Bei den Hirten findet sich bis heute die größte Nutztiervielfalt. Um sie auch in Zukunft bewahren zu können, brauchen sie Weideplätze, Zugang zu Veterinärdiensten und Märkten. Atmo 4 Wollsau schmatzt und grunzt; Kuhglocken im Hintergrund – frei und drunter Sprecherin Mit leckeren Apfelstückchen und aufmunterndem „hey, hey“ lockt Philipp Ammann die Wollsau und ihre Ferkel. Ammann ist bei der Organisation „Pro Seite 10 species rara – Für die seltene Art“ für alle Tierprojekte verantwortlich. Die nicht-staatliche Schweizer Organisation hat schon vor 25 Jahren die ersten Projekte gestartet, um dem Verlust der Rassen entgegenzuwirken. Heute setzt sie sich für 26 alte Schweizer Haustierrassen ein, die aus der Landwirtschaft verschwunden und daher vom Aussterben bedroht sind. Ein paar der Raritäten waren in Interlaken zu bewundern. Darunter die Pfauenziege mit dem schwarzen Streifen von den Hörnern über die Augen bis zur Nase und die „Schöne Appenzellerin“, eine Ziege ganz in Weiß. Star der Tierschau war aber zweifellos die Wollsau mit ihrem gelockten Rosshaar. Philipp Ammann. Einblendung 09 Hier geht’s um die tiergenetischen Ressourcen, und das ist ja eigentlich ein ganz schlimmes, scheußliches Wort. Also ich hab das gar nicht gerne. Das sagt ja nichts anderes aus als die Vielfalt der Nutztiere. Dieser technische Begriff, der hier bei der Konferenz, wo es ja um diese internationalen tiergenetischen Ressourcen geht, den haben wir hier jetzt lebendig umgesetzt. Was heißt dieser technische Begriff? Das ist das was wir hier sehen. Dieser ganze Reichtum an verschiedenen Arten und Rassen, diese Farben und Eigenschaften und Hörner und keine Hörner. Und das ist Vielfalt und das möchten wir hier eigentlich zeigen. Sprecherin Gleich neben den Schweinen stand die prächtige Stiefelgeis, stolz gehörnt mit schwarz gestiefelten Beinen. Seitdem diese bedrohte Ziegenrasse sich als Landschaftspflegerin nützlich macht und die Verbuschung der Almwiesen stoppt, ist ihr Fortbestand erst einmal gesichert, sagt Philipp Ammann. Einblendung 10 Seite 11 Wenn ich jetzt hier eben eine Stiefelgeis nehmen kann, die nicht so auf Milchleistung gezüchtet wurde, nicht so einseitig auf Milchleistung, muss man sagen, dann hat die nicht so ein riesengroßes Euter, so groß wie ein Fußball, dass sie kaum mehr gehen kann und verhängt sich dann auch weniger in den Büschen, in den Dornen, hat weniger Verletzungen. Weil sie nicht so extrem viel Milch produziert, hat sie mehr Ressourcen, mehr Energie für ihre Gesundheit, sie ist robuster, sie ist weniger anfällig. Sprecherin ...denn niemand weiß, welche Eigenschaften die Haus- und Nutztiere der Zukunft brauchen, um unsere Ernährung dereinst zu sichern. Seite 12 Einblendung 11 Wir finden, die Lebenderhaltung ist das einzig Richtige. Da haben die Tiere Jahr für Jahr die Möglichkeit, sich zu reproduzieren und auch sich anzupassen an Umweltveränderungen, an neue Anforderungen, die die Tiere haben. Sprecherin Denn es geht ja nicht nur um die Erbanlagen der Tiere. Das ganze Knowhow, wie die Rasse am besten gehalten wird, gehört dazu: Welches Futter, welche Stallhaltung brauchen die Tiere? Wie lassen sich ihre Produkte am besten verarbeiten und vermarkten? All’ das Wissen geht verloren, wenn die Rasse nur im Kühlfach ruht. Bleiben die Tiere jedoch in dem ökologischen und sozialen Umfeld, in dem sie sich entwickelt haben, dann kann das kulturelle Erbe auch auf kommende Generationen übergehen.