Manuskript: Mit 50 Jahren ausgedient?

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Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen
24.Oktober 2005, 19.30 Uhr
Mit 50 Jahren ausgedient?
Über das Potenzial der Älteren
Von Brigitte Schulz
Musik:
Will you still need me, will you still feed me, when I’m 64?
1. O-TonTake: (Ralf Grösche)
0,24
Und dann stand ich vor dem großen Aus, da war ich 51, 52, als das passierte. Das
wirkt so deprimierend, wenn man merkt, 1. man wird nicht mehr gebraucht und 2.
wird man immer gleich abgestempelt als alt und nicht mehr fähig oder nicht mehr
belastbar. Und das ist natürlich eine harte Geschichte, und damit fertig zu werden, ist
nicht einfach.
2. O-TonTake: (Monika Giese)
0,11
Das Durchschnittsalter liegt bei 53, 55. Unsere älteste Kollegin ist 58 Jahre alt, ich
bin das jüngste Küken in dem Team, bin 49.
Musik:
Will you still need me, will you still feed me, when I’m 64?
1
Sprecher vom Dienst:
Mit 50 Jahren ausgedient?
Über das Potenzial der Älteren
Eine Sendung von Brigitte Schulz
Sprecherin:
Kardinal Joseph Ratzinger wurde mit 79 Papst, der amtierende Innenminister Otto
Schily ist 73. Als US-Botschafter William Robert Timken vor kurzem sein Amt in
Berlin antrat, war er 66 – und ohne Berufspraxis in seinem neuen Tätigkeitsfeld.
Während Politiker und Päpste ab 60 als besonders erfahren, seriös und krisenfest
gelten, hält man normal Sterbliche in Deutschland bereits mit 45 für zu alt für einen
neuen Job: So ist fast jeder 3. Langzeitarbeitslose älter als 50.
Und von den 55- bis 64-Jährigen arbeiten nur noch weniger als die Hälfte.
Die meisten Arbeitgeber suchen fast ausschließlich jüngere Leute. Ältere gelten als
unflexibel, nicht belastbar und wenig innovativ. Doch ist das wirklich so?
1. Atmo Zug: Nächste Station: Neuruppin
Sprecherin:
Neuruppin ist eine idyllische Kleinstadt 80 Kilometer entfernt von Berlin. Urlauber aus
ganz Deutschland verbringen ihre Ferien an dem großen Ruppiner See, der sich
entlang des Städtchens zieht. Doch die Idylle trügt: Entspannt sein können hier nur
die Touristen, die Arbeitslosigkeit liegt bei 19 Prozent.
Auch der 55-jährige Ralph Gröschel war länger arbeitslos, seine Biografie ist typisch
für viele in den Neuen Bundesländern. 20 Jahre arbeitete der gelernte Koch als
Wirtschaftsleiter in einem staatlichen Betrieb, doch der wurde gleich nach der Wende
2
geschlossen. Dann machte er sich selbständig und eröffnete ein Restaurant. Das lief
sieben Jahre lang gut, bis er das Haus an die ehemaligen Besitzer aus dem Westen
zurückgeben musste. Doch Ralph Gröschel ließ sich nicht unterkriegen, nun richtete
er Großküchen ein. Eine Arbeit, die er gerne bis zur Rente gemacht hätte, doch die
Firma ging bankrott. Ralph Gröschel machte eine einjährige Weiterbildung zur
Fachkraft für Einkauf und Vertrieb und bewarb sich als Verkäufer:
3. O-TonTake: (Ralph Gröschel)
0,40
Also, das war ganz doll schlimm. Die haben das zwar geschätzt, dass man ne relativ
große Berufserfahrung hat und auch Lebenserfahrung hat und auch mit Leuten
umgehen und verkaufen kann…. Das haben se zwar alle geschätzt, aber immer
unter dem Aspekt oder mit der Angst: Na ja, der ist ja schon ganz schön alt und dann
wird er krank und dann fällt er aus über längere Zeit und na ja - wir brauchen, so wie
das bekannt ist, die jungen dynamischen Leute mit 22 und 30 Jahren
Arbeitserfahrung.
2. Atmo: Nettomarkt: steht kurz allein, dann unter Text ziehen (1,55)
Sprecherin:
Nach 60 Bewerbungen klappte es dann: Ralph Gröschel fand eine feste Stelle beim
Nettomarkt, der vor zweieinhalb Jahren in Neuruppin eröffnet hat. Ein Glücksfall, wie
er selbst sagt, denn Netto stellte nur Mitarbeiter ab 45 ein. Die Idee stammt aus
Dänemark: Weil die dänische Supermarktkette dort kein junges Personal fand, griff
sie auf Ältere zurück - und machte gute Erfahrungen. Die kann Filialleiterin Monika
Giese auch für Neuruppin bestätigen: Sie selbst ist mit 49 die Jüngste, die älteste
Mitarbeiterin ist 58 Jahre alt. Alle kommen aus Neuruppin:
4. O-TonTake: (Monika Giese)
0,16
Unser Krankenstand ist nicht höher oder niedriger wie in anderen Märkten, ob jetzt
jüngere Leute oder ältere Leute. Im Gegenteil, ich denke, unsere sind, weil se
dankbar sind, dass se Arbeit gefunden haben, eher bereit, mit nem Wehwehchen
noch zur Arbeit zu kommen und sich nicht gleich krank schreiben zu lassen.
3
Sprecherin:
Der Krankenstand ist sicherlich auch deshalb niedrig, weil das Arbeitsklima gut ist:
Es wird viel gelacht und wenn jemand Hilfe braucht, kann er sich auf die andern
verlassen:
5. O-TonTake: (Ralph Gröschel)
0,50
Ob das nun arbeitstechnische Sachen sind, dass jetzt irgendwelche schweren
Sachen automatisch von den Männern erledigt werden oder auf Zuruf, wenn gesagt
wird, ich kann nicht oder ich schaff es nicht oder wie auch immer, das ist schon klar.
Aber das ist auch so, dass manche Sachen, die so flexibel entschieden werden
müssen, wenn mal einer sagt: “Du, ich muss heute früh machen, du hast spät,
kannste mit mir tauschen?“ Wo es woanders sicher nicht mit so einer
Selbstverständlichkeit abgeht, weil man eben einschätzen kann, na ja, der hat
wirklich was, der kommt nicht morgens früh aus ner Disko und kann nicht arbeiten,
sondern der hat irgendwo dringend einen Termin und muss eben tauschen. Die
Harmonie oder das Verständnis ist eben ein Großes und das ist es, was ich so sehr
schätze hier.
5. Atmo: Nettomarkt.....steht 15 Sekunden alleine, dann unter Text ziehen (0,29)
Sprecherin:
Die Erfahrungen des Neuruppiner Nettomarktes widerlegen viele Vorurteile gegen
ältere Arbeitnehmer: Die Verkaufszahlen stimmen und ihre Angestellten lernen
genau so schnell wie Jüngere, sagt Filialleiterin Monika Giese. Sie räumt allerdings
ein, dass mancher Handgriff nicht ganz so schnell geht. Da aber die meisten Kunden
älter sind, legen sie auf anderes Wert:
4. Atmo: Nettomarkt
6. O-TonTake: (Kundin)
steht frei (0,14)
0,08
Also, die nehmen sich schon mehr Zeit wie die Jüngeren, nicht so schnell, fix. Aber
ich sehe das nicht als negativ. (Lachen.
4
7. O-TonTake: (Kundin)
0,8
Also ich kaufe hier vor allem gerne ein, weil ältere Verkäuferinnen mehr Ruhe
ausstrahlen als die jüngeren.
8. O-TonTake: (Monika Giese)
0,38
Die bedanken sich oft, die sagen: „Vielen Dank, dass se mir geholfen haben oder
Mundpropaganda, die geht ja auch weiter. Oder wenn man unterwegs so Leute trifft,
dann sagen die auch: “Gestern das fanden se gut, dass die geholfen haben.
Herr Gröschel z.B. - gestern hat ein Kunde ein Fahrrad gekauft, das ist ja nun nicht
so bereit, dass man gleich losradeln kann und dann kam der da draußen hin und
sagt: „Mein Gott, wie komm ich jetzt hier mit dem Fahrrad nach Hause!“ Dann hat er
sich hingestellt, hat Werkzeug rausgeholt und hat ihm das Fahrrad zusammengebaut
und solche Dinge. Und das finde ich sehr schön.
9. O-TonTake: (Ralph Gröschel)
0,30
Die meisten kennt man und dann kann man auch mit denen zwischendurch an der
Kasse nen paar Worte wechseln: „Wie geht’s und was macht die Frau oder sind sie
schon baden gewesen?“
Nun gibt es ja viele, die eben auch alleine sind, die eben drauf warten, dass se mal
angesprochen werden, wenn se auch nur drei Sätze sagen können. Ich hab hier
viele ältere Omas, die vormittags kommen, die fordern mit den Blicken schon - da
musste irgendwas fragen, oft auch nur drei Worte.
5. Atmo: Nettomarkt. Steht frei, Rest unter 1. Satz ziehen
0,18
Sprecherin:
Damit reagiert Netto auch auf einen Trend, der bisher wenig beachtet wird: Die
Bundesbürger ab 60 verfügen mittlerweile über fast ein Drittel der Kaufkraft in
Deutschland, Tendenz steigend.
10. O-TonTake: (Kundin)
0,12
Also, wenn ich ne Mitarbeiterin anspreche, die sind für einen da, die lassend as dann
liegen und gehen mit einem durch. Also ich bin sehr zufrieden, kann ich nur sagen.
11. O-TonTake: Ralph Gröschel
0,11
Der Informationsbedarf ist ja auch so groß, die älteren Leute wollen was wissen, über
irgendwelche Artikel oder irgendwelche Spottangebote, die wir jetzt haben.
5
Sprecherin:
Ralph Gröschel ist groß und kräftig, er hat wache, blaue Augen und wirkt vital und
lebendig. Er möchte arbeiten, solange es geht, am liebsten bis 65.
6. Atmo: Zug
Sprecherin:
Am Stadtrand von Stuttgart: Hier wohnt der 61-jährige Hartmut Henke. Er ist
Maschinenbau-Ingenieur, doch seit 6 Jahren findet er keine Arbeit mehr. Die längste
Zeit seines Lebens war er Entwicklungshelfer in Asien und Afrika. Als er zurückkam,
bewarb er sich bei großen Firmen in Süddeutschland: Bei Mercedes, Bosch und
Porsche. Auch bei mittelständischen Unternehmen stellte er sich vor – doch alles
ohne Erfolg. Ein Grund: Die Branche und vor allem die Technik haben sich
grundlegend geändert:
12. O-TonTake: (Hartmut Henke)
0,26
Wenn man eine länger Zeit weg ist, hat sich in der Zeit, als ich weg war, alles auf
Computer-Designing, also man konstruiert nicht mehr am Reißbrett, sondern man
konstruiert am Bildschirm. Und am Bildschirm konstruieren, ich arbeite nicht so gerne
am Bildschirm, das war für mich nicht so attraktiv.
Sprecherin:
Wer sein Handwerk noch vor dem Computerzeitalter gelernt hat, ist für die meisten
deutsche Betriebe nicht mehr qualifiziert genug: Der Maschinenbau ist heute eine
High-Tech-Branche, die Geräte stecken voller Elektronik und Software. Auch nach
Ansicht des Verbandes deutscher Maschinen- und Anlagenbau ist mangelnde
Qualifizierung auch der Grund, warum in Deutschland derzeit über 60 000 Ingenieure
arbeitslos sind. Etwa 40 Prozent von ihnen sind über 50.
Hartmut Henke nahm an Weiterbildungskursen teil, doch war ihm bald klar: Seine
Bemühungen sind chancenlos:
6
13. O-TonTake: (Hartmut Henke)
0,21
Wenn man über 55 ist, bekommt man keine Einladung mehr.
Man lebt erst mal bescheidener und man bekommt Rente und damit muss man
auskommen, in der Welt müssen Leute mit viel weniger auskommen, da darf man
nicht immer den Wohlstand ganz hoch hängen.
Sprecherin:
Hartmut Henke ging mit 58 in den vorzeitigen Ruhestand – obwohl er lieber weiter
gearbeitet hätte. Dieses Jahr jedoch bewarb er sich wieder: Bei verschiedenen
Hilfsorganisationen, um nach dem Tsunami beim Wiederaufbau in Sri Lanka zu
helfen. Er schien prädestiniert für den Job: Immerhin hatte er in der betroffenen
Region drei Jahre lang gearbeitet und kannte Menschen, Mentalität und Netzwerke.
Auch auf diese Bewerbungen erhielt er keine Antwort. Für ihn war klar: Der Grund
konnte nur sein Alter sein.
Auch wenn die Wirtschaft ihn nicht mehr will, so hat er doch seine Fähigkeiten und
Potenziale, die er einbringen möchte. Deshalb stellte er sich dem Senior-ExpertenService zur Verfügung: Eine Stiftung, die berentete Fachkräfte vor allem ins Ausland
vermittelt. Dort geben sie ihr Know-How ehrenamtlich weiter: an Firmen,
Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen. In Deutschland helfen die SeniorExperten meist beim Aufbau kleiner und mittelständischer Betriebe.
7. Atmo: Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Frankfurt,
Hauptbahnhof. Sie haben Anschluss mit dem Regionalexpress…
Sprecherin:
Nur wenige Kilometer hinter Frankfurt liegt Kronberg: eine Kleinstadt mit
Fachwerkhäusern, alten Kirchen und einem Schloss. In einer Seitengasse befindet
sich die Firma Kohl und Hwang. Das kleine Unternehmen wurde Anfang des Jahres
7
mit Hilfe eines Senior-Experten gegründet. Als Firmenräume hat man die obere
Etage eines 2-Familien-Hauses gemietet:
8. Atmo: (Walter Kohl)
Hier im weiteren Bereich sehen sie unser Wohnzimmer, unsern
Besprechungsbereich. Wir haben hier ein großes Whiteboard, an dem wir unsere
ganzen Projektstatusse verfolgen, hier können wir auch unserer Gespräche
machen...
Sprecherin:
Stolz führt der 42-jährige Geschäftsteilhaber Walter Kohl durch die Räume. Er ist ein
Sohn von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl –eine Tatsache, die er selbst im Gespräch
nicht erwähnt. Kohl und Hwang ist ein Serviceunternehmen: Es vermittelt
Autozubehörfirmen aus Korea an deutsche Firmen, die Automobilhersteller hier mit
Ersatzteilen beliefern. Walter Kohl und seine Geschäftspartnerin Kyung-Sook Hwang
sind die einzigen Festangestellten des kleinen Betriebs.
9. Atmo: Frau Hwang telefoniert auf koreanisch
Sprecherin:
Kyung-Sook Hwang ist in Korea geboren und aufgewachsen. Sie kennt Sitten und
Gebräuche und übernimmt auch den sprachlichen Teil der Verhandlungen mit dem
Land. Der 63-jährige Senior-Experte Horst Peters unterstützt die
Unternehmensgründer, indem er seine langjährigen Erfahrungen als Geschäftsmann
an sie weitergibt:
14. O-TonTake: (Horst Peters)
0,17
Das, was wir gemacht haben in den letzten Monaten war: ich habe mein Know-How,
meine Erfahrungen eingebracht und wir haben gemeinsam Konstruktionen,
8
vertragliche Veränderungen entwickelt, diskutiert und zusammengestrickt muss man
schon sagen aus der Erfahrung heraus, wie man so etwas machen könnte.
15. O-TonTake: (Walter Kohl)
0,39
Wir hatten schon so 1, 2 Momente wo die Fahne Richtung na ja Halbmast hing, wo
man auch, wenn man Unternehmensgründer ist, Zweifel hat: kann man das und
schaffen wir das. Ich erinnere mich schon an 1,2 Mittagessen, das war sehr nett, da
hat er auch in einer, ich sag jetzt mal väterlichen Weise, denn es ist ja auch eine
Generation, auch an Erfahrung, die uns unterscheidet, und das ist genauso wichtig
wie die fachliche Beratung.
Und das schätz ich an ihm: Er ist einfach jemand, der ruhig sachlich auf den Punkt
uns sagt, das ist Quatsch oder das kann man so machen meiner Erfahrung nach und
daran kann man wachsen.
Sprecherin:
Seniorexperte Horst Peters hat 30 Jahre lang für eine große Firma
Hochspannungsschaltanlagen in Asien und Afrika verkauft. Er ist Fachmann für
Export und Projektmanagement. Der Firma Kohl und Hwang hat er vor allem
geholfen, einen Vertrag für die koreanischen Firmen aufzusetzen:
16. O-TonTake: (Walter Kohl/Horst Peters)
Ich müsste Sie jetzt mal fragen: „Wie viele Verhandlungen haben Sie in Asien
geführt??
(Horst Peters)
Ich habe sie nicht gezählt, ich kann nur sagen, dass ich in 62 Ländern der Welt
geschäftlich unterwegs war und ich bin an die 50 Mal in Kairo in Ägypten gewesen,
bin an die 50 Mal in Indonesien gewesen, habe da Verträge verhandelt, bin in
Bangladesh gewesen. Aber das Entscheidende ist, das haben wir ja auch beide
erlebt, wenn man einen Vertragsentwurf von einem deutschen Juristen bekommt, der
sicherlich hervorragend ist, ich glaube wenn ich mich richtig erinnere, der erste
Entwurf waren 12 oder 14 Seiten, die habe ich an einem Sonntag durchgelesen. Da
hab ich gesagt, das unterschreibt kein Mensch in Fernost.
Da kommen die Erfahrungen: Man liest so einen Vertrag durch und sagt, das ist
hoffnungslos, das versteht dort unten gar keiner. Es ist hervorragendes
Juristendeutsch hier in Deutschland, wunderbar ins Englische geschrieben, aber das
versteht dort keiner und das kann man auch keinem erklären.
Sprecherin:
Von den ursprünglich 14 Seiten blieben schließlich noch 7 übrig: Vor allem die
komplizierten Forderungen nach Mehrwert- und Umsatzsteuer strich Horst Peters
9
heraus. Den Vertrag hatte ein Jurist aufgesetzt, doch weitere Fachleute konnte die
junge Firma nicht bezahlen, meint Walter Kohl:
17. O-TonTake: (Walter Kohl)
0,40
Und es gibt die sachliche Beratung, und es gibt die Erfahrungsweitergabe und das ist
ein ganz wichtiges Thema, dass diese Erfahrungen einfach interessensfrei
weitergegeben werden. Der Herr Peters hat an uns keinen Profit, der lebt nicht durch
uns. Der Herr Peters ist eine besondere Form einer persönlichen, interessenfreien
Begleitung, das macht den Charme der Sache aus.
Sprecherin:
Host Peters möchte sein Wissen nicht mehr gegen Geld weitergeben. Mit 60 ging er
in den vorzeitigen Ruhestand. Seine Berufstätigkeit war interessant, aber aufreibend,
die Familie kam oft zu kurz.
18. O-TonTake: (Horst Peters)
0,31
Ich bin jetzt mein eigner Herr, wenn ich wieder selbständig wäre, dann hätte ich
wieder Termine, müsste Termine einhalten, müsste Verhandlungen führen, müsste
mich ums Geschäft kümmern, müsste wider akquirieren, dann wäre ich also in dem
gleichen Stress oder in einem ähnlichen Stress, wie ich das im Berufsleben gewesen
bin. Da bin ich von einem Flugzug zum anderen gehetzt, von einer Verhandlung zur
andern - das wollte ich nicht mehr. Ich wollte meine Freiheit haben.
Ich will meine Kenntnisse und Erfahrungen halt weitergeben an Firmen, an junge
Mitarbeiter, junge Menschen, die die Erfahrung noch nicht haben.
Sprecherin:
Horst Peters verfügt über Erfahrungen, die man durch theoretisches Wissen nicht
ersetzen kann. Er kennt die kulturellen Besonderheiten vieler Länder – eine wichtige
Voraussetzung für geschäftlichen Erfolg. So weiß er, dass man in islamischen
Ländern während des Ramadans in den stundenlangen Verhandlungen nichts
trinken sollte, sogar Wasser ist tabu. Auch, dass man in Asien nie direkt nein sagt, da
sonst der andere das Gesicht verliert. Und er hat erfahren, dass man dort vor allem
ältere Geschäftspartner ernst nimmt:
10
19. O-TonTake: (Horst Peters)
0,44
Wir bekamen vor einigen Jahren einen recht neuen jungen Vorstand, 36 Jahre, und
ich hatte die Aufgabe, mit diesem neuen Vorstand nach Fernost zu fliegen und ihm
also einen Crashkurs im Exportgeschäft zu geben, so nannten wir das
scherzeshalber. Wir kamen nach Indonesien, trafen unseren jahrzehnte langen
erfahrenen indonesischen Vertreter, ich kannte ihn seit Jahren schon, habe mit ihm
gesprochen. Dann war ich kurz am nächsten Tag mit ihm alleine da stieß er mich an
und sagte: „Euer neuer Vorstand, der hat ja noch nicht einmal graue Haare, und mit
dem wollt ihr hier Geschäfte machen!“ Das meinte er todernst, auch wenn es als
Scherz klingt aber der Mann ist dort unten nicht anerkannt worden, obwohl er als
Vorstand präsentiert wurde.
Sprecherin:
Die kleine Firma Kohl und Hwang hat dieses Wissen für sich genutzt: Die schriftliche
Firmenpräsentation für Korea wird auch Horst Peters erwähnt, sein Alter und seine
Erfahrungen. In der deutschen Version dagegen taucht er gar nicht auf:
20. O-TonTake: (Walter Kohl)
0,19
Wenn wir in Asien in der Firmenpräsentation erzählen, dass wir Senior Experten
haben, dann herrscht Stille und Nicken und Zustimmung. Das sind für uns
Verkaufsargumente: Wir haben einen Herrn, der 30 Jahre gearbeitet hat, große
Projekte gemacht hat, das ist eine Ehre für uns, das zu präsentieren.
Sprecherin:
Mittlerweile waren Walter Kohl und Kyung-Sook Hwang in Korea, um die Verträge
abzuschließen. Ihre Zusammenarbeit mit dem Senior-Experten Horst Peters zeigte
Erfolg: Die Koreaner akzeptierten den Vertrag ohne lange Diskussionen, nur einige
Zeilen wurden verändert.
9. Atmo: Nächste Station: Berlin. Unser Zug endet dort, wir bitten alle Fahrgäste
auszusteigen.
11
Sprecherin:
Berlin Mitte, Haus der Wirtschaft. Hier hat der Senior-Experten-Service – kurz SES
genannt - im 4. Stock ein kleines Büro. Es wird geleitet von Helga Warschnauer, 67
Jahre alt und ehemalige Betriebswirtin. Sie vermittelt Senior-Experten aus Berlin und
Brandenburg:
21. O-TonTake: (Frau Warschnauer)
0,32
Der Experte hat einen Auftrag, er wird sich mit dem Auftraggeber unterhalten, und da
muss ein bisschen die Chemie stimmen. Wenn man im Vornherein keinen Draht
zueinander hat, wird das sowieso nichts, weil der Auftraggeber muss ja seine ganzen
Konten und so offen legen, wenn er Hilfe will.
Er muss ja seinen Betrieb darstellen, wenn sich das verändern soll. Er ist sicherlich
auch zeitweilig vor Ort und immer, wenn der Auftraggeber ihn braucht, wird er ihn
anfordern.
Sprecherin:
Die Experten kommen aus allen Branchen, hauptsächlich sind es Betriebswirte und
Techniker. Ihr Ziel: Hilfe zur Selbsthilfe, die Einsätze sind zeitlich begrenzt: In der
Regel 15 Tage im Inland, 3 - 6 Monate im Ausland.
Ein Auftraggeber zahlt im Inland 1500 Euro für die Vermittlung eines Experten, im
Ausland um die 4000. Dazu kommen die Kosten für Reise, Unterkunft, Versicherung
und Verpflegung der Experten, sie erhalten auch ein kleines Taschengeld. 6300
Freiwillige sind momentan registriert, über 1400 waren letztes Jahr im Einsatz.
Über 20 Jahre gibt es den Senior-Experten-Service mittlerweile in Deutschland, sein
Hauptsitz ist Bonn. Den Großteil der Finanzierung übernehmen vier Spitzenverbände
der deutschen Wirtschaft – Verbände, die hauptsächlich die Interessen der
Arbeitgeber vertreten. Und das ist nicht unproblematisch: So edel die Absicht sein
mag, kleinen Unternehmen und öffentlichen Institutionen ehrenamtlich zu helfen –
die Vermittlung von nahezu kostenloser Arbeit bestärkt die Arbeitgeberhaltung, das
Potenzial der Älteren zu entwerten. Denn vor allem für die Jüngeren unter ihnen, wie
12
Ingenieur Hartmut Henke, ist die Mitarbeit beim Senior-Expertenservice auch eine
Notlösung – eine feste Stelle wäre ihnen lieber. Und: Wer einen Senior-Experten
engagiert, spart das Geld für eine Fachkraft und trägt zum Abbau bezahlter Arbeit
bei.
Momentan plant der SES, auch Jüngere in den Jobzentren zu akquirieren.
22. O-TonTake: (Frau Warschnauer)
0,52
Das ist einfach unsere Gesellschaft, die so ist, die sagt na gut, jetzt bist du 55, oder
wir brauchen dich nicht mehr, bist arbeitslos, so ja Pech für dich, dann such dir
irgendwas, da hat der Seniorexpertenservice eigentlich nichts mit zu tun, das sind
zwei völlig verschiedene Dinge und deshalb auch so meine Idee oder meine
Gedanken, son Kontakt aufzunehmen.
Ich meine, jemand, der 58 ist oder so, der findet sowieso keine Arbeit mehr, und
dann ist es für ihn vielleicht noch besser, wenn er so eine ehernamtliche Tätigkeit hat
und vielleicht auch auf diesem Weg irgendwo einen kleinen Vertrag oder vielleicht
auch wieder eine kleine Beschäftigung findet. Ist zwar selten und kann ich mir nicht
vorstellen, aber ja es gibt so viele Sachen auf der Welt.
Sprecherin:
Eine wirkliche Alternative ist der Senior-Experten-Service demnach nur für
Menschen, die freiwillig aus dem Berufsleben ausgeschieden und finanziell gut
gestellt sind. Von ihnen nutzen viele die Gelegenheit, um als Experten ehrenamtlich
im Ausland zu arbeiten.
10. Atmo: (Thomas Engels)
Klingel. „Guten Tag, Frau Schulz. Sie kommen vom DeutschlandRadio, kommen sie
doch rein!
Sprecherin:
Zu Hause bei Thomas Engels, 64 und Augenchirurg. In Kürze wird er mit dem Senior
Experten Service nach China fliegen und dort in einem großen Krankenhaus
arbeiten. Was ihn dazu bewog:
13
23. O-TonTake: (Thomas Engels)
0,29
Sagen wir mal, allgemeines Interesse und Neugier auf die Welt. Ich bin noch nie in
China gewesen, das ist so mehr der touristische Aspekt und der andere Aspekt ist,
dass ich das, was ich mein Leben lang gemacht habe, nämlich Augen operiert,
leidenschaftlich gerne mache und zugegebenermaßen nicht so ohne Weiteres davon
ablassen kann. Und da ergeben sich Möglichkeiten, in diesem speziellen Rahmen
weiter tätig zu sein.
11. Atmo: Vogelgezwitscher
Sprecherin:
Vor zwei Jahren verkaufte Thomas Engels seine Praxis, weil er einen geeigneten
Nachfolger gefunden hatte und er sich den vorzeitigen Ruhestand finanziell leisten
konnte. Er wohnt in einem schönen Haus in Berlin Zehlendorf, der große Garten ist
umgeben von Tannen und Fichten.
Thomas Engels ist immer noch ein gefragter Spezialist, der auch im Ausland viel
Geld verdienen könnte. Doch er arbeitet bewusst ehrenamtlich in Entwicklungs- und
Schwellenländern: auch aus Dankbarkeit, dass es ihm heute materiell so gut geht.
Gelegentlich arbeitet Thomas Engels auch noch in Deutschland: Er vertritt zum
Beispiel Kollegen, wenn dringend jemand gebraucht wird – denn erfahrene
Augenchirurgen sind auch hier rar. Auch nimmt er an Kongressen teil und bildet
Kollegen fort – allerdings nicht ehrenamtlich.
24. O-TonTake: (Thomas Engels)
0,51
Das ist in Deutschland sicher ein Problem und auch mit Recht. Ich weiß zum
Beispiel, dass in unserem Berufsrecht - dem ärztlichen Berufsrecht- die
unentgeltliche Tätigkeit verboten ist. Das gilt als unethisch und da gibt es gute
Argumente dafür, dass das so gehandhabt wird. Und es ist auch nicht so, dass ich in
Deutschland unentgeltlich beratend oder als Trainer oder als kollegialer Assistent
tätig bin, das lasse ich mir durchaus bezahlen.
Eine freundschaftliche ehrenamtliche Beratung ja, aber eine Vertretung in einem
Augen-OP, wo andere Leute auch ihr Geld mit verdienen würden, dann eher nein.
14
Sprecherin:
Thomas Engels hat seine gut laufende Praxis auch verkauft, um den anstrengenden
Berufsalltag hinter sich zu lassen: Von montags bis freitags stand er 12 Stunden im
OP, oft auch am Wochenende. Wenn er heute operiert, arbeitet er anders: vor allem
mit Pausen und nicht mehr so lange:
25. O-TonTake: (Thomas Engels)
0,50
Ich bin ganz sicher, dass ich dem 20 Jahre jüngeren Kollegen, z.B. meinem
Nachfolger gegenüber, im Hintertreffen bin, was die aktuelle Fähigkeit betrifft, sich zu
konzentrieren, von morgens bis abends durchzuarbeiten, also so richtig hart an der
Sache zu bleiben und fast rücksichtslos den Beruf auszuführen. Die körperliche und
vielleicht auch die geistig konzentrierte Leistungsfähigkeit, die lässt nach, das spüre
ich.
Sprecherin:
Doch Thomas Engels spürt auch, dass es heute Bereiche gibt, in denen er besser ist
als vor 20 Jahren: Er hat mehr Gelassenheit und kann seinen Patienten eher die
Angst nehmen. Und in kritischen Situationen während einer Operation ist er
souveräner als früher:
26. O-TonTake: (Thomas Engels)
0,42
Wenn einer seine operative Ausbildung gerade abgeschlossen hat, sagen wir mal, er
hat 5 oder 6 oder auch 10 Jahre Operationserfahrung, dann bedeutet es, er hat 1000
oder 2000 Operationen gemacht und jemand, der 10.000 oder 20.000 gemacht hat,
der hat ja einfach viel mehr erlebt und kann auch auf beginnende Fehlerketten
besser reagieren, weil er sie auch unter Umständen besser und früher erkennt. Er
hat diesen Vorzug, dass er eben ganz viele Sachen schon gesehen hat und weiß
dann aus den vorangegangenen Erfahrungen, wie er sich am besten in so ner
Situation verhält und was er unter Umständen besser auch lässt.
Musik: Musikalisch: Will you still need me, will you still feed me...
Sprecherin:
Fazit: Ältere Menschen haben viele Qualitäten, die Arbeitgeber wirtschaftlich nutzen
könnten. Und bald schon werden sie es tun müssen: Denn der vorzeitige Ruhestand
15
ist ein Auslaufmodell – er belastet die Rentenkassen zu stark. Schon heute gibt es
die Tendenz, dass Arbeitnehmer wieder später in Rente gehen: Im Durchschnitt mit
63 Jahren. Das offizielle Renteneintrittsalter liegt bei 65, doch auch das wird in letzter
Zeit immer öfter in Frage gestellt: So forderte unlängst der Präsident des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung, den regulären Beginn des Ruhestandes so schnell
wie möglich auf 70 Jahre zu erhöhen.
Dies scheint unrealistisch, wenn man bedenkt, dass heute nur noch etwa 40 Prozent
aller 55- bis 64-Jährigen arbeiten. Doch in naher Zukunft könnten ältere
Arbeitnehmer heiß begehrt sein: Glaubt man Prognosen, herrscht schon in 10 Jahren
Arbeitskräftemangel in Deutschland.
Musik: Will you still need me, will you still feed me...
Sprecher vom Dienst
Mit 50 Jahren ausgedient?
Über das Potenzial der Älteren
Eine Sendung von Brigitte Schulz.
Es sprach: Uta Prelle
Ton: Ralf Perz
Regie: Steffi Ruh
Redaktion: Stephan Pape
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2005
16
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