Fangesang

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Hessischer Rundfunk
Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Volker Bernius
WISSENSWERT
Fußballwelten (3)
Heiliger Rasen und Fußballgötter.
Fußball und Religion
Von Mischa Ehrhardt
Samstag, 29.04.2006, 09.25 Uhr, hr2
Wdh. 30.04.2006, 11.35 Uhr, hr-Info
Sprecherin:
Sprecher:
06-052
COPYRIGHT:
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Gottesdienst, Pfarrer Dohm auf Schalke:
So, jetzt nehmen wir mal die Aufteilung vor wie Im Stadion: Nordkurve und
Südkurve. Kennen Sie das – die Südkurve? Südkurve ist immer da, wo die
Wenigsten stehen. [Gelächter] Nordkurve ist da, wo die anderen stehen: Also,
zweiter Vers Südkurve:
Gesang:
Danke für alle guten Freunde,
danke, o Herr, für jedermann,
danke, wenn auch dem größten Feinde
ich verzeihen kann.
Weiter im Hintergrund…
Sprecherin:
Eine Taufe in einem überschaubaren Kreis: 20 Menschen haben sich in der kleinen Kapelle
eingefunden, um einen Menschen in die Gemeinschaft aufzunehmen. Sie singen christliche
Lieder, beten, und sprechen das Vaterunser. Und all das an einem Ort, an dem wohl
die wenigsten eine Kapelle vermuten würden: In der Fußballarena auf Schalke.
Gesang:
Danke für diesen guten Morgen.
Sprecherin:
Noch vor 50 Jahren wäre solch ein Gottesdienst wohl einigermaßen blasphemisch
erschienen – Fußballweltmeister hin oder her. Denn 1954 hat bekanntlich die deutsche
Mannschaft das Wunder von Bern vollbracht. Es war die berühmte Radioreportage von
Herbert Zimmermann, die ihren Teil zu beitragen sollte, dass sich um dieses Fußballspiel
Mythen und Legenden ranken sollten bis heute. Denn Zimmermann sprach in seiner
Live-Reportage zum ersten Mal vom Wunder von Bern. Und wo ein Wunder sich offenbart,
darf – natürlich – auch ein Gott nicht fehlen:
O-Ton Zimmermann:
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Die Verteidiger der Ungarn müssen weit mit aufrücken, jetzt heben sie den Ball
in den deutschen Strafraum hinein, Schuss! Abwehr! Abwehr von Turek – Turek,
Du bist ein Teufelskerl, Turek, Du bist ein Fußballgott. Entschuldigen Sie die
Begeisterung, die Fußball-Laien werden uns für verrückt erklären. Aber bedenken
Sie: es ist heute wirklich Deutschlands Fußballtag! Und ein Schuss – aus drei
Metern abgefeuert – wird von Turek zur Ecke abgewehrt…
Sprecherin:
Wunder und Götter waren ehedem Sachen der Religion und des Glaubens: In Zeichen
und Wundern offenbart sich die göttliche Macht den Menschen, zumindest den
Gottgläubigen. Während die Wunder-Metapher Zimmermanns damals keinen sonderlichen
Anstoß erregte, ging Einigen die Vergötterung des Torhüters Toni Turek dann doch ein
Stück zu weit. Kritik erntete Zimmermann sogar von höchster laizistischer Stelle: Der
damalige Bundespräsident Theodor Heuß schaltete sich mit den Worten ein – “Bei aller
Begeisterung, das geht zu weit!” Herbert Zimmermann musste sich später öffentlich für
diese Wortwahl entschuldigen; ja: es wurde damals sogar diskutiert, ob Zimmermann
überhaupt noch weiter als Sportreporter arbeiten dürfte.
Zwischenmusik: Glocken und Fans
Sprecherin:
Heute betrachtet man die Sache gewöhnlich gelassener: Kein Sportreporter bekommt vom
Bundespräsidenten die rote Karte, wenn er mehr oder minder euphorisch mit religiösen
Metaphern den Fußball garniert. So titelte vor fünf Jahren die Bild-Zeitung vor dem
Champions-League-Finale mit Bayern München: “Fußball-Gott, zieh die Lederhose an”.
Auch weiß die Nation seither, dass die Faust Gottes dem Torhüter Oliver Kahn, dem
Titan, gehöre. Daran allerdings muss selbst der Fußballgläubige Zweifeln; denn es gibt
mindestens noch eine Hand, die Gott gelenkt haben soll: 1986 hatte der Torjäger Diego
Maradonna bei der Weltmeisterschaft in Mexiko Fingerspitzengefühl bewiesen und den Ball
mit der Hand ins gegnerische Tor geschummelt. Der handfertige Maradonna betete kurz
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zum Himmel und verkündete nachher der Weltöffentlichkeit: Es war die Hand Gottes, die
das Spiel entschieden habe. Unzählige Beispiele gibt es, wo Fußballspieler vergöttert
werden, ein glücklicher Sieg als Wunder gepriesen wird oder ein vermeintlicher
Fußball-Gott seine Finger im Spiel haben soll, wenn es um Sieg oder Niederlage einer
Mannschaft geht. Fußball deswegen in die Nähe der Religion zu bringen, ihn als
Ersatzreligion zu sehen oder gar als Religionsersatz geht aber Vielen zu weit. So auch
dem Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau, Peter Steinacker.
Kirchenpräsident Steinacker:
Die Parallelen muss man soziologisch genau sehen – und da würde ich sagen,
Fußball ist religions-Affin. Das heißt, man kann im Fußball viele Dinge erleben,
die religionsnah sind. Und dazu gehören natürlich auch Rituale, bestimmte Gesänge
und Überzeugungen.
Sprecherin:
Die Nähe oder die Analogien zwischen Kirche und Fußball haben dazu geführt, dass
sich in den vergangenen Jahren viele Wissenschaftler dem Thema angenommen haben.
Denn zu Zehntausenden pilgern jedes Wochenende Fußballbegeisterte Fans in die riesigen
Arenen, um ihre Mannschaften anzufeuern. Dabei sind es regelrechte Zeremonien, die
sich jedes Wochenende wiederholen, festgelegte Abläufe – wie die Liturgie während eines
Gottesdienstes in der Kirche:
Kadel:
Die Parallelen sind schon sehr verblüffend: Für mich ist das im Stadion irgendwie
auch wie Kirche. Du hast einen Vorbeter, der den Namen sagt und Du hast die
Gesänge; Du wartest eben auf das erlösende Tor – das ist die Glückseligkeit –:
Du wirst entrückt in andere Sphären, Du bist im siebten Himmel, oder eben, wenn
Dein Verein verliert, dann solltest Du eben nicht nur Deine Fahne verbrennen
sondern Asche auf Dein Haupt schütten. Also es ist sehr viel parallel; ich denke,
dass viele Fußballfans tatsächlich den Sport Fußball oder ihren Verein als eine
Art Religionsersatz sehen.
Sprecherin:
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Sagt David (sprich: deutsch) Kadel. Er ist Journalist und hat ein Buch geschrieben,
das er auch selbst verfilmt hat. Es heißt “Fußballgott – Erlebnisberichte vom heiligen
Rasen”.
Fangesang Pipi Langstrumpf:
Hey Eintracht Frankfurt, falleri, fallera, fallerhopsasa, Hey Eintracht Frankfurt – die
macht was ihr gefällt…
Sprecherin:
Zur Stadioneigenen Liturgie zählen auch die Fangesänge, die die Gemeinschaft der Fans
schmettern, um ihrer Mannschaft den Rücken zu stärken.
Fangesang Pipi Langstrumpf:
Hey Eintracht Frankfurt – die macht was ihr gefällt…
Sprecherin:
In Kirche und Stadion singen die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft. In beiden auf
den ersten Blick so unterschiedlichen Situationen dienen die Gesänge unter anderem dazu,
eine Gemeinschaft herzustellen. Die Fan-Rituale und Gesänge beim Fußballspiel sollen
aber auch etwas bewirken – sie sollen die Mannschaft zum Sieg führen. Und so wenig
der Fan das Spiel unten auf dem Rasen aktiv beeinflussen kann, um desto wichtiger
erscheinen ihm seine Rituale.
Dillmann:
Beim Fußball wird gerne auf Rituale zurückgegriffen, weil das eine typische Sache
ist, die dem Menschen eigen ist: in Situationen, wo er das Geschehen nicht
beeinflussen kann, auf Rituale zurück zu greifen. Es gibt da ein schönes Beispiel,
wo Raketentechniker der NASA beim Raketenstart rhythmisch klatschen und “Go
Atlas, go!” rufen; und sie wissen genau – sie beeinflussen den Raketenstart gar
nicht mehr, aber bei dieser ohnmachts-Erfahrung, wo man nicht unmittelbar auf
ein Geschehen Einfluss nehmen kann, neigt der Mensch dazu, sich alten,
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gewohnten Ritualen hinzugeben, um daraus eine gewisse Sicherheit und Ruhe zu
gewinnen.
Sprecherin:
Erklärt Christian Dillmann, der eine theologische Diplomarbeit über Fußball und Religion
schreibt.
Fangesang:
Und Ihr wollt unsere Hauptstadt sein…
Sprecherin:
“Und ihr wollt unsere Hauptstadt sein” – so skandierten die Eintracht-Frankfurt Fans
gegen die Mannschaft aus Berlin. Gebracht hat das mehr oder minder einstimmige Ritual
nicht sonderlich viel: Das Spiel endete unentschieden. Im Stadion sind es die Anhänger
einer Mannschaft, die mit einer Stimme ihre Mannschaft glorifizieren oder die gegnerische
Mannschaft schlecht singen wollen.
Pfarrer Fischer:
Es gibt für mich viele interessante parallelen zwischen dem, was im Gottesdienst
und dem, was im Stadion passiert: Die Menschen singen mit, sie werden angefeuert
von einem Stadionsprecher und vieles mehr. Aber manchmal ist es sicher gut,
genau hinzuhören, was die Fans da singen; und nicht alles, was da gesungen
wird, entspricht meinem Geschmack.
Sprecherin:
Meint der Pfarrer Hans-Joachim Fischer, Beauftragter der Evangelischen Kirche in
Hessen-Nassau für die Fußballweltmeisterschaft.
Doch nicht nur die Fans in den Stadionkurven feiern während des Spiels. Auch manch
eine Handlung auf dem Spielfeld erinnert an kultische Rituale. Fußballer sprechen mit
zahlreichen Gesten: Sie drücken ihre Opferrolle aus, wenn sie mit ihrem Schicksal auf
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dem Spielfeld hadern: Sei es der Pfiff des Schiedsrichters, der sie ereilt wie eine höhere
Strafe, seien es die hochgezogenen Schultern und das Zeigen der blanken Handflächen
nach dem Motto: Ich, ich bin völlig unschuldig. Oder sie zeigen mit beiden Händen gen
Himmel, wenn Sie das Tor verfehlen – als wollten Sie sagen: Fußballgott, warum hast
Du den Ball vorbeigelenkt. Geht alles gut, strahlen sie in verzückter Ekstase; segeln –
als hätten Sie Engelsflügel – über den heiligen Rasen, bekreuzigen sich oder beten gar
und danken für Tor und Erfolg. Bei der Siegerehrung küssen sie den erkämpften Pokal
als sei er ein heiliges Relikt. So meint der Moraltheologe Hans Küng in einem
Zeitungsinterview:
Zitator
Das Ritual im Stadion zeigt deutlich Parallelen zur Liturgie. Wenn Leute einen Pokal
küssen, erinnert das an das Küssen von Ikonen. Wenn der Pokal hochgehoben
wird, erinnert das an das Zeigen der Monstranz. Aber nicht das einzelne Phänomen
an sich ist entscheidend, sondern die gesamte Stimmung, die dem Einzelnen
suggeriert, das, was er gerade erlebt, sei das Größte.”
Sprecherin:
Das übrigens gilt nicht nur für die Stars in der Arena, sondern auch für die jubelnden
Fans. Denn gestandene Fußballfans richten einen großen Teil ihres Lebens nach den
Zeiten und Wettkämpfen ihrer Mannschaft aus.
Stimmen von Fußballfans:
Ein Mann: Also in unserem Leben, wir sind eine ganze Familie – in unserem Leben
ist der Fußball sehr wichtig.
Ein anderer: Klar, eindeutig!
Eine Frau: Also eine Saison ohne Fußball, das gibt’s bei uns nicht!
Eine andere Frau: Also ich habe eine Dauerkarte und gehe zu jedem Heimspiel
und fahre auch manchmal auf Auswärtsspiele.
Ein Mann: Ich habe eine Dauerkarte und gehe auch immer hier zur Eintracht und
auch oft auf Auswärtsspiele.
Ein anderer Mann: Das ist für mich der Blues, Fußball ist der Blues! Also wir
sind schon seit Jahren dabei und normalerweise leiden wir mit der Eintracht mit;
und im Augenblick freuen wir uns total und genießen jedes Spiel.
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Sprecherin:
Treuen Herzens strömen die Fans alle zwei Wochen in die heimische Arena, ja selbst
bei Auswärtsspielen sind sie dabei. Das verhindert weder das Wetter, noch die aktuelle
Form ihrer Mannschaft – und auch das Geld nicht: ein richtiger Fan nimmt Opfer auf
sich. Was bekommt er als Gegenwert – was treibt die Fans zu Tausenden in die Arenen?
Stimmen von Fußballfans:
Ein heiserer Mann: Ja das ist so eine Euphorie – auf jeden Fall, man hört’s auch
an der Stimme, man fiebert immer mit und versucht, die Mannschaft nach vorne
zu treiben.
Ein anderer: Das ist wie eine Sucht. Es ist einfach genial, dabei zu sein: die
Leute, die Atmosphäre, die Stimmung... Und seit wir das neue Stadion haben
ist es noch viel besser als früher!
Noch ein anderer: Wir freuen uns immer – und ob wir gewinnen oder verlieren:
wir sind einfach immer da.
Und auch eine Frau: Also das ist wirklich so, dass man sich so richtig, ja: irgendwie
abreagieren kann – was man sonst in seinem normalen Leben so nicht tun kann.
Also da kann man auch mal so richtig los schreien und sich freuen und
herumspringen als erwachsene Frau, das macht ganz viel Spaß.
Sprecherin:
Das Stadion als Hort der Emotionen – das ist ein Weiteres Merkmal der Fußballzeremonie.
Hier kann man Fluchen, über Spieler und Schiedsrichter schimpfen und sich den Alltagsfrust
von der Seele schreien.
Stimmen von Fußballfans:
Ein Mann: Es kommt mehr ’raus, als man sich sonst manchmal trauen würde,
das ist richtig. Einmal unheimliche Freude, wenn’s geklappt hat und dann manchmal
Wut, wenn gefault wird… dass man auch Scheiße ruft, was man im Alltag nicht
unbedingt tun würde.
Junge Frau: Ich möchte ein schönes Spiel sehen, und wenn ich das nicht sehe,
dann werde ich schon mal aggressiv, auch wenn ich so nicht aussehe: Dann schreie
ich auch mal böse Wörter.
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Ein Mann: Das ist die Phase, wo man mal anders sein kann: Wo man Emotionen
zeigen kann und nicht vom Kopf gesteuert ist und sich auch mal gehen lassen
kann.
Sprecherin:
Ethnologen haben ähnliche Veranstaltungen so ziemlich bei allen Völkern entdeckt – meist
in Verbindung mit religiösen Ritualen. Einige dieser Rituale glichen bei Naturvölkern
ausschweifenden Festen, bei denen exzessiv Drogen konsumiert wurden und viele der
üblichen gesellschaftlichen Regeln außer Kraft gesetzt waren. Theoretiker wie der Soziologe
Elias Canetti haben sich dem Phänomen der Masse verschrieben. In der Menschenmasse
gelten andere Gesetze als im individuellen Leben. Ja: Canetti meint sogar, dass der
Mensch von Haus aus gar kein soziales Wesen ist sondern erst in der Masse sich zu
einer Art Sozialwesen steigert: Einzig in der Masse, diesem von “Affekten” geleiteten
Gebilde, verliert der Mensch seine Furcht vor der Berührung: Er entlädt sich und kommt
so in einen Zustand, in dem er und alle anderen “ihre Verschiedenheiten loswerden und
sich als gleiche fühlen”
O-Ton Canetti:
Der wichtigste Vorgang, der sich innerhalb der Masse abspielt, ist die Entladung;
– vorher besteht die Masse eigentlich nicht. Die Entladung macht sie erst wirklich
aus. Sie ist der Augenblick, in dem alle, die zu ihr gehören, ihre Verschiedenheiten
loswerden und sich als Gleiche fühlen. In der Entladung werden die Trennungen
abgeworfen und alle fühlen sich gleich. In dieser Dichte, da kaum Platz zwischen
ihnen ist, da Körper sich an Körper presst, ist einer dem anderen so nahe wie
sich selbst. Ungeheuer ist die Erleichterung darüber: Um dieses glücklichen
Augenblickes willen, da keiner mehr, keiner besser als die anderen ist, werden
die Menschen zur Masse.
Sprecherin:
Der Philosoph Jürgen Habermas hat unter dem Eindruck der Terroranschläge nach dem
11. September in einer Rede bei der Verleihung des Friedenspreises in der Frankfurter
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Paulskirche davon gesprochen, dass es vielleicht auch heute noch religiöse Bedürfnisse
gibt, die in der aufgeklärten Welt zu kurz kommen.
O-Ton Habermas:
Als sich Sünde in Schuld umwandelte, ging etwas verloren. Die verlorene Hoffnung
auf Resurektion, Auferstehung, hinterlässt eine spürbare Leere.
Sprecherin:
Eine Leere, die möglicherweise heute kanalisiert wird und zum Beispiel im Stadion ihren
Ausdruck, ihr Ventil findet. So meint auch Kirchenpräsident Steinacker, dass viele
Menschen quasi aus der Kirchen- in die Fangemeinschaft übergewechselt sind:
Kirchenpräsident Steinacker:
Es ist wirklich so, dass viele Menschen, die früher ihre Heimat vielleicht in der
Religion oder der Kirche gefunden hätten, jetzt solche Gemeinschaft im Fußball
finden. Das finde ich natürlich ein bisschen schade, weil ich die Gemeinschaft
in der Religion oder in der Kirche für sehr sinnvoll halte. Ich leite daraus ab,
dass wir die Gemeinschaft, die Menschen im Fußball suchen, dass wir die nicht
bekämpfen, sondern dass wir als Kirche dort mit hineingehen – also ein Teil dieser
Gemeinschaft werden; und dann haben wir die Chance, den Menschen, die sich
dort vergemeinschaften, auch zu zeigen, was schön ist und was lebenswert ist
an der Kirche.
Sprecherin:
Das Problem, dass die Stadien am Wochenende voller sind als die Kirchen existiert aber
nicht erst seit heute. Kurt Tucholsky hat bereits 1930 festgestellt:
Zitator:
Wohin geht die Jugend am Sonntag? In die Kirche? Nein: Auf die Sportplätze.
Die Geistlichen warteten in ihren leeren Kirchen; es kam niemand. Da erhoben
sie die Soutanen und Talare und wandelten ernsten Schrittes hinaus auf die
Sportplätze, und sie lehrten dort das Wort Gottes inmitten der Sprungseile und
der Wurfkugeln. Mohammed war zum Berge gekommen. Das wäre den Herren
früher als eine Ketzerei erschienen; die Kirche hat nachgegeben; sie hat sich
gewandelt, sie ist gewandelt worden.
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Sprecherin:
Das kann auch der Pfarrer Hans Joachim Fischer berichten. Denn der WM-Pfarrer der
Evangelischen Kirche Hessen-Nassau ist Dauerkartenbesitzer der Frankfurter Eintracht –
und nicht der Einzige Geistliche im Stadion:
Pfarrer Fischer:
Ich habe festgestellt, dass wir bei jedem Heimspiel der Eintracht, und mir fallen
da ein Dutzend Namen ein von Kollegen… – ich bin da selbst ganz verblüfft,
wie viele da im Stadion sitzen und die Spiele verfolgen: Für mich ist das ein
wunderschöner Zeitpunkt, so am Wochenende nach Frankfurt zu fahren, sich ein
Spiel anzuschauen, sich zu freuen und manchmal auch sich zu ärgern … also
dieses alles live zu erleben, wo man vorher nicht weiß, wie das Spiel ausgeht.
Sprecherin:
Dass sich die Kirche auch dem Fußball öffnet zeigt ihr Bestreben, bei der
Fußballweltmeisterschaft aktiv mitmischen zu wollen. Die Evangelische Kirche in
Deutschland hat es geschafft mit der Fifa auszuhandeln, dass sie in ihren Gemeinden
alle Spiele der Weltmeisterschaft übertragen darf. Dazu gehört ein großer Wille, denn
die Fifa will normalerweise viel Geld sehen für alles, was auch nur entfernt mit Fußball
zu tun haben könnte. So dürfen die rund 16 Tausend Gemeinden in Deutschland während
der Weltmeisterschaft in geselliger Runde die Spiele der weltbesten Mannschaften
übertragen.
Kadel:
Warum gehen die Leute zu Massen ins Stadion; warum sind sie da eben glücklich
und kommen nach Hause und merken: “Mensch, das hat mir wieder was
gegeben!” – da muss sich die Kirche vielleicht auch fragen, was muss die Kirche
tun, um moderner zu erscheinen. Aber es gibt jetzt auch, was die Fußball-WM
betrifft, ganz gute Ideen von der Kirche. Also zu sagen: Hey komm, wir öffnen
unsere Kirchen und zeigen Fußball über dem Altar auf der Großbildleinwand. Da
sind natürlich ältere Leute ein bisschen pikiert und sagen: “Ja meine Kirche macht
jetzt hier einen auf Fußball, ich trete aus, was soll der Scheiß!” – Aber egal:
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Da ist die Kirche schon auf einem guten Weg, wenn sie eben merkt: Okay, die
Kirchen sind leer, also müssen wir umdenken – müssen ein bisschen peppiger,
ein bisschen frecher werden.
Sprecherin:
Und sie bewegt sich doch – die Kirche. Für die Weltmeisterschaft hat die Evangelische
Kirche in Deutschland sogar eine Broschüre herausgegeben, in der sie Beispiele dafür
gibt, wie ein williger Pfarrer in seiner Gemeinde das Thema Fußball in seine Arbeiten
und Predigten einbauen kann. Und sie hat eigens eine Stelle geschaffen für die
Fußballweltmeisterschaft: Für ein Jahr ist Hans-Joachim Fischer nicht bloß Pfarrer und
Fußballfan, sondern auch WM-Pfarrer. Was sind seine Aufgaben?
Pfarrer Fischer:
Als erstes gehört dazu, dass wir die Gemeinden motivieren wollen, Gottesdienste
zur WM zu feiern – oder im Vorfeld der WM oder mit Konfirmanden und mit Schülern
in der Schule das Thema zu behandeln, Feste zu feiern und vor allem die Spiele
zu übertragen in den Gemeindehäusern.
Sprecherin:
Kommt der WM-Pfarrer als mitfiebernder Fußballfan da nicht in Konflikt mit seiner
Eigenschaft als WM-Seelsorger?
Pfarrer Fischer:
Ich bin oft gefragt worden, ob ich jetzt dafür bete, dass Deutschland Weltmeister
wird. Ich bete dafür, dass es eine tolle Fußballweltmeisterschaft gibt, wo sich die
Menschen friedlich begegnen; und dass der Bessere gewinnen möge. Natürlich
würde ich mich freuen, wenn Deutschland gewinnt. Aber dass ich jetzt sagen würde,
der Gott muss auf der Seite der Deutschen sein, das hieße ja auf der anderen
Seite, es wäre ein Gott, der nicht auf der Seite der anderen teilnehmenden Länder
wäre – und das kann ich mir schlicht nicht vorstellen.
Sprecherin:
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Gott kann eigentlich nicht parteiisch sein. Dem dürfte wohl die meisten Gläubigen aus
allen Weltreligionen zustimmen können. Wahrscheinlich auch jene Fußballer, die
irgendwann auf die Idee kamen, ihr Trikot nach einem Tor hochzureißen um ein T-Shirt
zu offenbaren mit der Aufschrift: Jesus loves you. Denn natürlich sind Fußballer trotz
aller Schlagzeilen über Fußballgötter zunächst keine Götter, sondern Menschen. Und viele
von ihnen glauben daher an ganz gewöhnliche Götter, wie man sie aus den heiligen
Schriften kennen mag. So bekennen die Fußballprofis Cacau und Marcelo Bordon:
Cacau und Bordon:
Cacau: Ich weiß, dass Gott mich liebt, auch wenn ich eine rote Karte bekomme
oder auch wenn ich eine Fehler mache: Er liebt mich!
Bordon: Der Gott hat zu mir gesagt: Jetzt weißt Du, dass ich noch lebe… So
etwas kannst Du nicht kaufen! Ein Kollege hat zu mir gesagt, “Bordon: weißt
Du, wie groß Dein Herz ist?” Und ich sage, “nein, so groß wie eine Hand
wahrscheinlich”. Und er hat gesagt: “Nein! Dein Herz ist groß wie Gott. Weißt
Du warum? Nur Gott kann Dein Herz voll machen”.
Sprecherin:
Die meisten dieser gläubigen Stars sind erst recht spät zu ihrem Glauben gelangt. Und
bei vielen war der Grund, dass Ihnen Ihre Karriere irgendwann als sinnlos erschien oder
ein einschneidendes Erlebnis ihr Leben veränderte – wie beim Profi Torhüter Dirk Heinen:
Heinen:
Es war halt so, dass plötzlich ein riesiges Problem da war – dass nämlich meine
Schwester gestorben war. Für mich war das ein absoluter Knall. Ich war ja bis
zu diesem Zeitpunkt nur darauf fixiert, immer Fußballprofi zu werden, immer Gas
zu geben; und plötzlich ist meine Schwester gestorben, an Krebs; und ich war
zu dem Zeitpunkt gerade 23 und fragte mich, was ist denn jetzt? Und da habe
ich mir dann zum ersten Mal meine Gedanken gemacht, meine Scheuklappen sind
ein bisschen weiter auf gegangen, und dann habe ich mehrere Menschen kennen
gelernt, die mir von Gott erzählt haben.
Sprecherin:
Im Hintergrund: Gesang der Messe
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In dem Film “Fußballgott” von David Kadel erzählen Profi-Kicker von ihrem Glauben
– und manche singen auch Messen, wie der deutsche Nationalspieler Gerald Asamoah:
Asamoah:
Dieser Glaube an Gott, der hat uns stark gemacht. Denn es steht ja auch in
der Bibel, wenn Du keinen Ausweg mehr hast, dann sollst Du dich an ihn wenden:
Klopf an, und er macht die Tür für Dich auf. Deswegen ist der Glaube in mir
stärker geworden jeden Tag. Ich bete einfach, und wenn ich Zeit habe, dann gehe
ich auch in die Kirche.
Sprecherin:
Auf Schalke hat es mit Fußball und Religion eine besondere Bewandnis. Denn in
Gelsenkirchen sind wohl die meisten Einwohner Schalke-Fans. Und viele davon sagen
einfach, kurz und bündig: Schalke ist Religion! Und an Spielfreien Tagen können sie
auch in die Kirche pilgern – und zwar in ihrem Stadion.
Zwischenmusik: Glocken und Fangesänge
Es ist ein kalter Samstag, die Straßenbahn vom Hauptbahnhof holpert in Richtung Stadion.
An den Häuserzeilen hängt manch eine Fan-Flagge heraus: SG-Schalke 04 in Weiß-Blau
gehalten. Doch an diesem Tag spielt die Mannschaft nicht, deren Fans meinen, sie sei
ihre Religion. An diesem Tag findet in der Arena auf Schalke eine Taufe statt: An der
Arena steigen nur wenige aus – und sie gehen zielstrebig auf die Arena zu. An den
Kassen sitzt niemand, nur ein Durchgang ist überhaupt geöffnet. Im Inneren der monströs
sich gegen den Himmel abzeichnenden Arena steht neben dem Glaskasten der Pförtnerin
eine kleine Gruppe. Die Menschen unterhalten sich gedämpft, tragen Anzüge, Krawatten
oder ein Kleid.
Im Hintergrund: Gottesdienst Gesang: Danke
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Sprecherin:
Dann kommt Pfarrer Dom. Er geht auf die Gruppe zu, ist bekannt, begrüßt ein paar
Leute und meint: Auf geht’s. Auf einer Rolltreppe in blau gehalten geht es hinunter,
die Gruppe folgt dem Pfarrer. 10 Minuten später singt die Gemeinde:
Gesang: Danke
Sprecherin:
Schalke in Gelsenkirchen ist die erste der neuen Fußballarenen, die eine Kapelle in sich
trägt. Hier wird Gottesdienst geübt, meist für Taufen und Hochzeiten. Heute ist es die
kleine Jandra, die in der Kapelle der Arena in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen
wird.
Pfarrer Dohm:
Jandra, ich Taufe Dich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen
Geistes. Und das soll Dein Taufspruch sein: Alle Eure Sorge werft auf Ihn, denn
Er sorgt für Euch. Nimm hin das Zeichen des Kreuzes an Stirn und Brust, darum,
dass Du erlöst wirst durch Deinen Herrn Jesus Christus, Amen.
Sprecherin:
Hier drängt sich die Analogie zwischen der Fangemeinde und der Religionsgemeinschaft
förmlich auf: Wie das Trikot oder die Farben des Vereins die Gemeinschaft der Fans
äußerlich ausmachen, so ist es hier das Kleid Jesu, das die Kleine Jandra sinnbildlich
übergestreift bekommt. Und es ist festlich dieses Kleid, wie mit einem Hochzeitskleid liegt
die kleine in den Armen der Mutter – Vereinsfarben sind in der kleinen schlichten Kapelle
unerwünscht:
Pfarrer Rücker:
Auch da haben wir eine Trennlinie gezogen, um ein gewisses Maß an Abgrenzung
mit einzubauen. Von Anfang an haben wir gesagt: wenn die Kapelle kommt, dann
soll die Kleidung sein wie in jeder anderen Kirche auch – also ohne Schal und
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ohne Trikot, um wirklich die Trennung zu haben: Jetzt ist hier Raum für den
Gottesdienst; und ein paar Meter weiter in der Arena ist dann der Raum für den
Sport und für Schalke 04.
Sprecherin:
So der für die katholische Pfarrer für die Schalke-Kapelle, Georg Rücker. Doch bei aller
Trennung spricht der evangelische Schalke-Pfarrer Dohm während des Gottesdienstes die
Anwesenden oft in der Sprache des Fußball an. Auch Dohm sieht einige Parallelen
zwischen den Ritualen der Fußballfans und denen in der Kirche:
Pfarrer Dohm:
Wenn Sie so wollen, treffen sich die Fans, die aus verschiedenen Zügen und
Richtungen kommen am Hauptbahnhof; bilden zusammen so etwas wie eine
Prozession, singen gemeinsam auf dem Wege ihre Fangesänge, – das finden Sie
im äußeren Bild auch in der Kirche. Sie finden, wenn wir da meinetwegen von
der Stadion-Liturgie sprechen, auch, dass gemeinsam gesungen wird –
Wechselgesang Nordkurve-Südkurve…
Sprecherin:
- was liegt da also näher, als die Fußballfans der Taufgemeinschaft auf die ihnen bekannte
Art zum Singen zu motivieren – wie im Stadion, so in der Kapelle der Fußballarena
auf Schalke:
Gottesdienst auf Schalke, Pfarrer Dohm:
So jetzt singen wir – und jetzt die Südkurve alleine:
Gesang:
Danke, Dein Heil kennt keine Schranken,
Danke, ich halt mich fest daran.
Danke, ach Herr ich will Dir danken,
dass ich danken kann.
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