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Eines der kostbarsten Stücke, die in der Hamburger Kunsthalle zu finden sind,
ist der Grabower Altar des Meister Bertram. Eigentlich sollte er ein paar
Häuser weiter in der Hauptkirche St. Petri stehen; dafür jedenfalls hat der aus
Minden stammende Maler ihn gegen Ende des 14. Jahrhunderts gemacht. Die
ersten Tafeln zeigen Bilder der Schöpfung. Sonne, Mond und Gestirne gehen
aus der Hand des nah wirkenden Gottes hervor, der damit begonnen hat,
Ordnung gegen das Chaos zu setzen. Der Garten des Paradieses, in dem sich
die Tiere tummeln, ist am Mittag des sechsten Schöpfungstages noch
menschenleer. Sanfte, verspielte Kreaturen sind über das Bild verteilt. Aber
nein, das ist gar nicht wahr. Im Wasser eines Flusses sperrt ein Raubfisch sein
Maul gefährlich auf, und gegenüber sehen wir einen Wolf, der ein Lamm blutig
beißt. “Die Tiere morden einander, bevor Adam und Eva im Sündenfall
schuldig geworden sind” (Chr. Beutler). Hat der Maler etwas durcheinander
gebracht? Noch gibt es doch das Böse nicht, nicht die Gewalt, nicht den
Triumph des Täters über das unschuldige Opfer. Meister Bertram hat etwas
vorweggenommen, was nach fester Überzeugung der Theologen auch seiner
Zeit erst durch das Vergehen des ersten Menschenpaares in die Welt kam: die
Sünde. Er hat in das Paradies verlegt, was die biblische Erzählung erst im
Vorlauf zur Geschichte der Großen Flut konstatiert:
Sprecherin:
“Aber die Erde war verderbt vor Gottes Augen und voller Frevel. Da sah Gott
auf die Erde, und siehe, sie war verderbt; denn alles Fleisch hatte seinen Weg
verderbt auf Erden.” (Genesis 6,11-12)
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Verderbt ist ein starkes Wort, eine Steigerung von verdorben. Es ist
ausdrücklich auf alles Fleisch bezogen, auf alles Lebendige also, nicht nur auf
die Menschen. Wenn Meister Bertram mordlustige Tiere in das Paradies malt,
dann sagt er: Die Gewalt (Luther übersetzt: der Frevel) ist in der Welt von
Anfang an. Der Altarmaler ist entschiedener, konsequenter, ja radikaler als die
Theologen, die im 4. Jahrhundert anfingen, eine Lehre von der Erbsünde zu
entwickeln. Der Künstler – so stelle ich es mir vor – sieht sich um und stellt
fest: Ich kenne keine andere Welt als die, in der die Gewalt eine Rolle spielt,
und ich kann mir eine Welt ohne Gewalt nicht vorstellen, wenigstens nicht am
Anfang der Zeit – vielleicht wird sie am Ende verwandelt sein. Ich weiß nichts
anderes, als daß überall dort, wo sich Leben regt, auch das Verderben mit
heranwächst – genau so, wie auch die Disteln aus der Erde schießen, wenn der
Weizen wächst.
Die Theologen, die von der Erbsünde lehrten, hatten dabei nicht die ganze
Schöpfung im Sinn; ihnen ging es um den Menschen. Genauer: um den
Menschen im Gegenüber zu Gott. Hören wir uns an, wie sie vom Sündenfall
sprachen. Fulgentius von Ruspe in seiner “Regel des wahren Glaubens”, erste
Hälfte des 16. Jahrhunderts:
Sprecherin:
“Mit festem, unerschütterlichen Glauben halte daran fest, daß die ersten
Menschen, Adam und sein Weib, bei ihrer Erschaffung gut und recht und
sündenlos waren, ausgestattet mit freiem Willen, mit dem sie nach ihrer Wahl
Gott mit demütigem und gutem Willen dienen und gehorchen, mit dem sie aber
auch nach ihrer Willensentscheidung freiwillig sündigen konnten. Durch ihre
Sünde wurde die menschliche Natur so sehr verschlechtert, daß der Tod nicht
nur über die ersten Menschen Herrschaft gewann, sondern die Herrschaft des
Todes und der Sünde auch auf alle Menschen überging.”
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Eine Stimme wie diese wird – mit unterschiedlichen Nuancen, aber im Sinn
übereinstimmend – durch die Jahrhunderte wieder und wieder zu hören sein.
So daß man den Eindruck hat: Hier geht es nicht um etwas Beiläufiges, es geht
um ganz Zentrales in der christlichen Lehre. Und warum ist die Rede von der
Erbsünde, vom peccatum originale oder hereditarium, so wichtig? Nun, zum
einen soll Gott von jedem Verdacht befreit werden, ihm sei sozusagen ein Fehler unterlaufen, als er die Schöpfung entwarf und ins Werk setzte. An ihm liegt
es nicht, sagen die Theologen. Heißt es nicht in der Schrift:
Sprecherin:
“Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut”?
(Genesis 1,31)
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Nein, nicht am Schöpfer liegt es, sondern an den menschlichen Geschöpfen.
Gott ist ohne Fehler. Augustinus, der höchst einflußreiche Kirchenlehrer, hat es
im 5. Jahrhundert klar formuliert:
Sprecherin:
“Gott hat den Menschen gut erschaffen, er, der Urheber der Naturen, doch
nicht der Gebrechen. Aber durch eigene Schuld verderbt und gerechterweise
verdammt, hat der Mensch Verderbte und Verdammte erzeugt.” (Gottesstaat
13,12-15)
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Das aber bedeutet, auf die Menschen bezogen: Sie sind fehlerhaft von Anfang
an – oder fast von Anfang an, als sie sich – aus freien Stücken! – entschlossen,
gegen das ausdrückliche Verbot Gottes zu verstoßen, und von den Früchten am
Baum der Erkenntnis aßen. Seit diese Urschuld begangen wurde, sind die
Menschen zu nichts mehr fähig, was den Namen gut verdienen würde: Alles
Schlechte kommt von ihnen. Das aber bedeutet zugleich: Von den Menschen
ist eine Besserung der Verhältnisse oder gar eine Befreiung von der Macht des
Bösen nicht zu erwarten. Nur Gott selbst kann gut machen, was die Menschen
im Gefolge des Urvaters Adam verderben. Es ist schwer, den Verdacht zu
widerlegen, daß Gott in dieser Figur auf Kosten der Menschen groß gemacht
wird. Und es ist schwer, sich vorzustellen, daß in der Sphäre dieses
anthropologischen Pessimismus eine aufgeklärte Zuversicht heranwachsen
könnte, die sagt: Zwar sind wir Menschen bei weitem nicht allmächtig, aber
wir sind – gerade dem Bösen gegenüber! – auch nicht ohnmächtig.
Etwas anderes kommt hinzu. Die Rede von der Erbsünde wurde gebraucht, um
die Notwendigkeit der Kindertaufe zu begründen. Die nämlich war immer
wieder umstritten. Darf man denn unmündige und ihrer selbst nicht bewußte
Menschenkinder taufen? Man darf nicht nur, sondern man muß, antworteten
die Kirchenlehrer. Auch an dieser Stelle fordert der schon zitierte Fulgentius
einen felsenfesten, unerschütterlichen Glauben:
Sprecherin:
“Nicht nur die Menschen, die schon den Gebrauch der Vernunft erlangt haben,
sondern auch die Kinder, die im Mutterschoß … starben oder die nach der
Geburt ohne das Sakrament der Taufe, das im Namen des Vaters und des
Sohnes und des Heiligen Geistes gespendet wird, aus diesem Leben
hinübergehen, werden mit der Strafe des ewigen Feuers bestraft. Denn wenn
sie auch keine persönliche Sünde begangen haben, so haben sie sich doch
durch die fleischliche Empfängnis und Geburt die Verdammung der Erbsünde
zugezogen.”
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Die Rede von der Erbsünde ist ein Herrschaftsinstrument, das wird hier
deutlich. Das macht sie mehr als verdächtig. Und noch ein anderer Einwand
drängt sich auf. Ein Doppeleinwand sogar. Ein Erbe kann man ausschlagen;
mit diesem Erbe geht das nicht. Und gerade darum: Wieso soll etwas mir
persönlich schuldhaft angerechnet werden, wofür ich gar nichts kann? Aus
diesen Gründen haben in späteren Jahrhunderten andere Theologen immer
wieder gefordert, den Begriff aus dem Arsenal der Kirchensprache zu
streichen. Paul Tillich gehört zu ihnen. Und auch Karl Barth wollte von dem
Wort Erbsünde nichts wissen. Obwohl er inhaltlich gar nicht so weit entfernt
ist von den alten Kirchenlehrern:
Sprecherin:
“Die Sünde ist in der Welt … als eine immer und überall gleichartig
vorausgesetzte Bestimmtheit der menschlichen Ereignisse und Zustände. Die
Sünde ist das spezifische Gewicht der menschlichen Natur als solcher. Sünde
ist nicht ein Fall, oder eine Reihe von Fällen im Leben des Menschen, sondern
der Fall, der mit seinem Leben als Mensch schon geschehen ist.” (Der
Römerbrief, 2. Auflage 1921, S. 151)
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Karl Barth hat allerdings überhaupt nichts im Sinn mit einem mechanistischen
Verständnis von Erbsünde. Nichts damit, daß der böse Trieb im Zeugungsakt
von einer Generation an die nächste weitergegeben würde. Diese Mechanik
sollten wir einen Augenblick betrachten. Sie wird abgeleitet aus der biblischen
Geschichte vom Sündenfall. Dort heißt es ja von den Früchten am Baum der
Erkenntnis, die seien eine Lust für die Augen und verlockend. Diese
Bemerkung läßt sich mühelos als eine erotisch-sexuelle Anspielung deuten,
und vielleicht ist sie ja auch von Anfang an so gemeint. So kommt es, daß die
Verführung, die von der Schlange ausgeht, als die Verführung zur sexuellen
Lust verstanden wurde. Die Begierde, die Konkupiszenz, ist nun die Sünde
schlechthin. Sie muß unterdrückt werden, und zugleich weiß man immer
schon, daß sie nicht unterdrückt werden kann. Nichts ist so unwiderstehlich
wie die Verführung zur Begierde, wenn sie unter allen Sünden die höchste ist.
Wer Erlösung bringen will, darf selbst der Mechanik nicht unterworfen sein,
mit der die Sünde vererbt wird. Also ist es notwendig, daß der Erlöser –
Christus – ohne Zutun eines Mannes gezeugt wird. Nach Matthäus sagt ein
Engel zu Josef, der eben nicht der Vater ist:
Sprecherin:
“Was Maria, deine Frau, empfangen hat, das ist von dem heiligen Geist.”
(Matthäus 1,20)
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Aber das ist erst die Hälfte der Lösung. Damit der Erlöser wirklich “ohne
Sünde” sein kann, ist es notwendig, daß schon seine Mutter, Maria, aus dem
Kreislauf der Erbsünde herausgenommen ist. Dies genau ist der Sinn des
Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens, das übrigens erst im Jahre
1854 von Papst Pius IX. verkündet wurde. Die fromme Sprache bekommt
etwas Schwebend-Unbestimmtes, wenn sie sich anschickt, das Geheimnis
dieser Ausnahme zu beschreiben:
Sprecherin:
“Letztlich drückt das katholische Dogma eine sehr alte christliche
Überzeugung aus, wonach Maria von Anbeginn ihrer Existenz an, gleichsam
vor aller Zeit, dazu auserwählt wurde, den Erlöser der Welt zu gebären. Dazu
brauchte sie nach katholischer Auffassung eine besondere Gnade: Sie blieb bei
ihrer Empfängnis, also von Mutterleib an, vor der Erbsünde bewahrt. Wichtig
dabei ist: Erbsünde bedeutet keine persönliche Schuld, sondern beschreibt die
Unheilssituation der gesamten Menschheit, von der Maria wunderbarerweise
ausgenommen wurde.” (Silvia Becker in: NOV Nr. 49 vom 08.12.2002, S. 5)
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Auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt ist: An der Erbsünde führt kein Weg
vorbei, es sei denn, man wäre nicht auf die dafür vorgesehene Weise ins Leben
gerufen worden, unter Vermeidung der Konkupiszenz, der sexuellen Lust. Paul
Tillich allerdings, der schon einmal Genannte, definiert diesen Begriff so
anders, daß man wieder neugierig werden könnte. Tillich in seiner
Systematischen Theologie, entstanden während der 50er Jahre des 20.
Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten:
Sprecherin:
“Alle Akte, in denen sich der Mensch existentiell bejaht, haben zwei Seiten:
Die eine Seite ist der Drang des Menschen, sein Zentrum vom göttlichen
Zentrum zu entfernen (Unglaube), die andere, sich selbst zum Zentrum seines
Selbst und seiner Welt zu machen (hybris). Dabei erhebt sich die Frage, warum
der Mensch versucht ist, in sich selbst das Zentrum zu suchen. Die Antwort
darauf lautet: weil es ihm die Möglichkeit gibt, die ganze Welt in sich
hineinzuziehen … Jeder einzelne hat, weil er geschieden ist vom Ganzen, den
Wunsch, mit dem Ganzen wiedervereinigt zu werden … Der klassische Name
für diesen Wunsch ist ‚Konkupiszenz‘ – die unbegrenzte Sehnsucht, das Ganze
der Wirklichkeit dem eigenen Selbst einzuverleiben.”
Autor:
An diesen Sätzen fällt zunächst auf, daß sie keine Verurteilung des Menschen
enthalten. Die Rede ist nicht von der menschlichen Verderbtheit, sondern von
den Akten, in denen sich der Mensch existentiell bejaht. Von den Momenten
also, in denen er zu sich kommt und sich wahrnimmt in seinen positiven
Möglichkeiten. Gerade dann, meint Tillich, neigt er dazu, sich von Gott zu
entfernen und sich selbst zur Mitte der Welt zu machen. Das ist eine deutliche
Anspielung an die biblische Geschichte vom Sündenfall. Tillich scheint sie
nicht so sehr als Dokument einer Ursünde zu lesen denn als Symbolgeschichte
für eine tragische Notwendigkeit: Der Mensch muß aus der Einheit mit Gott
heraustreten, wenn er zu sich selbst kommen will. Genau so kann der biblische
Mythos verstanden werden:
Sprecherin:
Gott formt den adám aus Erde und beseelt den Hohlkörper mit seinem, Gottes,
eigenen Atem. Er vertraut ihm alles an, beauftragt ihn, den Tieren im Garten
Namen zu geben, und erklärt: Alles steht zu deiner Verfügung – außer den
Früchten eines Baumes. Dieser hier ist es. Es ist der Baum der Erkenntnis des
Guten und Bösen. Wenn du davon ißt, mußt du sterben.
Autor:
Es ist wie im Märchen vom Ritter Blaubart. Alle Räume seiner Burg darf seine
junge Frau betreten, nur einen einzigen nicht. Seit er ihr das eingeschärft hat,
ist sie nur an einem einzigen Raum interessiert, an diesem verbotenen. Das
Verbot, sobald es ausgesprochen ist, provoziert, ja erzwingt seine Übertretung.
Gott, der den gerade erst zum Leben erweckten Erdling vor dem Baum der
Erkenntnis warnt, ist entweder ein Sadist – oder er gibt ihm zu verstehen, daß
er nur eine einzige Wahl hat: gegen Gott er selbst zu werden. Oder: mit der
Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden, in die Freiheit zu treten –
aber auch eine Verantwortung zu übernehmen, die er in Wahrheit nicht wird
tragen können. Er wird essen, und er wird schuldig werden. Immer wieder
werden die Früchte am Baum der Erkenntnis seine Augen und seine Sinne
anziehen, immer wieder wird er die Stimme hören: Du wirst sein, du kannst
sein wie Gott, und er wird ahnen, daß es nicht die Stimme der Schlange,
sondern die Stimme des dunklen Gottes in ihm ist, die so spricht. Gott sagt: Du
hast keine Wahl, du mußt essen von diesem Baum, auch wenn du damit die
Einheit zwischen mir und dir für alle Zeit zerstörst. – In kühler philosophischer
Sprache hört sich dieser Zusammenhang so an:
Sprecherin:
“Versteht man den Sündenfall als Folge der freien Entscheidung, kommt man
mit Augustinus sofort zum Primat des Willens und des Bewußtseins. Wenn
man ihn aber als ein notwendiges Ereignis versteht – notwendig darum, weil es
Subjektivität und Freiheit erst ermöglicht! –, dann ist der Sündenfall in sich
ambivalent. Er erzeugt ein Dilemma – man kann nicht nicht schuldig werden –,
und zugleich führt kein Weg an ihm vorbei, wenn die Menschen
Verantwortung für sich und die Welt übernehmen.” (Dieter Funke, Das
Schulddilemma. Wege zu einem versöhnten Leben, Göttingen 2000, S. 63 f.)
Autor:
Die Einheit des Menschen mit allem, was ist, die Einheit mit Gott ist für immer
dahin, wenn Adam und Eva von der verbotenen und zugleich unentbehrlichen
Frucht gegessen haben. Die Engel mit dem Flammenschwert lassen keinen
Zweifel daran, daß der Weg zurück in das verlorene Paradies für niemanden
offensteht. Was jenseits von Eden geschieht, das sind die Erfahrungen des
Menschen, der über die Möglichkeit nicht mehr verfügt, mit Gott im Glauben
eins zu sein, und der gar nicht anders kann, als “sich selbst zum Zentrum seines
Selbst und seiner Welt zu machen”, wie Tillich sagt. Das ist seine Schuld, und
es ist sein Verhängnis. Er kann nicht anders, aber er trägt die Verantwortung
dafür. Der Zusammenhang ist derselbe, wie er auch in den Biographien der einzelnen Menschen zum Thema wird. Der Psychoanalytiker Dieter Funke spricht
von der “Zumutung”, die – jeweils in ihrer Sprache – die christliche
Erbsündenlehre und die Psychoanalyse “dem Menschen nicht ersparen”:
Sprecherin:
“Obwohl er zunächst (in seiner Kindheit) unschuldiges Opfer war, ist er heute
(als Erwachsener) verantwortlich als Täter. Darin liegt in der Tat eine
unzumutbar erscheinende Ungerechtigkeit. Obwohl wir nicht verantwortlich
sind für das, was uns in den frühen Tagen und Jahren des Lebens widerfahren
ist und wir uns nicht zu dem gemacht haben, wer wir sind, haben wir doch
keine andere Wahl, als für dieses Gewordensein die Verantwortung zu
übernehmen.” (Funke, D., ebd. S. 62 f.)
Autor:
Zurück, noch einmal, zu Paul Tillichs Verständnis von Ursünde oder, wie er
lieber sagen möchte, von Entfremdung. Die Einheit des Menschen mit dem
Ganzen, mit Gott ist für immer zerbrochen.
Sprecherin:
“Jeder einzelne hat, weil er geschieden ist vom Ganzen, den Wunsch, mit dem
Ganzen wiedervereinigt zu werden. Seine ‚Armut‘ läßt ihn nach Überfluß
suchen. (Das ist die Wurzel der Liebe in all ihren Formen.) … Der klassische
Name für diesen Wunsch ist ‚Konkupiszenz‘ – die unbegrenzte Sehnsucht, das
Ganze der Wirklichkeit dem eigenen Selbst einzuverleiben …” (Systematische
Theologie Bd. II, 1958, S. 60)
Autor:
Das alte Wort ist neu definiert. Konkupiszenz ist nun nicht mehr als sexuelle
Begierde verstanden, sondern als der auf das Ganze zielende, aber doch auch
hilflose Wunsch des Einzelnen, die verlorene Einheit aus eigener Kraft
wiederherzustellen. Dabei kommen Motive ins Spiel, die uns bestimmen, ohne
daß es uns immer bewußt wäre. Die Sehnsucht nach dem verlorenen Ganzen
macht uns entschieden, vielleicht rücksichtslos, womöglich aggressiv. Wir
glauben, anderen Gutes zu tun, und tun in Wahrheit vor allem etwas für uns
selbst. Wir sind verletzbar und von Ängsten bestimmt. Wir versuchen, uns das
Ganze der Wirklichkeit einzuverleiben, und es kann geschehen, daß wir uns an
die uns umgebende Wirklichkeit verlieren. Das alles macht die Beziehung der
Menschen untereinander und zur Welt schwierig. Niemand kann in die Einheit
mit Gott und Welt zurück, und alle Versuche, sie wiederherzustellen, sind auf
erschreckende Weise vergeblich. Weil wir wissen, wissen wir auch um das
Böse in unseren Motiven, um die dunkle Seite in den Beziehungen selbst zu
denen, die uns die Liebsten sind, um die zweideutigen Wirkungen, die selbst
die besten Absichten unseres Handelns oft hervorbringen. Nur gut ist nichts
und niemand. Dennoch handeln wir und wählen nicht selten zwischen
verschiedenen Möglichkeiten, unter denen zuweilen die eine noch scheußlicher
ist als die andere. Der Hauptsatz der Erbsündenlehre ist unwiderlegbar:
Sprecherin:
“Man kann nicht nicht schuldig werden.”
Autor:
Nun wäre ein zweites Kapitel zu eröffnen. Ein Kapitel über die Möglichkeit,
die unvermeidbare Schuld zu tragen. Zurecht zu kommen mit dem Fehlenden,
das uns zugefügt wird – und dem, das wir anderen zufügen, indem wir für uns
selbst sorgen. Denn dies darf auf keinen Fall unterschlagen werden: Jeder
Mensch wird nicht nur an anderen schuldig, er kann auch an sich selbst
schuldig werden – und das gerade dann, wenn er nach Kräften versucht, die
Schuld Dritten gegenüber möglichst gering zu halten. Aber für solche
Überlegungen ist im Rahmen dieses Beitrags kein Raum mehr. Es reicht nur
noch für eine Erinnerung an einen sehr starken, sehr selbstbewußten Satz
Martin Luthers:
Sprecherin:
“Pecca fortiter, sed crede fortius. – Sündige tapfer, aber glaube noch tapferer.”
Autor:
Du kannst wissen, daß du nicht die Möglichkeit hast, nicht schuldig zu werden.
Du darfst aber auch glauben, daß du nicht vergehen mußt unter der Gewalt
deiner Schuld. Wirf sie Gott zu, der sie hinter sich zurückwerfen wird (Jesaja 38,
17). Bei allem, was du tust, wirst du dessen innewerden, daß du dem Leben
etwas schuldig bleibst. Aber das muß nicht zur Verzweiflung führen. Den
Glaubenden bleibt genug Grund zum Leben übrig. Das letzte Wort über uns
wird nicht nach dem Maß unserer Schuld gesprochen. – Die Einzelheiten
bleiben zu bedenken: Wo geht es entlang zwischen dem unausweichlichen
Schuldigwerden und der umsichtigen Wahrnehmung von Verantwortung? Der
Horizont aber ist gesetzt: Sündige kräftig, lebe kräftig, aber glaube kräftiger.
Bleibe in der Zuversicht. Oder, mit Augustinus, dem sonst so strengen Bischof
in Nordafrika gesagt, der an dieser Stelle genauso souverän war wie der Mönch
und Professor aus Wittenberg:
Sprecherin:
“Liebe – und tu, was du willst.”
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