Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Volker Bernius WISSENSWERT Der freie Wille (5) Was wäre eigentlich, wenn es ihn nicht gäbe? Von Mischa Ehrhardt Freitag, 09.12.2005, 08.30 Uhr, hr2 Sprecher: Sprecherin: 05-169 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 1 Sprecherin: Im Jahr 2054 werden Mörder noch vor ihrer Tat gefasst und damit wird der Mord verhindert. Das ist die Zukunftsvision im Hollywood-Streifen “Minority-Report”. Drei eigenartige Wesen können in dem Film in die Zukunft blicken und Morde sehen, die noch gar nicht geschehen sind. Die Zukunft im Detail vorhersehen – das ist einigermaßen phantastisch. Die Idee dahinter aber ist realistischer: Der Gedanke nämlich, dass die Welt nach Gesetzen funktioniert, die im Prinzip vorhersagbar sind. Und dass das auch auf den Menschen zutreffen soll. Zumindest einige Hirnforscher behaupten, dass der Mensch in seinen Entscheidungen gar nicht frei ist. Er soll durch sein Gehirn zu allem, was er tut, vorherbestimmt sein. Es seien die Nervenzellen im Gehirn, die Neuronen, die unser Verhalten steuern, wenn wir handeln. So kommt mancher Hirnforscher zu dem Schluss, dass wir nur glauben, frei zu sein, in Wirklichkeit aber in unseren Handlungen und Entscheidungen geprägt sind durch viele verschiedene Einflüsse: Singer (1,00) Da ist die evolutionäre Ausstattung, also die genetische Festlegung, das sind Prägungsprozesse, die in der frühkindlichen Entwicklung stattfinden. Und das sind schließlich Lernprozesse im erwachsenen Gehirn. Und all diese Faktoren zusammen mit den im Augenblick auf das Gehirn einwirkenden Umweltreizen in Verrechnung mit gespeichertem Wissen legen fest, was hier als nächstes geschehen wird – welche Handlung das Gehirn als nächste ausführen wird. Sprecherin: meint der Leiter des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, Wolf Singer. Schon heute wird über die Konsequenzen diskutiert, die die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung möglicherweise haben könnten – vor allem im Bereich des Strafrechts. Musikakzent Denn hier gilt der eherne Grundsatz: keine Strafe ohne Schuld. Schuldig ist man aber gewöhnlich nur dann, wenn man auch anders hätte handeln können. Wenn der Mensch aber in allem, was er tut, vorherbestimmt ist – wenn er also nicht anders kann, als er ist, dann müsste sich das auch auf die Rechtsprechung auswirken. Ist der Grundsatz – keine Strafe ohne Schuld – damit veraltet und gegenstandslos? 2 Günther: (0,25) Im Augenblick noch nicht, aber man kann sich vorstellen, dass er langfristig gefährdet wird, wenn man Schuld und Freiheit entkoppelt. Vor ein paar Wochen zum Beispiel habe ich im Fernesehen eine Sendung über Schwerverbrecher gesehen und wie man die behandelt. Und in dieser Sendung kam kein Jurist mehr vor – nur noch Mediziner und Hirnforscher. Vielleicht wird es in Zukunft nur noch Juristen geben, um die Täter zu ermitteln oder festzunehmen – und dann werden sie in die Hände von medizinischen Experten übergeben. Sprecherin: Sagt Klaus Günther, Professor für Rechtstheorie, Strafrecht und Prozessrecht an der Universität Frankfurt. Natürlich gibt es in der Rechtssprechung schon heute Gutachten von Psychiatern oder anderen Medizinern. Gewöhnlich sagen die aber nur etwas aus über die Schuldfähigkeit eines Täters für eine Tat, die bereits geschehen ist. Dieses Bild wandelt sich allmählich: Günther: Den einzelnen Straftäter als ein gefährliches Individuum zu betrachten, das man, wie es oft heißt, bekämpfen muss oder wegsperren muss, damit er keinen Schaden in der Gesellschaft anrichten kann, das ist ein Trend, der jetzt mit dem, was einige Hirnforscher fordern, zusammen fällt. Und das zusammen genommen kann dann schon eine gefährliche Entwicklung bedeuten. Sprecherin: Eine Entwicklung, die gewiss nicht ohne Widersprüche ist. Ein Problem liegt auf der Hand: Wer entscheidet dann, wie hoch das Strafmaß für Straftäter sein soll. Juristen wohl nicht mehr, denn die können dann ja nur eine Aussage darüber machen, wer straffällig geworden ist. Entscheidend für das Strafmaß wäre dann aber vor allem der jeweilige Zustand des Gehirns. Wenn man dann beispielsweise bei einem Täter einen Tumor im Frontalhirn feststellen würde, dann müsste das für mildernde Umstände sprechen. Denn im Frontalhirn befinden sich die Verbindungen zwischen anerzogenen moralischen Kategorien und Zentren, die bestimmte Handlungen unterdrücken oder hemmen. Einige Hirnforscher wie Wolf Singer und Gerhard Roth fordern daher, schon heute unseren Schuldbegriff zu überdenken. Dahinter sieht der Jurist Klaus Günther zwar einen guten Willen wirken, neben der guten Absicht macht er aber auch Probleme geltend: Günther: Das Motiv von Singer und Roth ist ein stark humanistisches: Die Schuldstrafe basiert auf Freiheit und die ist nun einmal nicht beweisbar. Daher wäre es humaner, das anders zu machen. Wenn man das aber zur Regel macht, dann hat das zur Folge, dass wir nicht mehr auf eine Straftat, sondern auf gefährliche Menschen reagieren. Wenn dann ein kleiner Diebstahl von jemandem begangen wird, von dem man auf Grund seines Hirns 3 sagen kann, dass er auch zu anderen Dingen fähig ist, dann müsste der eine hohe Strafe bekommen. Andererseits müsste jemand, der bspw. einen Mord begeht aber von dem man auf Grund seines Hirns davon ausgehen kann, dass das nicht wieder vorkommt, sagen, dass der nur eine kleine Strafe verdient. Sprecherin: Widersprüche und Fragen tauchen da auf. Und die müsste eine Gesellschaft irgendwie beantworten, wenn sie ihren Bürgern jegliche Entscheidungsfreiheit abspricht. Es bliebe dann außerdem die Frage offen, wer überhaupt noch entscheiden könnte, in welche Richtung in der Gesellschaft es gehen soll oder nicht. Denn dann wäre ja auch der Weg der Gesellschaft festgelegt – ohne jegliche Möglichkeit, ihn zu korrigieren. Günther:(6,30) Es stellt sich dann die Frage, worum wollen wir unser gesellschaftliches Zusammenleben organisieren – also eben, um unsere wechselseitige Freiheit zu erhalten. Dieses Argument könnte dann nicht mehr ziehen, denn Freiheit gibt es ja dann nicht nur auf der Seite der Straftäter nicht mehr, sondern auch auf der Seite der Rechtstreuen Menschen, die sich vor diesen Menschen schützen wollen. Also es bleibt dann eigentlich nur noch der Schutz einer Mehrheit gegenüber einer Minderheit und da kann man sich vorstellen, dass man möglichst früh all Diejenigen aussortiert, die der Gesellschaft irgendwann einmal gefährlich werden könnten. Sprecherin: Aus der gleichen wechselseitigen Freiheit für Jedermann, wie sie für die Begründung moderner Demokratien wichtig war, könnte sich ein Szenario ständiger Bedrohung des Einzelnen entwickeln: Denn keiner möchte wohl gerne zur Gruppe jener Minderheit gehören, vor der sich die Mehrheitsgesellschaft schützen will. Wie diese Minderheit potentiell gefährlicher Menschen ausgemacht werden könnte, ist dann vielleicht so vorstellbar: Günther: (5,30) Wir müssen dann alle regelmäßig uns einem Gehirn-Screening unterziehen; und diejenigen, die dann möglicherweise gefährliche Neigungen zeigen, die müssten dann vorab aussortiert werden. Sprecherin: Verurteilt und weggesperrt, ohne straffällig geworden zu sein. Das erinnert an die von George Orwell beschriebene Welt in 1984: “Big Brother is watching you” – der große Bruder Staat sieht alles. Viele, die sich an der Debatte um die Willensfreiheit beteiligen, sehen gerade hier eine Gefahr. Denn wenn dem Menschen die Fähigkeit abgesprochen wird, Entscheidungen zu treffen, 4 dann steht nicht nur das Strafrecht in Frage: Eigentlich kann es dann sinnvollerweise überhaupt keine Normen mehr geben – weder Gebote noch Verbote. Zumindest keine, die man den Menschen vernünftig erklären könnte. Metzinger (22,00) Ich halte nun zu diesem Thema seit über zehn Jahren Vorträge. Und oft sage ich den Zuhörern dann, das ist alles ganz schrecklich. Denn wenn sich zeigt, dass die Menschen das nicht können, frei zu handeln, dann gibt es nur noch die Möglichkeit des Top-Down, von oben nach unten: Dann muss der Staat von oben diktieren und die Regeln festsetzen. Sprecherin: Sagt Thomas Metzinger, Philosoph in Mainz und Präsident der Gesellschaft für Kognitionswissenschaften. Auch bei der Erziehung ihrer Kinder müsste eine Gesellschaft aus unfreien Menschen einen eigentümlichen Spagat machen: Auf der einen Seite müssten ihre Pädagogen den Kindern beibringen, dass sie wissenschaftlich gesehen eigentlich nicht frei sind und auch keine freien Entscheidungen treffen können. Dass sie also auch nicht wirklich für ihre Taten verantwortlich sind. Auf der anderen Seite aber müssten die Pädagogen den gleichen Kindern wohl auch beibringen, dass sie bestimmte Dinge nicht tun dürfen – und wenn sie sie trotzdem tun, dass sie dann bestraft werden. Denn sonst würde wohl das Zusammenleben in der Gesellschaft kaum mehr funktionieren. Musikakzent Doch auch im Alltag der Menschen in einer von Freiheit ernüchterten Gesellschaft könnten sich eigenartige Dinge abspielen. So zum Beispiel folgende Szene: Ein Paar trifft sich abends zu Hause und sie sagt zu ihm: “Schatz, es tut mir leid, ich habe Dich heute wieder betrogen – aber Du weißt ja, ich konnte nicht anders”. An solchen Gedankenspielen kann man vielleicht ablesen, dass es gar nicht so einfach ist, sich auch nur vorzustellen, wie eine Gesellschaft aus unfreien Menschen überhaupt denkbar ist. Klaus Günther nennt ein anderes Beispiel: Günther: (18,50) Wir müssten wohl einen Großteil unserer Lebenspraxis ändern. Eine schwangere Frau zum Beispiel, die sich für oder gegen ihr Kind entscheiden muss. Anstatt zu einer Beratung zu gehen wäre es dann einfacher, einen Hirnforscher zu besuchen und zu fragen, wie sie sich entscheiden wird. Sprecherin: 5 Trotzdem und glücklicherweise wird es dazu vermutlich nie in dieser extremen Form kommen. Denn wenn diese Frau nun wüsste, wie sich sich voraussichtlich verhalten wird, dann könnte sie sich mit diesem Wissen ja wiederum anders entscheiden. Vielleicht, weil ihr im Bewusstsein der zukünftigen Handlung plötzlich klar wird, dass sie das doch nicht so haben will. Musikakzent: Szenenwechsel: Vom Privaten zum Religiösen. Hier hätte die Einsicht, dass die Menschen sich nicht frei entscheiden können erhebliche Konsequenzen. Zumindest gilt dies für den christlichen Glauben im Abendland. Denn dann müssten sich christliche Theologen um eine neue Rechtfertigung ihres Glaubens umschauen – und das wäre wahrscheinlich gar nicht so einfach. Denn der Bund zwischen den Menschen und ihrem Schöpfergott basiert darauf, dass der Mensch in einem gewissen Rahmen auch frei handeln kann. Splett: (23,00) Es geht ja in der biblisch-christlichen Tradition darum, dass Gott freie Wesen schafft, mit denen er einen Bund eingehen will und keine Marionetten und Maschinen; sodass hier die Freiheit unmittelbar hingehört als ein Geschenk, als eine Aufgabe – als eben die Möglichkeit, darauf zu antworten und mit Gott in Kontakt zu treten. Und wenn das richtig wäre, was die Hirnleute sagen, wäre natürlich die Religion weg und man sieht ja auch diese Bemühungen, das Religiöse in irgendwelchen Schläfenlappen unterzubringen – klar muss es sich dann auflösen. Sprecherin: Erklärt Jörg Splett, emeritierter Professor an der katholischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt. “Gottes-Modul”, so nennen Hirnforscher schon heute die Hirnregion, die in Sachen Glaubensfragen aktiv wird. Damit wäre also die bisherige christliche Tradition der abendländischen Kultur erschüttert. So steckt in der Vorstellung, dass die Menschen vielleicht doch nicht so frei sind, wie sie angenommen haben, vielleicht eine neue Krise für den Menschen. Metzinger (16,40) Die ganze Entwicklung könnte dann auch eine tragische Dimension bekommen – denn das hieße ja, dass die Aufklärung ihre eigenen Kinder frisst. D. h. das Ideal der Aufklärung, der rationale Zugang zur Welt, der würde uns dann genau zu diesen Problemen geführt haben – und kränkt uns damit. Sprecherin: 6 Sagt der Philosoph Thomas Metzinger. Es stünde mit der Unfreiheit der Menschen also nicht nur die christliche Tradition in Frage, sondern auch die darauf folgende Tradition der Aufklärung. Ein Gedanke, der in etwas anderer Weise den Kern ausmacht von dem, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer die “Dialektik der Aufklärung” genannt haben: Schon die Mythologie unserer Uhrahnen ist Aufklärung – denn hier erwacht zunächst das Selbstbewusstsein und das Freiheitsbewusstsein der Menschen. Dann aber schlägt Aufklärung in Mythologie zurück. Am Ende der “Dialektik der Aufklärung” sehen Horkheimer und Adorno die Menschen durch die Wissenschaft und ihre Rationalität auf den Status von Lurchen reduziert. Musikakzent Eine Gesellschaft aus unfreien Menschen aber ist in vielerlei Hinsicht schwer zu denken. Daher glauben viele Philosophen, Hirnforscher und andere, die sich an der Debatte beteiligen, dass die Erkenntnisse der Hirnforschung so viel gar nicht ändern werden. Denn der Mensch ist wohl so geschaffen, dass er davon ausgeht, frei zu sein – egal, was ihm die Wissenschaft darüber an neuen Erkenntnissen gibt. Metzinger (13,30) Also wenn es jetzt mal um das moralische Schuldgefühl, die Zurechenbarkeit im normativen Sinne geht, so ist es ja so, dass wir alle schon seit Kindesbein eingebettet sind in soziale Institutionen die uns behandeln, als ob wir frei wären. Das heißt, auch wenn wir ganz klein sind sagen unsere Eltern zu uns: Du, Du, Du – das war böse, was Du gemacht hast. Wir werden einfach so behandelt, als hätten wir anders handeln können und als hätten unsere Handlungen einen moralischen Wert. Und darum wird das eingebaut in unser Selbstmodell im Entstehungsprozess schon. Sprecherin: Ein wichtiges Selbstmodell für das gesellschaftliche Wesen Mensch. Ohne den Gedanken, frei handeln zu können, wäre es ziemlich schwierig, sich ein Zusammenleben vorzustellen. Und das führt zurück zum Aufklärer Immanuel Kant – dem wahrscheinlich bedeutendsten Freiheitstheoretiker der Neuzeit. Zitator: (KpV…) “Selbst der hartnäckigste Sceptiker gesteht, daß, wenn es zum Handeln kommt, alle sophistischen Bedenklichkeiten … wegfallen müssen. Eben so muß der entschlossenste Fatalist … jederzeit so handeln, als ob er frei wäre … Es ist schwer, den Menschen ganz abzulegen.” 7 8