Rolf Sistermann Mythische Motive in Texten über das Glück Anregungen zum Unterricht in der Sekundarstufe II, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 1987, H.5, 548-568 1. Zur Intention Seit Dorothee Sölle 1968 erklärt hat, daß sie Jesus für den „glücklichs Menschen" hält, „der je gelebt hat" 1 und Heinrich Buhr ein Jahr später Gedanke gekommen war, „daß das angemessene Reden und Nachdenk über das Glück Theologie sein könnte" 2, ist das Thema Glück auch für den Religionsunterricht attraktiv geworden. Auf meinem Schreibtisch liegen vier Modelle für die Sekundarstufe II, die repräsentativ sind für die in die letzten zehn Jahren vertretenen Konzeptionen: Die Quellensammlung von Trutwin/Assig von 1972 will ein Forum darstellen auf dem „christlicher Glaube dargestellt und befragt wird." Deshalb sind „gegensätzliche Meinungen" und „richtungsweisende Antworten" zum Thema Glück und Heil' zusammengestellt.3 In dem Modell von J. Kuhn sind in lernzielorientierter Planung Texte zum Thema Glück und Leid gesammelt. Es geht Kuhn darum, „das irdische Erleben des Menschen zu reflektieren und damit zugleich zu verdeutlichen, daß der christliche Glaube das alltägliche Erleben des Menschen weder übergeht um wichtigerer Themen willen noch transformiert in ein religiöses Jenseits hinein."4 Das Modell von Grom/Schillinger will mit interessanten, sehr erfahrungs- bezogenen methodischen und medialen Varianten (Film, Musik u.ä.) die „Erlebnis-, Liebes- und Gestaltungsfähigkeit" der Schüler erweitern.5 1 D. Sölle, Phantasie und Gehorsam, Berlin 1968, S. 65. 2 H. Buhr, Das Glück und die Theologie, Berlin 1969, S. 7 f. 3 W. Trutin/H. Assig, Glück und Heil, Düsseldorf u. a.1972 (= Theologisches Forum 13) S. 7 f. 4 J. Kuhn, Das Problem von Glück und Leid, Quelle & Meyer, Heidelberg 1977 (= Arbeitsmappen für Religionslehre in der Sek II, 5), Lehrerkommentar S. 13. 5 B. Grom/H. W. Schillinger, Glück und Sinn, Unterrichtseinheit mit 38 Kopiervorlagen, 2 Dias und Tonbandkassette für die 10.-12. Jahrgangsstufe, Düsseldorf u. a. 1980, S. 5. 548 Dem jüngsten Modell von F. W. Niehl von 1985 geht es innerhalb des Lernbereichs Ethik um eine Erweiterung und Vertiefung des Glücksgefühls. Glück soll nicht nur in der Freizeit, sondern auch in der Identität, der Gemeinschaft, der Arbeit und der eschatologischen Zukunft wahrgenommen werden. Leitend ist dabei ein abgestuftes Schema der Lebensbereiche: Individueller Bereich, interpersonaler Bereich, sozialer Bereich, makropolitischer Bereich, Verstehen und Weltdeutung.6 Damit stehen dem Religionslehrer anscheinend genügend interessante Materialien zur Verfügung. Welche Anregungen zum Unterricht über das Thema Glück könnte man noch geben? In meinem Unterricht in einem Grundkurs 12 habe ich eine eigenartige Erfahrung gemacht. Als ich mit meinen Schülern über das Thema Glück reden will, werden sie merkwürdig einsilbig. Ich hatte mir davon versprochen, den Kurs ,Reden über Gott` aus der grauen dogmatischen Theorie hinaus auf die grünen Wiesen des Lebens und zum goldenen Baum der Erfahrung führen zu können. Doch es stellt sich heraus, daß sie leichter über Gott sprechen können als über ihre Glückserfahrungen. Auch Fragebogen, wie sie etwa bei Kuhn abgedruckt sind, führen nicht viel weiter. Anonyme schriftliche Spontanäußerungen bringen einen enttäuschenden Befund von sehr allgemein gehaltenen, oberflächlichen Statements.7 Die Schüler bleiben weitgehend stumm. Ich meine, ihnen entgegenzukommen, und staune, daß sie nicht freudig darauf eingehen. Habe ich mich vertan, als ich meinte, über das Thema Glück leichter mit ihnen ins Gespräch über das kommen zu können, was sie angeht? Natürlich, intime Erlebnisse gehören nicht in den Raum der Schule. Wird hier wieder einmal deutlich, was von schülerzentrierten Ideologen gerne übersehen wird? Will der Schüler überhaupt im Mittelpunkt stehen? Erwartet er nicht vielmehr, daß ihm etwas beigebracht wird? Wehrt er sich nicht mit Recht dagegen, wenn seine wenigen und deshalb kostbaren Erfahrungen im Unterricht thematisiert werden sollen? Auf meine Frage, warum sie plötzlich so schweigsam sind, meinen einige: „Ich will mir meine Erlebnisse nicht kaputtreden lassen!" „Wenn ich zwei Stunden darüber geredet habe, bleibt davon nichts übrig." „Das kann ja doch keiner verstehen!" „Wenn andere über ähnliche Erlebnisse reden, merke ich, daß meine doch nicht so einmalig sind, wie ich dachte. Sie werden irgendwie relativiert und bedeuten mir dann nicht mehr so viel." „Davon erzähl' ich nur meiner besten Freundin!" Vielleicht verbirgt sich hinter dem Schweigen und hinter diesen Außerungen etwas für den Religionsunterricht Wichtigeres, als ein von dem Lehrer 6 F. W. Niehl, Glück und christliches Leben, Diesterweg, Frankfurt u. a. 1985 (= Konzepte 10), Lehrerkommentar, S. 9. 7 Vgl. auch die Untersuchungen bei G. Höhler, Das Glück, Analyse einer Sehnsucht, 2. Aufl., Düsseldorf u. a. 1981, S. 42 ff. „Glück als Ware". 549 immer so gern gesehenes munteres Unterrichtsgespräch gebracht hätte. Ich beschließe. die Schwierigkeiten, über Glück zu reden, selbst zum Thema zu machen. In einem Vortrag von Joachim Scharfenberg finde ich dafür eine Bestätigung. Er meint dazu: „ In einer Welt, in der die technische Zweckrationalität immer stärker Besitz ergreift von der Alltagssprache, erleben Menschen in zunehmendem Maße ihre Unfähigkeit, eine angemessene Sprache für das Ausdrücken ihrer inneren Erfahrung zu finden." Aus seiner analytischen Praxis berichtet er folgenden Fall: „Als einer Patientin, die sich schrecklich damit abmühte, einer tiefen und frühen Erfahrung von verlorener Geborgenheit Ausdruck zu verleihen, sagte: „Das ist für Sie wie eine Art verlorenes Paradies", war die überraschte Antwort: „Sie meinen ernsthaft, daß ich nicht der einzige Mensch auf der Welt bin, der solche Erfahrungen gemacht hat?" Scharfenberg stellt zur Bedeutsamkeit der Beschäftigung mit religiösen Symbolen folgende These auf:„ Kommunikation mit Hilfe religiöser Symbole erlöst aus der Einsamkeit narzistischer Grunderfahrung und vermag innere Erfahrung mitteilbar zu machen. Sie entkleidet sie ihres überwältigenden Charakters, erlaubt es, sie einzuordnen und der Realitätsprüfung zugänglich zu machen."8 In diesem Zusammenhang ist auch die Intention des hier beschriebenen Unterrichts zu sehen. „Himmel oder Bei-Gott-Sein ist der unmittelbare mythische Ausdruck dessen, was wir säkular Glücksverlangen nennen."9 Gerade die Glückserfahrung scheint eine zu sein, bei der der „überwältigende Charakter" jedem irgendwie nachvollziehbar ist. In der gemeinsamen Beschäftigung mit gelungenen und mißlungenen Versuchen, über Glück zu reden, und in der Entwicklung von Kriterien, beides zu unterscheiden, hoffe ich, die Bedeutsamkeit von Kommunikation mit Hilfe religiöser Symbole deutlich machen zu können. Dazu bedarf es allerdings einer Theorie des religiösen Symbols, die hier nur kurz skizziert werden kann. „Erfahrungsbezug und Symbolverständnis bedingen sich in der Religionspädagogik gegenseitig." 10 Das bedeutet meiner Meinung nach konkret: Ich kann meine Alltagserfahrung erst verstehen, einordnen und ausdrücken, wenn mir dafür Symbole zur Verfügung stehen. Andererseits sind die Symbole nur verständlich, wenn sie mit der Alltagserfahrung in Korrelation gebracht werden. Der Mensch tendiert dazu, für seine Entscheidungen und Wahlen, die er in der Alltagswirklichkeit fällen muß, Legitimierung und 8 J. Scharfenberg, Strukturtheologie, Symbol und Meditation, in: Wege zum Menschen, 34. Jg., 1982, S. 155 f.; vgl. auch ders., Symbole des Glücks in theologischer und psychologischer Sicht, in: R. Rieß (Hg.), Perspektiven der Pastoraltheologie, Göttingen 1974, S. 1122. 9 D. Sölle, Der Wunsch, ganz zu sein, Gedanken zur neuen Religiosität, in: H. E. Bahr (Hg.), Religionsgespräche, Darmstadt u. a. 1975, S. 150 f. 10 P. Biehl, Die Chancen der Symboldidaktik nicht verspielen, Kritische Symbolkunde im Unterricht, in: Religion heute, H. 3, 1986, S. 168. 550 Orientierung in einer mythischen Sinnwirklichkeit zu suchen. Er kann sich dabei diese mythische Sinnwirklichkeit künstlich aufbauen oder auf wirkliche Offenbarungserfahrungen dieser Wirklichkeit, die sich allerdings nur symbolisch ausdrücken lassen, Bezug nehmen. Im zweiten Fall müssen beide Wirklichkeiten, die Alltagswirklichkeit und die mythische Sinnwirklichkeit, als zwei Hälften des gebrochenen Symbols aufgefaßt werden, die erst durch Zusammenfügung (gr. symballein) ihren Sinn bekommen11. Für sich genommen sind beide absurd und sinnlos. Der Sinn der mythischen Wirklichkeit wird für sich genommen mit Recht bezweifelt. Die Alltagswirklichkeit für sich genommen läßt verzweifeln. Die Angst der Verzweiflung läßt aber immer wieder neue Mythen entstehen. „Man kann einen Mythos durch einen anderen ersetzen, aber man kann den Mythos nicht aus dem geistigen Leben des Menschen entfernen. Denn der Mythos ist die Verbindung von Symbolen, die ausdrücken, was uns unbedingt angeht." 12 Daher gilt es nicht nur, auf die traditionellen religiösen Mythen zu achten, sondern auch auf die verborgenen, noch nicht (wieder) in Kirchen und offiziellen Gottesdiensten gepflegten und gefeierten Mythen des Alltags. „Darum korreliert die Aufdeckung von Alltagsmythen mit dem Bewußtmachen alltäglicher Lebenserfahrung. Diese Alltagserfahrung ist geradezu ein Bedingungsfaktor der Mythenproduktion." 13 Weil der Symbolansatz „für Irrationalismus und Ideologisierung besonders anfällig" ist, fordert P. Biehl eine kritische Symbolkunde, „in der die vorgegebenen Möglichkeiten der Symbole mit einer theologischen und ideologiekritischen Urteilsbildung komplementär verbunden sind." 14/15 Zilleßen verweist in diesem Zusammenhang auf Paul Tillichs Begriff des gebrochenen Mythos als Unterscheidungskriterium zwischen dem theologisch akzeptablen theonomen Mythos und seinen ideologisierten Fehlformen.16 11 Vgl. R. Sistermann, Literarische Texte, in: W. Böcker u. a. (Hgg.), Handbuch religiöser Erziehung, Bd. 1, Düsseldorf 1987, S. 308; zum Begriff der Legitimierung vgl. Th. Luckmann, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963, S. 34 ff. 12 P. Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Berlin 1975 (= Ullstein TB 318), S. 62; auch in: ders., Ges. Werke Bd. 8. 13 D. Zilleßen, Der Traum vom Glück, Überlegungen zur religiösen Symbolik am Beispiel alltäglicher Werbeanzeigen, in: ders., Emanzipation und Religion, Frankfurt 1982, S. 89. 14 P. Biehl, vgl. Anm. 10, S. 169. 15 P. Biehl, Symbole, in: W. Böcker u. a., Handbuch religiöser Erziehung, Bd. 2, Düsseldorf 1987, S. 490. Zur Kritik an der unkritischen Symboldidaktik bei Halbfas vgl. auch D. Zilleßen, Symboldidaktik, Herausforderung und Gefährdung gegenwärtiger Religionspädagogik, in: Der evang. Erzieher, 36. Jg., 1984, S. 626-642, bes. 639. 16 D. Zilleßen, vgl. Anm 13, S. 96; zur Entwicklung dieses Begriffs bei Tillich und dessen Bedeutung für eine eigenständige theologische Ideologiekritikvgl. R. Sistermann, Literatur und Ideologie im Religionsunterricht, Zürich u. a 1979 (= Studien zur praktischen Theologie 19), S. 131 ff. 551 Was ist aber darunter zu verstehen und wie kann der Begriff didaktisch fruchtbar gemacht werden? Paul Tillich definiert den gebrochenen Mythos folgendermaßen: „Ein Mythos, der als Mythos verstanden, aber nicht beseitigt wird, kann ,gebrochener Mythos' genannt werden." „Ein Glaube, der seine Symbole wörtlich versteht, wird zum Götzenglauben. Er nennt etwas unbedingt, das weniger ist als unbedingt." ... „Das Christentum schließt seinem eigentlichen Wesen nach jeden ungebrochenen Mythos aus, denn seine Grundlage ist der Inhalt des ersten und höchsten Gebotes, des Gebotes, die Unbedingtheit des Unbedingten anzuerkennen und jede Art von Götzendienst abzulehnen." 17 Theoretisch ist die Position klar. Aber wie läßt sich das konkretisieren und elementarisieren, damit es auch für Schüler nachvollziehbar wird? Was Tillich hier mit den Worten des Alten Testaments für Götzendienst erklärt, haben Sölle/Steffensky religionswissenschaftlich offener als Magie bezeichnet: „Unter Mythos verstehen wir jede sinnvergewissernde, bildhafte, welterschließende Geschichte oder Gestalt. Jeder Mythos hat die Tendenz, uns magisch zu vereinnahmen. Darum ist es notwendig, für den emanzipatorischen Gebrauch der Mythen die angesprochenen Werte und Verhaltensformen transparent zu machen und die in ihnen erscheinenden Verschleierungen aufzuheben." 18 Um aber Mythen überhaupt als solche zu erkennen, genügt es nicht, nur die angesprochenen Werte und Verhaltensnormen transparent zu machen, sondern der Schüler braucht eine möglichst vollständige Inventarliste aller mythischen Motive, die als Merkmale für das Erkennen tradierter und die Aufdeckung verborgener Mythen dienen können. Erst dann kann die von Scharfenberg geforderte Realitätsprüfung stattfinden und untersucht werden, wieweit die Mythen fiktiv sind oder wieweit die Motive symbolisch verstanden werden sollen. Wenn man davon ausgeht, daß „Mythen Symbole des Glaubens" sind, „die zu Geschichten verbunden sind, in denen Begegnungen zwischen Göttern und Menschen erzählt werden," 19 kann man eine Liste von neun Motivgruppen aufstellen, die beim Ausdruck der Begegnung mythischer Wirklichkeit und menschlicher Alltagswirklichkeit immer wieder zu finden sind: 17 P. Tillich, vgl. Anm. 12, S. 63f. 18 D. Sölle/F. Steffensky, Antidemokratische Tendenzen im Religionsunterricht, aus: Christen für den Sozialismus, 1974, S. 9 (vervielf.) zitiert nach H. Albrecht, Arbeiter und Symbol, München 1982, S. 216. 19 P. Tillich, vgl. Anm. 12, S. 61. 552 1. Initiationsmotive, z. B. die Prüfung des Helden, drücken die Einweihung und Einführung eines Menschen in die mythische Wirklichkeit aus. 2. Tabumotive, wie z. B. die Scheu vor dem Heiligen, drücken die Unantastbarkeit der göttlichen Wirklichkeit aus. 3. Totalitätsmotive, wie z. B. die Dreizahl oder neuerdings in der Sprache der Jugendlichen das Attribut „total", drücken das Heil der mythischen Wirklichkeit gegenüber der kaputten Alltagswirklichkeit aus. 4. Apotheosemotive, wie z. B. die Anbetung, erheben die göttliche Wirklichkeit über alle menschliche Wirklichkeit. 5. Paradosismotive, wie z. B. das Opfer, drücken die Ergebenheit und Opferbereitschaft des Menschen gegenüber der mythischen Wirklichkeit aus. 6. Ubiquitätsmotive, wie z. B. Engel, drücken die Aufhebung der räumlichen Grenzen in der mythischen Wirklichkeit aus. 7. Aeternitätsmotive, wie z. B. die Auferstehung oder das ewige Leben, drücken die Aufhebung der zeitlichen Grenzen der mythischen Wirklichkeit aus. 8. Metamorphosemotive, wie z. B. Wunder, drücken die Wandelbarkeit und Unfaßbarkeit der göttlichen Wirklichkeit aus, deren wahre Gestalt sich unter immer anderen Formen verbirgt und eine höhere oder tiefere Wirklichkeit ahnen läßt. 9. Normativitätsmotive, wie z. B. das letzte Gericht, drücken die Grundlegung einer Wertordnung und die mythische Fundierung und Legitimierung einer Entscheidung in der Alltagswelt über Gut und Böse aus. In den Texten über Glückserfahrungen werden wir vor allem auf Initiationsmotive, Metamorphosemotive und Paradosismotive stoßen. Wenn die Motive so deutlich werden, daß der Mythos als Mythos verstanden, aber nicht beseitigt wird, sondern als Symbol für die Offenbarungserfahrung im Alltag verstanden wird, kann man von gebrochenem Mythos sprechen. Wenn die Motive wie selbstverständlich gebraucht werden und der Unterschied von mythischer Wirklichkeit und Alltagswirklichkeit verschleiert wird, muß von ungebrochenem, magischem Gebrauch gesprochen werden. Damit ist die sehr allgemeine Definition Paul Tillichs etwas stärker auf der Ebene mittlerer Konkretion elementarisiert und handhabbarer geworden. Ein einfach zu handhabendes und todsicheres Instrument haben wir damit, wie wir an der Arbeit mit den Texten sehen werden, immer noch nicht. Allerdings wäre es auch recht problematisch, wenn die Texte nach unserer Behandlung tot wären; steckt in ihnen doch in jedem Falle, auch wenn sie fiktiv sind, ein Stück lebendige Erfahrung. 2. Zum Thema Blättert man die neueren Publikationen zum Thema Glück durch20 oder greift man zu einer Zitatensammlung, so wird einem die Vieldeutigkeit des 20 u. a. W. Schneider, Glück - was ist das? Traum und Wirklichkeit, München u. a. 1978; H. J. Baden/R. Lenz/G. M. Martin/A. Weyer, Das Glück der Tüchtigen, das Glück der Süchtigen, Wuppertal 1972; M. Neun (Hg.), Glück nach dem wir suchen, Stuttgart 1976; B. Grom/N. Brieskorn/G. Haeffner, Glück - auf der Suche nach dem guten Leben, Frankfurt u. a. 1987 (= Ullstein TB 34370); G. Höhler, vgl. Anm. 7. 553 Begriffs und der Facettenreichtum des Themas bewußt. Auch wenn hier das Thema auf Schwierigkeiten und Lösungsversuche beim Reden und Schreiben über das Glück eingegrenzt worden ist, muß versucht werden, die Struktur der Glückserfahrung genauer zu beschreiben, um einen Maßstab für den gebrochenen oder ungebrochenen Gebrauch des Mythos zu bekommen. Dabei stellt man fest, daß das Glück nicht nur in unterschiedlichen Situationen und im Umgang mit unterschiedlichen Menschen, Werten und Dingen erlebt werden kann, sondern auch auf unterschiedliche Weise. Im folgenden sollen zwei Typen von Glückserfahrung beschrieben werden, die mir als die wichtigsten erscheinen. Aus ihnen sollen Strukturmodelle entwickelt werden, die bei der Arbeit mit den Textbeispielen als heuristische Interpretationsfolie dienen können. 2.1 Glück als Verdienst Für den einen Typ von Glückserfahrung gilt das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied". Das Glück gilt als machbar oder käuflich, ist Lohn der Anstrengung, einer Leistung oder eines Opfers. G. Höhler hat von empirischen Untersuchungen berichtet, die auch meinen Erfahrungen entsprechen, daß Schüler bei schriftlichen Spontanäußerungen vor allem an das Glück der guten Noten und des Konsums denken.21 Daß der Konsum im Kapitalismus die Form einer Ersatzreligion annehmen kann, hat Karl Marx schon aufgezeigt, wenn er vom Fetischismus der Ware spricht,22 und ist vor einiger Zeit in einem leider nicht mehr aufgelegten Buch unter dem Titel „Der Warenhimmel auf Erden. Trivialreligion im Konsumzeitalter" breit ausgeführt worden.23 Etwas weniger gezielt, aber sehr anschaulich sind die religiösen Elemente der Werbung unter dem Titel ‚Paradies im Angebot' im vorigen Jahr in einer Ausstellung in vielen Kirchen der Bundesrepublik dokumentiert worden.24 Das Bestreben der Werbung geht scheinbar dahin, die Wege zum Glück durch Verdienste zu erleichtern und den Genuß zu steigern. Möglichst viel, möglichst leicht, möglichst sicher, heißt die Parole. Glück in Tablettenform oder auf Knopfdruck wird zur Droge, die die 21 G. Höhler, vgl. Anm. 7, S. 42; vgl. auch dies., Weißmacher für Lebensgrau, in: Recht auf Glück? Träume, Ansprüche, Erfahrungen heute. Eine Artikelserie aus Christ und Welt/Rheinischer Merkur, Freiburg 1984 (= Herder TB 1086), S. 10-17. 22 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1 (1867), Frankfurt 1969, S. 52. 23 K. W. Bühler, Der Warenhimmel auf Erden, Trivialreligion im Konsumzeitalter, Wuppertal 1973. 24 H. Tremel (Hg.), Das Paradies im Angebot, Religiöse Elemente in der Werbung, Dokumentation, Frankfurt 1986. 554 Probleme des Alltags zwar nicht löst, aber für einige Zeit vergessen läßt. Welche Ausmaße das Glück auf Knopfdruck in Amerika schon genommen hat, hat N. Postman eindrucksvoll beschrieben.25 Horst Albrecht, der die bisher m. E. gründlichste praktisch theologische Analyse der religiösen Symbolwelt in den Massenmedien geliefert hat, spricht in diesem Zusammenhang von fiktiven Symbolen.26 Aber haben nicht auch früher schon Ideologien und Religionen Glück versprochen, wenn bestimmte Leistungen erfüllt werden und bestimmte Tugenden beachtet werden?27 Ideologie muß theologisch als ein moderner Götzendienst angesehen werden, der sich magischer Praktiken bedient, um bestimmte Werte als letzte Sinnerfüllung darzustellen.28 Magisch können solche Religionen genannt werden, die nicht an Offenbarungserfahrungen im Alltag glauben, sondern die eine andere Welt beschwören oder aufbauen wollen. Ihre Mythen können deshalb nicht gebrochen symbolisch auf die Erfahrung im Alltag bezogen werden, sondern nur skeptisch in Zweifel gezogen werden oder wörtlich geglaubt werden. Verständlich sind sie für den Eingeweihten, der bestimmte Regeln akzeptiert hat und bestimmte Prüfungen bestanden hat. Wenn man die verschiedenen Elemente des machbaren Glücks in eine Struktur bringen soll, ergibt sich folgendes: Modell I Ausgangssituation Lösungsweg Maßstab Mythische Wirklichkeit Alltagswirklichkeit A l lt ag s probleme Befolgung einer Regel Le is tu ng Prüfung Optimaler Erfolg Konsequenz Heile Welt Die aufsteigende Linie will andeuten, daß hier bruchlos von der Alltagswirklichkeit in die mythische Wirklichkeit geführt wird. Der Übergang ist gleitend. Es kann also sein, daß die Beschwörung der heilen Glückswelt unmerklich geschieht, und jemand, ohne daß es ihm bewußt wird, zum Mysten einer 25 N. Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt 1986. 26 H. Albrecht, Arbeiter und Symbol. Soziale Homiletik im Zeitalter des Fernsehens, München u. a. 1982, S. 84. 27 Vgl. R. Sistermann, Tugend ein Thema für den Religionsunterricht?, in: Evang. Erz., 37. Jg., 1985, S. 394. 28 Vgl. R. Sistermann, Anm. 16, S. 133 ff. 555 gerade aktuellen Ersatzreligion wird. Mythische Wirklichkeit setzt sich unbemerkt an die Stelle der Alltagswirklichkeit und verdrängt oder verschleiert diese. 2.2 Glück als Geschenk Demgegenüber steht eine Art der Glückserfahrung, in der Glück gerade nicht als machbar und als Lohn für eine Leistung erfahren wird, sondern als Geschenk. „Ein Herz kann man nicht kaufen, auch wenn man das manchmal so denkt. Doch, wenn man Glück hat, doch wenn man Glück hat, bekommt man es geschenkt." Diese trivial klingende Weisheit des Schlagers ist im Zitatenschatz des 19. Jahrhunderts etwas verstaubter folgendermaßen formuliert: „Weiß doch keiner, was ihm frommt/hier auf dunklem Pfade./Keiner zwingt das Glück, es kommt/unverhofft als Gnade." 29 In beiden Zitaten ist das Erfahrungselement festgehalten, daß das Glück dort, wo alles dafür getan wird, oft schal schmeckt oder sich überhaupt nicht einstellen will. „Es ist nicht das bestandene Examen, es ist nicht das endlich fertiggestellte Eigenheim, es ist nicht die endlich heimgeführte Braut, es ist nicht die Rente, die man endlich durch hat." 30 Es scheint vielmehr nichts Besonderes dazu nötig zu sein: Ein Sonnenstrahl, ein behaglicher Ofen, ein Kanarienvogel.31 Deshalb werden die eigentlichen Glücksmomente im Augenblick oft gar nicht erkannt und erst in der Erinnerung „süß".32 Heinrich Buhr macht auf den Doppelsinn des deutschen Wortes Glück aufmerksam, der im Englischen durch die beiden Worte luck und happiness ausgedrückt wird. Während es für happiness viele Entsprechungen im Neuen Testament gibt, Seligkeit, Freude, Friede, Heil, ewiges Leben, hat man oft gemeint, daß das Neue Testament für luck keinen Ausdruck habe. Er stellt aber dann die These auf, daß das zentrale neutestamentliche Wort Gnade genau das ausdrückt, was mit luck gemeint ist. „Mit diesem Wort ist ausgedrückt, was der Mensch als gnädige Lebensfügung' und Lebensführung erfahren kann: daß es helfende Menschen, Kräfte und Umstände gibt, die dann im Glauben als Gegenwart Gottes erscheinen."33 29 Fr. von Bodenstedt, 1874, zitiert nach F. v. Lipperheide, Spruchwörterbuch (1907), B. Aufl., Berlin 1976. 30 So der Kölner Psychologe D. Blothner als Ergebnis seiner Untersuchungen nach einem Bericht des Kölner Stadtanzeigers vom 28./29. 5. 87. 31 So bei Maupassant nach W. Schneider, vgl. Anm. 20, S. 55; dort auch noch ähnliche Zitate von anderen Schriftstellern. 32 Geibel nach G. Höhler, vgl. Anm. 7 S. 42. 33 H. Buhr, vgl. Anm. 2, S. 25. 556 In einem Kirchenlied heißt es: „Es ist das Heil uns kommen her von Gnad und lauter Güte; die Werk, die helfen nimmermehr, sie mögen nicht behüten."34 E. Wolf kommentiert dazu: „Damit wird gesagt, daß der Mensch ... nicht in der Weise seines Glückes Schmied ist, daß er absolut Herr seiner Zukunft wäre, ... am allerwenigsten dort, wo ihn perfektionistische Ideale der Selbstverwirklichung bestimmen; daß das Leben im unbedrohten Frieden mit sich und der Welt nur als verpflichtendes Geschenk der Befreiung von den Bedrängnissen der introvertierten Selbstsucht ist."35 Das Symbol der Gnade weist also auf das Erfahrungselement der Unverfügbarkeit des Glücks.36 Wenn die Schüler die eigene Glückserfahrung als unvergleichlich und deshalb unbeschreiblich empfinden, mag darin ein zweites Element der Erfahrung von Glück als Geschenk verborgen liegen. Die Rede von der Unvergleichlichkeit der Glückserfahrung weist auf ein bestimmtes Verhältnis zu der Erfahrung von Zeit hin. „Für Augenblicke gelten dann weder Furcht noch Trauer, weder Vergangenheit noch Zukunft. Die Zeit steht still, eine Ahnung der Ewigkeit streift den Glücklichen. Gestärkt von Zuversicht, kehrt er in den Alltag der Gefühle zurück." 37 0. F. Bollnow hat diese Erfahrung von Zeit im Glückserlebnis phänomenologisch folgendermaßen beschrieben: Der Glückliche vergißt Vergangenheit und Zukunft. Er braucht sich nicht mehr über den Augenblick hinaus zu sehnen, „weil ihm die Gegenwart in sich selbst genügt." Er ist der Zeit enthoben und damit dem „Lastcharakter des Daseins überhaupt." Er erlebt ein „stehendes Jetzt", eine „ewige Gegenwart". Bollnow kennt für das Erlebnis der Zeitlosigkeit vier Stufen. Schon die banale Albernheit bringt ein Vergessen der Zeit mit sich. In der freudigen Gehobenheit erfährt der Mensch eine Milderung der Schärfe des Augenblicks. Als großes Glück bezeichnet Bollnow die Herausgehobenheit aus der Zeit mit Bewußtsein der Zerbrechlichkeit und Hinfälligkeit. In der reinen Seligkeit schließlich ist das Bewußtsein der Vergänglichkeit nicht mehr gegenwärtig. Die Erinnerung an solche Augenblicke empfindet der Mensch als eine Rückkehr zu seinem wahren außer- und überzeitlichen Dasein, zu der „Wirklichkeit, von der wir weit entfernt leben ..., bei der wir Gefahr laufen zu sterben, ohne sie überhaupt gekannt zu haben, und die ganz einfach unser Leben ist, das wahre Leben, das endlich aufgedeckte und aufgehellte Leben." (M. Proust)38 34 Paul Speratus, 1523, in: Evangelisches Kirchengesangbuch, Ausgabe für die Landeskirchen Rheinland, Westfalen und Lippe, Lied Nr. 242. 35 E. Wolff, in: G. Szczesny (Hg.), Die Antwort der Religion, Eine Umfrage, Reinbek 1971, S. 108, wobei er den Text fälschlicherweise Luther zuschreibt. 36 Zur Unverfügbarkeit vgl. auch R. Bultmann, Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? (1925), in ders., Glauben und Verstehen, Bd. 1, 3. Aufl., Tübingen 1958, S. 31. 37 G. Höhler, vgl. Anm. 21, S. 17. 38 0. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt 1941, S. 125 f. 557 Glück wird hier als eine unermeßliche Erfahrung beschrieben, in der das Bewußtsein seinen gewohnten Zustand transzendiert. Dieses Außerhalb-der-gewohnten-Zeit-Stehen ist eine ekstatische Erfahrung. Ekstase als der „Bewußtseinszustand, in dem die Vernunft jenseits ihrer selbst ist, d. h. jenseits ihrer Subjekt-Objekt-Struktur", ist nach Tillich ein wesentliches Merkmal der Offenbarungserfahrung.39 Man kann also bei der Glückserfahrung in dem Sinne durchaus von einer Offenbarungserfahrung sprechen, wenn auch der Offenbarungsbegriff sicher noch mehr umfaßt. In diesem Sinne ist es dann auch verständlich, wenn Blaise Pascal die Glückserfahrung als eine Gotteserfahrung auffaßt: „Das Glück ist weder außer uns, noch in uns; es ist in Gott, und sowohl außer als in uns."4o Ein drittes Element dieses anderen Typs von Glückserfahrung ist, daß Glück als unvollkommen erlebt wird. Dem bitteren Wort Sigmund Freuds, daß „die Absicht, daß der Mensch,glücklich' ist, im Plan der Schöpfung nicht enthalten" sei41, ist zuzustimmen, wenn man es auf das vollkommene Glück bezieht.42 Unvollkommen ist die Glückserfahrung einmal durch ihre Flüchtigkeit und Endlichkeit.43 Die Flüchtigkeit macht Angst und weckt den Wunsch nach dauerhaftem Glück. Der Schatten des Todes verdunkelt den Glanz des glückhaften Augenblicks. Manchmal, nämlich dann, wenn Glück als Besitz empfunden wurde, kann die Erinnerung an vergangenes Glück sogar quälend sein: „Ich besaß es doch einmal,/was so köstlich ist,/daß man doch zu seiner Qual/nimmer es vergißt." (Goethe, An den Mond) Unvollkommen sind die Glückserfahrungen zum anderen dadurch, daß wir nicht vergessen können, daß andere im gleichen Augenblick im Unglück und Elend sind. 39 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1956, S. 138; den glücklichen Augenblick als eine ekstatische Erfahrung beschreibt auch F. W. Niehl, vgl. Anm. 6, Lehrerkommentar, S. 5. 40 Pascal, Über die Religion, Nr. 456, Auswahl von R. Schneider, Hamburg 1954, S. 204. 41 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in ders., Abriss der Psychoanalyse u. a., Frankfurt 1962 (= Fibü 47), S. 105. 42 In der genannten Spruchsammlung von Lipperheide, vgl. Anm. 29 oder in der von K. Peltzer, Das treffende Zitat, 6. Aufl., München 1976 finden sich unter dem Stichwort Glück dazu schöne Zitate aus der Geschichte der Literatur: „Allein der Mensch ist nun einmal nicht geboren, hinieden ein vollkommenes Glück zu genießen" (Erasmus, Lob der Torheit); „Und wo ist das Glück, dem nichts gebricht?" (Shakespeare, Sonette, 1609); „Das vollkommene Glück ist unbekannt; für den Menschen ist es nicht geschaffen." (Voltaire, 1789); „Ach, daß keiner der Sterblichen sich selig nenne, keiner sich glücklich bis ans Ende" (Schiller, Iphigenie in Aulis, 1.1, 1788); „Sich recht anschauend vorstellen lernen, daß niemand vollkommen glücklich ist, ist vielleicht der nächste Weg, vollkommen glücklich zu werden." (Lichtenberg, 1800). 43 Das ist ein Gedanke, der besonders in der Romantik betont wurde: „Oh, Menschenherz, was ist das Glück? Ein rätselhaft geborener und, kaum begrüßt verlorener, unwiederholter Augenblick" (Lenau, Frage); „Hier ist das Glück vergänglich wie der Tag, Dort ist es ewig wie die Liebe Gottes." (Th. Körner, Zriny, 2.8, 1812); „Wir haben wohl hinieden/Kein Haus an keinem Ort,/Es reisen die Gedanken/Zur Heimat ewig fort." (Eichendorff, Ahnung und Gegenwart, 1812, Stuttgart 1984 (RUB 8229), S. 93. 558 „Mein Kampf ist ein Kampf um das Glück aller; sollte ich glücklich sein, so müßten es erst alle Menschen um mich herum sein ... Ich könnte mich sozusagen nur als Letzter an die Tafel setzen", sagt die Hauptperson in G. Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang". „Auch der christliche Glaube kann offensichtlich nicht von dem Glück, das schon jetzt die Fülle bedeutet, reden. Die Welt, das ist das Entsetzliche in der Herrlichkeit, das Absurde im Verständlichen, das Leiden in der Freude' (Albert Schweitzer), offensichtlich auch noch für uns Christen, und vielleicht ergänzen wir: das Glück des einzelnen auf dem Hintergrund des Unglücks der vielen", meint Klaus Wegenast in der didaktischen Vorbesinnung zu einer Unterrichtsreihe über Glück und Heil.44 Der Dichter des Kirchenliedes „In dir ist Freude in allem Leide" (EKG 288; 1598) würde wohl nicht sagen „auch noch für uns Christen", sondern: „Gerade für uns Christen!" Den Zusammenhang der hier zusammengestellten Elemente der Unverfügbarkeit, der Unermeßlichkeit und der Unvollkommenheit der Glückserfahrung kann man sich an dem Symbol des Lebensweges klarmachen.45 Ausgangssituation: Auf meinem Lebensweg bin ich durch Probleme, die ich mir im einzelnen gar nicht bewußt gemacht habe, in eine Situation geraten, in der ich meine augenblickliche Wirklichkeit nicht mehr richtig wahr nehmen kann. Mein Geist ist nicht gegenwärtig, sondern zerstreut in der Sorge darum, wie es weitergehen soll und in dem Grübeln darüber, wie das alles so kommen konnte und ob ich nicht alles besser ganz anders gemacht hätte. Ich habe das Gefühl, daß ich nicht weiterkomme, daß ich mich in einer Sackgasse befinde und daß ich mich verirrt habe. Lösungsweg: Durch ein mitfühlendes Wort, ein Lächeln, eine Geste eines anderen Menschen oder vielleicht auch durch die Wahrnehmung von etwas Schönem in der Stille, jedenfalls mir selbst ganz unverfügbar und unerwartet, wandelt sich plötzlich die Situation. Die Probleme klären sich oder werden unwichtig. Ich fühle mich erleichtert und erlöst. Eine sichere Methode ist mir nicht bewußt. Das Befolgen der vielen Glücksversprechen hat mich nur noch mehr zerstreut. Anstrengungen haben mich nicht dazu gebracht. Ich erfahre mich als beschenkt ohne mein Verdienst. Maßstab: Ich fühle mich nicht mehr gedrängt; habe nicht mehr das Gefühl, etwas zu versäumen. Ich erfahre so etwas wie einen Stillstand der Zeit, ein „Stück Ewigkeit", eine Auflösung der Grenzen meines Ichs, in die ich mich sonst eingezwängt fühlte, einen Zusammenhang mit dem Ganzen, einen 44 K. Wegenast, Der Religionsunterricht in der Sekundarstufe I, Gütersloh 1980,162 im Zusammenhang eines Unterrichtsentwurfs Glück und Heil - eine themenorientierte Unterrichtseinheit', S. 156-187. 45 Vgl. M. Niggemeyer u. a., Christ werden - wie geht das? Der Weg als Symbol des Glaubens, München 1982. 559 Geschmack des Universums, Liebe zum Unbedingten im Bedingten, ohne es haben zu wollen und es damit wieder zum Gegenstand zu machen, eine Auflösung der Subjekt-ObjektivStruktur, etwas nicht Meßbares und mit keinem Maßstab Vergleichbares, das eigentliche Sein, das unbedingte Glück. Konsequenz: Bittersüß wird mir bewußt, daß ich das unbedingte Glück nur ahne, daß ich kein vollkommenes Glück erfahre und vieles in meinem Leben und in meiner Welt nach wie vor unzulänglich und falsch ist. Ich werde mir des Abstands meiner bedingten Realität zu jenem Unbedingten bewußt. Ich kann das ganze Unbedingte nur in Augenblicken ahnen, kann es aber nicht fassen oder halten. Mein Alltag bleibt vorläufig unverändert. Ich selbst aber bin verändert durch eine Sehnsucht nach dem endgültigen Kommen des Unbedingten. Ich brauche nicht mehr das Glück in der gleichen Richtung zu suchen wie vorher. Ich habe einen neuen Weg erkannt und werde mich daran erinnern, selbst wenn ich ihn zeitweise wieder verliere. Dieser Weg ist hell, auch wenn er scheinbar durch das Dunkel führt. Mir ist deutlich geworden, daß ich im Leid dem Glück manchmal näher sein kann, als wenn ich alles tue, es zu vermeiden, daß gerade das unvollkommene Glück zum Symbol des vollkommenen werden kann, wenn es die Erinnerung daran wachhält. Ich habe die Erfahrung in der Ich-Form formuliert, um deutlich zu machen, daß die Erfahrung, auf die wir uns zuerst beziehen müssen, wenn wir von der Korrelation von Erfahrung und Symbol sprechen, natürlich auch die eigene sein muß. Der Religionslehrer kann sich aus einem so konzipierten Unterricht nicht heraushalten. Er muß dem Schüler schon zu erkennen geben, daß ihn das, über was gesprochen wird, auch persönlich angeht.46 Wieweit er mit der Schilderung solcher Erfahrung in Vorlage geht oder wieweit er diese stückweise zusammen mit den Schülern und in Auseinandersetzung mit geeigneten Texten (vgl. z. B. M 1) erarbeitet, muß aus der jeweiligen Klassensituation entschieden werden. Wenn die Schüler die Erfahrung nachvollziehen können, können die Elemente in folgendem Strukturmodell als zweite Folie für die Interpretation der gemeinsam zu lesenden Texte festgehalten werden. Modell II Modell II Ausgangssituation Lösungsweg Mythische Wirklichkeit Maßstab Konsequenz unermeßlich Alltagswirklichkeit ausweglos unverfügbar unvollkommen 560 Auch hier finden sich zwei verschiedene Wirklichkeitsebenen wie in dem ersten Strukturmodell. Der Übergang von der einen in die andere ist aber nicht gleitend unmerklich, sondern abrupt und muß symbolisch verstanden werden. Die zwei Hälften des gebrochenen Symbols, die erst wieder zusammengefügt werden müssen, um Sinn zu ergeben, sind angedeutet. Ein Text, dessen Struktur dem ersten Schema entspricht, verschleiert seine mythischen Motive. In magischer Beschwörung erscheint die Erhebung des Bedingten zum Unbedingten wie selbstverständlich. Das Unbedingte wird nicht als solches verstanden, sondern nicht hinterfragt vorausgesetzt und wörtlich genommen. Ein Text, dessen Struktur dem zweiten Schema entspricht, wehrt sich gegen das wörtliche Verstehen. Das Unbedingte ist nicht selbstverständlich, sondern wird als unverfügbarer, unermeßlicher Einbruch geschildert, dem gegenüber die Unvollkommenheit der Alltagswelt nur um so deutlicher wird. 3. Arbeit an Materialien Die folgenden Textbeispiele stellen keine in sich geschlossene Unterrichtsreihe dar. Sowohl in einer Reihe über das Thema ,Glück und Heil’ als auch in einer Reihe über Mythen können an ihnen nur Teilaspekte erarbeitet werden, die durch andere, wie etwa die bei Grom/Schillinger beschriebenen Arbeitsformen, ergänzt werden müssen. Wichtig für die Auswahl war, dass an ihnen die Probleme im Umgang mit mythischen Texten gezeigt werden können und daß an ihnen etwas von der Aktualität des Mythos in unterschiedlichen Bereichen deutlich wird, so daß sie zur Anregung dienen können, selbst ähnliche Texte zu suchen. Ebenso wird hier nicht überlegt, ob es besser ist, die skizzierten Ergebnisse im offenen Unterrichtsgespräch, im durch Arbeitsanweisungen vorstrukturierten Gespräch oder im Lehrervortrag zu erarbeiten. Das muß aus der jeweiligen Unterrichtssituation entschieden werden. In meinem Unterricht hat es sich als fruchtbar erwiesen, mit den zwei erläuterten Modellen zu arbeiten und diese sozusagen als heuristische Folien neben die Texte zu legen. Diese stellen eine visualisierte Erwartungshaltung dar, die ohnehin auftaucht, sobald bestimmte Stichworte gefallen sind und die man sich deshalb bewußt machen sollte. Dabei fällt einem vieles auf, was man sonst überlesen hätte. Unbestritten ist aber auch, daß der individuelle Zugang durch solche Modelle verbaut werden kann. Hier müssen immer wieder Freiräume gegeben werden, in denen sich 46 Es geht hier nach Tillich um die Authentizität des Symbols: „Wenn wir nach Kriterien für die Wahrheit` der religiösen Symbole fragen, müssen wir zwei Kriterien nennen: die Authentizität und die Angemessenheit. Ein Symbol ist authentisch, wenn es eine lebendige religiöse Erfahrung ausdrückt, und es ist nicht authentisch, wenn es diese Erfahrungsgrundlage verloren hat und sein Weiterbestehen nur noch der Tradition oder seiner ästhetischen Wirkung verdankt." P. Tillich, Recht und Bedeutung religiöser Symbole, in: ders., Ges. Werke, Bd. 5, Stuttgart 1964, S. 242 f. 561 der Schüler Identität und Differenz seiner Wahrnehmung klar machen kann. Die Strukturmodelle sind natürlich nur idealtypisch. Jeder konkrete Text ist ungleich komplexer und läßt sich nicht einfach in einer Schublade ablegen. Oft sind mehrere Deutungen möglich. Insofern kann hier auch immer nur eine mögliche Deutung vorgelegt werden. Wenn in der Klasse Diskussionen um die jeweilige Zuordnung entstehen, haben die Modelle ihre Funktion erfüllt. Beispiele zu o. g. Strukturmodellen MATERIAL 1 „Sie waren sieben. Helio hatte ein Mädchen mitgebracht, das Bim hieß und fröhlich aussah. Das kleine Auto ächzte, aber es fuhr. Sie parkten auf einem Waldweg und liefen zum Fluß hinunter. Der Wasserfall rauschte, daß ihr Geschrei ganz unbedeutend klang, und der Kiesstrand war in der Sonne weiß. Rolf legte den Arm um Kais Schultern. Kai fühlte sich wohl. „Ist irre schön!" sagte Do. Sie rollte die Decken aus. Kai legte sich auf den Bauch und starrte ins Wasser. Ein Stein war ein Löwenkopf. Auf seiner Nase wuchs Moos. Bim ging als erste ins Wasser. „Es ist eiskalt!" schrie sie. Do folgte ihr und quietschte. Die Jungen legten Steine aufeinander. Kai hörte Rolf lachen. Sie war plötzlich sehr glücklich. Sie schloß die Augen und sperrte so das Glück in sich ein. Es roch nach Holzkohle und der Fluß rauschte und trug alle Gedanken mit sich fort ... Sie lachten, balgten herum, sprangen ins Wasser, erfanden Spiele und vergaßen sie wieder. Die Zeit sank zusammen wie Seifenschaum. Der Nachmittag gab den Steinen wärmere Farbtöne, und der Abend sammelte alles ein. „Ach ja", seufzte Helio. Wenn die Realitäten nicht wären!" „Du müßtest einen ja nicht unbedingt daran erinnern", sagte Kai und dachte auch an die Schule.... Aus: G. Ruck-Pauquöt, Der eine Sommer, Ueberreuter, Wien ua 1972, 115 f. Der Textauszug aus einem Jugendroman scheint ein typisches Glückserlebnis Jugendlicher wiederzugeben. Ähnliches hat vielleicht mancher schon einmal erlebt. Deshalb steht dieser Text am Anfang. Er soll die Sprachlosigkeit überwinden helfen. Zugleich kann daran gezeigt werden, wie genau man lesen muß, um die verborgenen Mythisierungen zu erkennen. Beim ersten Lesen scheint der Text dem gebrochenen Mythos zu entsprechen. Die Zeit ist nicht meßbar; sie „sank zusammen wie Seifenschaum". Das Glück kommt scheinbar plötzlich und ist nicht perfekt: „Wenn nur die Realitäten nicht wären." Beim genaueren Lesen erst wird die mythische Stilisierung deutlich. Warum sind es ausgerechnet sieben wie die sieben Raben, die Sieben gegen Theben oder die glorreichen Sieben? Helio steht nicht zufällig am Beginn der Szene. Sein Name erinnert an den Sonnengott. Das ächzende Auto führt auf Nebenwegen zu einer Initiation der Mysten eines Sonnen- und 562 Ferienmysteriums. Der rauschende Wasserfall, der weiße Strand und das eiskalte Wasser sind Reinigungssymbole. Eiskalt muß das Wasser sein, um eine Prüfung für die quietschenden und schreienden Mysten darzustellen. Das Aufeinanderlegen der Steine erinnert an die Aufrichtung von Dolmen oder Menhiren. Kai wird so in die Szene eingeführt, daß sie nicht anders als glücklich sein kann: - Sie fühlt sich geborgen durch Rolfs Arm um die Schulter. - Das Außerordentliche der Situation wird verkündigt. - Sie konzentriert sich auf ihre Gefühle, indem sie sich auf den Bauch legt. - Ihre Gedanken werden fortgeführt. - Eine harmonische, kindlich- unschuldige Gemeinschaft wird beschworen: „Sie lachten, balgten herum ..." - Die Natur wird lebendig: „Ein Stein war ein Löwenkopf`, „Der Abend sammelte alles ein" ... Der scheinbar locker dahingeschriebene Text stellt sich bei genauem Lesen als eine hochstilisierte, durchkomponierte Suggestion einer Glückserfahrung heraus, die sich zwischen den Leser und seine eigenen Erfahrungen drängt und sie vergessen läßt. Sicher, er hat auch schon einmal so etwa ähnliches erlebt. Aber so vollkommen war es längst nicht. Da waren keine sieben in einem alten ächzenden Auto, sondern nur sechs mit simplen Fahrrädern. Da war der Kies nicht weiß, sondern an manchen Stellen lag Müll umher. Da liefen nicht alle zum Fluß hinunter, sondern einer blieb oben am Hang stehen, weil er woanders hinwollte. Da gab es nicht nur Lachen, sondern auch ärgerliche Worte, weil einer die Stöpsel für die Luftmatraze verloren hatte. Da seufzte einer nicht erst am Abend, sondern den ganzen Tag über, weil er am nächsten Tag eine Prüfung hatte und deshalb die ganze Zeit vergeblich versuchte, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Da lachten und balgten nicht alle, weil die Beziehung zwischen zweien schon lange nicht mehr gut war, wie alle wußten usw. Trotzdem ist da in der Erinnerung eine echte Glückserfahrung, die in all ihrer Unzulänglichkeit mehr wert ist als die künstliche in diesem mythisierenden Text, der nach dieser Realitätsprüfung doch eher dem ersten ungebrochenen Strukturmodell zu entsprechen scheint. 563 MATERIAL 2 MATERIAL 2 „Einfach überirdisch, wie schnell DHL..." Dynamiker können Wunder vollbringen Mit DHL WORLDWIDE EXPRESS. Denn DHL hat mehr internationale Erfah rung als jeder andere Kurierdienst. Optimal für schnellen Ersatzteil Service: Die DHL Experten vor Ort. Sie kennen überall den schnellsten Weg durch den Zoll und leiten jede Sendung persönlich zum Jetzt auf vielen Destinationen noch Preisgünstiger Empfänger: An früh bis spät DHL. Mehr Länder mehr Erfahrung. Damit Sie mehr bewegen können. Und selbst am Sonnabend, wenn es sein muß. Das gilt weltweit t Für alle Kontinente. Wenn Sie also Ihren Service verbessern wollen: Zeigen Sie, wie's aufwärts geht. Rufen Sie DHL. Dwö wm- C..kkn.W d i e ' w e * r ~ jk Vot K.4ow k**.20 ja. Dieser Reklametext ist leicht erkennbar als ein Text, der dem ungebrochenen ersten Strukturmodell entspricht. Die einzelnen Elemente sind folgendermaßen besetzt. Ausgangssituation Lösungsweg Maßstab Konsequenz Mythische Überirdisch Optimal / aufwärts Rufen Sie DHL Service Alltags soll verbessert wirklichkeit werden Es handelt sich um einen Text der unter der Überschrift ,Glück als Verdienst' angesprochenen Konsumreligion, von dem man viele ähnliche in Reklameanzeigen finden kann. MATERIAL 3 Cornelia: Das Kind der Geliebten, Aus der Romanze wurde ein Bund fürs Leben, Mero Druck, Geesthacht 1983 (= Arabella 37). Die junge hübsche Fabrikantenwitwe Ellen Andrea Bodewig hat unter dem Pseudonym Susanne Graf begonnen, Unterhaltungsprogramme zu schreiben, um sich und ihren kleinen Sohn nach dem Tode ihres Mannes, der ihr nichts als Schulden hinterließ, durchs Leben zu bringen. Sie hat Erfolg bei dem Kronenverlag. Als sie aber dem Juniorchef Stefan von Sellerbeck zum ersten mal gegenübersteht, erkennt sie in ihm jenen Fremden, mit dem sie schon einmal bei einer früheren, zufälligen Begegnung einen heftigen Flirt gehabt hat. Sie glaubt, daß sie ihren Erfolg nur seiner Protektion zu verdanken hat, und flieht beschämt aus dem Verlagsgebäude. Der Verlagsleiter und Stiefvater von Stefan, Dr. Grothe, arrangiert aber noch einmal ein Treffen der beiden: Stefan wiederholte, was er schon gesagt hatte: „Mein Vater hat mir von Susanne Graf erzählt, es wurde immer nur von Susanne Graf gesprochen. Ich habe sie bewundert wegen ihrer Tapferkeit. Aber ich habe nicht gewußt, daß sie die Frau ist, die ich liebe, - daß sie Ellen Andrea Bodewig ist." „Du hast es nicht gewußt." Ellen Andrea fragte es nicht, sie sprach es nur nach, und sie glaubte ihm. Sie merkte nicht, daß sie das vertraute Du erwiderte, und langsam wuchs das Begreifen, daß es sinnlos gewesen war, davonzulaufen. Vor ihrem eigenen Glück war sie davongelaufen. Hatte das Glück sie jetzt eingeholt? „Hast du gesagt, daß du sie liebst?" Das war eine Frage, aber sie war nicht von Zweifeln getragen, sondern von dem jubelnden Begehren, es noch einmal zu hören. „Ja, Ellen-Andrea, ich liebe dich." Stefans Stimme vibrierte, und trotzdem klang sie unerschütterlich fest. In seinen Augen lag jene Tiefe, die nur das aus innerstem Herzen kommende Gefühl zu geben vermag. „Ich liebe dich. Vielleicht ist es ein Wunder, weil ich dich schon liebte, bevor ich dich kannte. Aber für mich ist es ein beseligend selbstverständliches Wunder, Ellen-Andrea. Ich glaube an seine ewige Beständigkeit." 565 Traumverloren sah sie zu ihm auf. Ihre liebliche Schönheit wurde verklärt von dem Glauben an das Wunder. „Ist Liebe nicht immer ein Wunder?" fragte sie leise. Sie las das ehrliche Bekenntnis in Stefans Augen, und ihr dummer Stolz brach endgültig zusammen. Stefans Liebe hatte nichts mit Mitleid zu tun. Damals, vor vier Jahren, hatte sie noch kein Mitleid gebraucht, und hatte nicht auch sie damals schon gespürt, daß die Begegnung mit Stefan schicksalhaft war? Die lange gezügelte Flamme ihrer Liebe schlug hell lodernd empor, und sie wurde geschürt von dem uneingeschränkten Vertrauen zu dem geliebten Mann. „Ich liebe dich, Stefan", sagte sie schlicht. „Mit meiner Liebe vertraue ich mich und Christian dir an, - bis an das Ende meines Lebens." „Bis in alle Ewigkeit, Liebste", ergänzte er heiß. Seine Lippen preßten sich auf die ihren, suchten sich in einem leidenschaftlichen Kuß die Bestätigung ihres berauschenden Bekenntnisses. Draußen war es fast dunkel geworden. Stefan zog Ellen-Andrea ans Fenster. Weit und weiß lag der Schulhof vor ihnen. „Ich war dreizehn, als Dr. Grothe meine Mutter heiratete", sagte er ernst. „Er ist mir ein guter Vater gewesen. Weißt du, was Christian mich gefragt hat?" Durch ihren Körper lief ein Zittern. Sie schwieg, aber sie ahnte, was es war. „Ob ich sein Papi sein könnte", fuhr Stefan leise fort. „Ich werde ihm ein sehr, sehr guter Vater sein, Ellen-Andrea." Sie schmiegte sich enger an ihn. „Danke, Stefan. Ich weiß es." „Damals war auch Weihnachten. Du hattest viele Kinder beschert. In diesem Jahr bescheren wir unser Kind, unter unserem Tannenbaum." Christians Jauchzen drang von der Küche her in die Seligkeit ihres Sich-Findens. „Prima, Opa", hörten sie ihn sagen. „Das wird ein großes Haus. Papi und Mami haben ein Zimmer. Hier wohne ich. Da wohnst du, manchmal, und Omi. Ich hab doch eine Omi?" „Gewiß, Christian. Eine sehr liebe Omi." „Feiern wir in dem Haus Weihnachten?" „Im nächsten Jahr, Christian. Im nächsten Jahr werden wir in dem neunen Haus Weihnachten feiern", antwortete Dr. Grothes sonore Stimme. Ellen-Andreas Augen füllten sich mit Tränen. „Opa und Omi. Hast du es gehört, Stefan? Weihnachten - das ist eine sehr glückliche Zeit." Zart küßte Stefan die Tränen von den blauen Augensternen. „Glück ist jeder Tag, den wir zusammen sind, Ellen-Andrea", sagte er innig. - ENDE In diesem Text sind besonders die Aeternitätsmotive („Bis in alle Ewigkeit") und die Metamorphosemotive („Ist Liebe nicht immer ein Wunder" u. ö.) auffällig. Der Alltag wird verwandelt durch das Schicksal. Zwar scheint damit auch etwas Unverfügbares in das Leben eingegriffen zu haben, aber das Wunder wird als „selbstverständlich" betrachtet. Das Glück ist nicht unvergleichlich, sondern „berauschend" und „sehr, sehr gut". Die Flucht aus dem Alltag ist perfekt. In der Trivialliteraturforschung spricht man von evasorischer Lektüre.47 Im Religionsunterricht ist interessant, wohin die Flucht 47 Vgl. H. J. Neuschäfer, Mit Rücksicht auf das Publikum, in: Poetica 4,1971; S. 479-514 und D. Grenz, Kritische Anmerkungen zu neueren Ansätzen der Trivialliteraturdidaktik aus rezeptionsästhetischer Sicht, in: Wirk. Wort, 32. Jg., 1982, S. 281. 566 geht, nämlich in eine heile Weihnachtswelt, die nicht wie bei Lukas am Anfang eines Weges steht, der zum Kreuz führt, sondern am Ende einer ungebrochenen mythisierenden Erzählung. MATERIAL 4 Sein Gesicht ist nicht das Gesicht eines Mannes, den Geld glücklich macht. Sein Gang ist nicht der Gang eines Mannes, dem Geld Sicherheit verleiht. Seine Hände sind nicht die Hände eines Mannes, den Geld beruhigt. Und doch fällt stets sein Name, wenn von den reichsten Männern der Welt die Rede ist ... So resigniert, wie Onassis am Ende seines Lebens und wie Paul Getty sen., fast am Ende seines Lebens, spricht auch der 48jährige Flick über das Geld, das seinen Ruhm begründete. Und ihm das nahm, worauf ein Mensch gewöhnlich den größten Wert legt: sein privates Glück ... In diesen Tagen wurde seine zweite Ehe geschieden. Er brachte das, wie er sagt, „große Opfer", sich von seiner Frau Ursula zu trennen: einer Försterstochter - hübsch, blond und fast 20 Jahre jünger -, die offenbar nicht gelernt hat, daß zu den Freuden des Geldes auch die Pflichten gehören ... manchmal sogar überwiegen ... Ich besuche Friedrich Karl Flick an diesem Frühlingstag in seinem Haus in DüsseldorfMeerbusch. Ein aufwendiger Bungalow mit überdachtem Swimmingpool - gewiß. Ein großer Park - nun gut. Doch was nutzt der Park, wenn keine Kinder darin toben? Was nützt das Haus, wenn keine Frau es führt? ... „Meine Mutter hat sich vollkommen auf die Verpflichtungen meines Vaters eingestellt", sagt er. „Sie war eben auch bereit, entsprechende Opfer zu bringen. Es ist glaube ich, eine der positivsten Seiten meiner Mutter gewesen, daß sie sich nie über mangelnde Anwesenheit ihres Mannes beklagt hat und da nie zu falschen Reaktionen in bezug auf ihre eigene Person gekommen ist. Sondern daß sie sich treu an der Seite meines Vaters in allen Zeiten bewährt hat." Warum, mag er denken, konnte ich nicht das gleiche Glück haben? ... Ein Mann mit den Erfahrungen des Friedrich Karl Flick - wie möchte er seine Töchter erziehen? „Glücklich sollen sie werden. Und einen netten Mann finden", ist seine konservative Ansicht. Liselotte Millauer: Können Sie überhaupt ruhig schlafen, Herr Flick? In: Bild am Sonntag 22/1975, 16 ff. Dieser ideologische Text ist ein Beispiel für den Einsatz des Paradosismotivs zur Mythisierung. Zweimal ist vom Opfer die Rede. Die Mutter von Herrn Flick brachte das Opfer angeblich für die Familie. Daher stammt seine konservative Ansicht vom Glück. Man muß schon genau lesen, um zu merken, daß Flick sein „großes Opfer" eben nicht der Familie, sondern dem liberalistisch-kapitalistischen Götzen ,Geld` gebracht hat, das ihn angeblich nicht glücklich macht. Daß sein Name heute nicht nur fällt, wenn von den reichsten, sondern auch wenn von den betrügerischsten Männern der Welt die Rede ist, konnte die Autorin damals noch nicht wissen. Eine Konfrontation mit entsprechenden Berichten vom Flick-Skandal brächte eine Brechung, die den liberalistischen ungebrochenen Mythos, der hier noch von einem konservativen überlagert wird, auch symbolisch nicht mehr akzeptabel machen würde, sondern ihn eliminieren würde. 567 MATERIAL 5 Brüder Grimm (Brüderchen und Schwesterchen) im Vergleich mit Mk 5,35 ff. (Die Tochter des Jairus) An diesem Märchen, das aus Platzgründen hier nicht abgedruckt werden kann, das aber leicht zu beschaffen ist, kann eine Struktur gezeigt werden, die für viele Märchen gilt. Es finden sich Metamorphose- (Verwandlung des Brüderchens, der Hexentochter u. a.) und Aeternitätsmotive („ward sie wie der lebendig"). Die Verwandlung des toten Schwesterchen in das „lebendige, frische und rothe" wird durch die dreifache, magische Wiederholung und Beachtung einer Formel bewirkt. Das Wunder ist wie selbstverständlich und eben nicht verwunderlich dargestellt.48 Das Glück wird ganz äußerlich darin gesehen, daß die Feinde eines grausamen Todes sterben und die Protagonisten noch lange glücklich leben. In anderen Märchen wird der Held am Schluß mit Macht und Reichtum belohnt.49 Das Glück am Ende ist ungetrübt wie in vielen Märchen.50 Bei Markus dagegen ist das Wunder unverfügbares, unerwartetes Geschenk und völlig unfaßbar, so daß alle „vor Staunen außer sich" sind (V. 42). Am Ende steht nicht die heile Welt, sondern das Schweigegebot des Messiasgeheimnisses. Das Wunder hinterläßt die Frage: „Wer ist dieser?" (Mk 4,41), die erst von dem heidnischen Hauptmann unter dem Kreuz in einer für die Theologie des Markus bedeutsamen Weise beantwortet wird (Mk 15,39). Man kann in diesem durchgängigen indirekten Verweis auf das Kreuz bei Markus die gewiß nicht immer leicht zu erkennende Brechung der mythischen Metamorphose-, Aeternitäts- und Apotheosemotive im Sinne vom Modell II sehen. 48 Vgl. P. L. Sauer, Gleiches und Ungleiches: Wunder und Wunderbares im Märchen und in der Bibel, in: J. Janning u. a. (Hgg.), Gott im Märchen, Kassel 1982, S. 56. 49 Vgl. G. Lange, Märchen aus der Sicht eines Religionspädagogen, in: J. Janning, vgl. Anm. 48, S. 40 und S. 51: „Den Märchenhelden sind Reichtum und Macht erstrebenswerter als die christliche Moral vorsieht. Endziel ist ein durchaus diesseitiges Glück." „Der christliche Glaube versteht sich als ,Weg`, der darüber hinaus führt." 50 Vgl. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt 1973 (= stw 3), S. 410 und S. K.Langer, Philosophie auf neuem Wege, Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, (1942), Frankfurt 1965, S. 176 ff. zum Unterschied des Mythos vom Märchen: „Sein Tätigkeitsbereich ist die wirkliche Welt, denn was er symbolisiert, gehört der wirklichen Welt an, gleichviel in welcher phantastischen Ausdrucksform. (Genau entgegengesetzt verfährt das Märchen, indem es ein natürliches Individuum außerhalb der Wirklichkeit versetzt.)" Mir scheint, daß dies in neueren, besonders in katholischen religionspädagogischen und theologischen Märchenexegesen oft vernachlässigt wird. 568