978-3-87387-454-1: Marshall Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation

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978-3-87387-454-1: Marshall Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation
Leseprobe:
Unser Repertoire an Schimpfwörtern ist oft umfangreicher als der Wortschatz, mit dem wir unseren
Gefühlszustand klar beschreiben können. Ich habe 21 Jahre lang verschiedene amerikanische
Bildungsstätten durchlaufen und kann mich nicht daran erinnern, dass mich einmal jemand gefragt
hätte, wie ich mich fühle. Gefühle wurden einfach nicht als wichtig angesehen. Was sehr geschätzt
wurde, war „die richtige Art zu denken“ – nach Definition derer, die Stellungen von Rang und Autorität
innehatten. Wir werden eher dazu trainiert, „außenorientiert“ zu leben, als mit uns selbst in Kontakt zu
sein. Wir lernen „in unserem Kopf“ zu sein und uns zu fragen: „Was halten die anderen für richtig in
dem, was ich sage und tue?“
Eine Auseinandersetzung, die ich im Alter von etwa neun Jahren mit einer Lehrerin hatte, macht
deutlich, wie die Entfremdung von unseren Gefühlen ihren Anfang nehmen kann. Eines Tages
versteckte ich mich nach der Schule im Klassenraum, weil draußen ein paar Jungen warteten, um
mich zu verprügeln. Eine Lehrerin entdeckte mich und sagte mir, ich solle die Schule verlassen. Als
ich ihr erklärte, dass ich Angst hätte rauszugehen, verkündete sie: „Große Jungs haben keine Angst.“
Ein paar Jahre später, im Sportunterricht, wurde diese Haltung noch mehr verstärkt. Es war typisch für
die Trainer, ihre Sportler einzustufen nach deren Bereitschaft, „alles zu geben“ und immer
weiterzuspielen, egal wie weh ihnen gerade etwas tat. Ich lernte diese Lektion so gut, dass ich einmal
mit einem gebrochenen, unbehandelten Handgelenk einen Monat lang weiter Baseball spielte.
In einem GFK-Workshop erzählte ein College-Student von einem Mitbewohner, der die Musik so laut
aufdrehte, dass er nicht schlafen konnte. Auf die Frage nach seinen Gefühlen in der geschilderten
Situation antwortete der Student: „Ich habe das Gefühl, dass es nicht in Ordnung ist, nachts so laut
Musik zu hören.“ Ich wies darauf hin, dass, wenn er nach dem Wort fühlen das Wort dass sagt, er eine
Meinung äußert, aber nicht seine Gefühle offenlegt. Auf die nochmalige Bitte, seine Gefühle
auszudrücken, erwiderte er: „Ich habe das Gefühl, die Leute, die so was machen, haben eine
Persönlichkeitsstörung.“ Ich erklärte ihm, dass auch dies eine Meinung statt einer Gefühlsäußerung
sei. Er machte eine nachdenkliche Pause und sagte dann vehement: „Ich habe überhaupt keine
Gefühle dazu!“
Dieser Student hatte offensichtlich starke Gefühle. Leider wusste er nicht, wie er sich seiner Gefühle
bewusst werden, geschweige denn sie in Worte fassen konnte. Diese Schwierigkeit, Gefühle
wahrzunehmen und auszudrücken, ist weit verbreitet, besonders bei Anwälten, Ingenieuren,
Polizisten, Managern und Leuten, die im Militär Karriere machen – Menschen, deren Fachsprache sie
von Gefühlsäußerungen abhält. Familien müssen einen hohen Preis bezahlen, wenn ihre Mitglieder
sich keine Gefühle mitteilen können. Die Country- und Western-Sängerin Reba McIntire schrieb einen
Song nach dem Tod ihres Vater: „Der tollste Mann, den ich nie kannte.“ Damit drückt sie zweifelsohne
die Gefühlslage vieler Menschen aus, die nie in der Lage waren, die emotionale Verbindung zu ihrem
Vater aufzubauen, die sie gerne gehabt hätten.
Ich höre immer wieder die Feststellung: „Verstehen Sie mich nicht falsch – ich bin mit einem
wunderbaren Mann verheiratet – ich weiß nur nie, was er fühlt.“ Eine dieser unzufriedenen Frauen
brachte ihren Mann mit zu einem Workshop, wo sie zu ihm sagte: „Ich fühle mich, als wäre ich mit
einer Wand verheiratet.“ Daraufhin gab der Mann eine ausgezeichnete Imitation einer Wand zum
besten: Er saß da, steif und stumm. Verzweifelt drehte sich die Frau zu mir und rief aus: „Sehen Sie!
Genau das passiert die ganze Zeit. Er sitzt da und sagt nichts. So lebt es sich mit einer Wand.“
„Das hört sich für mich so an, als wären Sie einsam und hätten gerne mehr emotionalen Kontakt zu
Ihrem Mann“, sagte ich. Als sie zustimmte, versuchte ich ihr aufzuzeigen, dass Äußerungen wie: „Ich
fühle mich, als wäre ich mit einer Wand verheiratet“ nicht dazu geeignet sind, ihrem Mann ihre Gefühle
und Wünsche nahezubringen. Sie werden sogar höchstwahrscheinlich als Kritik gehört und nicht als
Einladung, mit den Gefühlen in Kontakt zu kommen. Des weiteren führen solchen Äußerungen zu sich
selbst erfüllenden Prophezeiungen. Ein Ehemann hört z.B. die Kritik, dass er sich wie eine Wand
verhält; er ist verletzt und entmutigt und reagiert nicht; und so bestätigt sich das Bild seiner Frau von
ihm als Wand.
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