Friedrich Heubel Moral und Gefühle In diesem Kurs stehen Fallgeschichten im Mittelpunkt, denn wir halten die Diskussion von Fallgeschichten für einen Königsweg zur Ethik. Wenn Fallgeschichten vorgestellt und diskutiert werden, kommt es oft zu heftigen Gefühlen, wie Mißbilligung, Empörung, Verurteilung, ja sogar Verdammung. Wenn die Fallgeschichte anschließend in der Diskussion „aufgearbeitet“ wird, bedeutet das zugleich ein „Abarbeiten“ dieser Gefühle, ähnlich wie in der bekannten „Trauerarbeit“. Das heißt nicht, daß diese Gefühle einfach verschwinden, sondern daß sie geklärt, benannt, durch andere ergänzt oder auch ersetzt werden und sich idealerweise ein Zustand von Besonnenheit einstellt. Es ist deshalb nützlich, sich klarzumachen, wie sich die ethische Perspektive bei dieser Arbeit an Gefühlen auswirkt. Dabei wiederum hilft es, sich zuvor über bestimmte, unterscheidbare Arten von Gefühlen klarzuwerden. Deshalb stelle ich zunächst zwei Arten von Gefühlen, die Sie alle kennen, einander gegenüber: Das wohlige Entspannungsgefühl in der Badewanne Triumph nach gewonnem Kampf Zuversicht Freude an einem schönen Kunstwerk Gutes Gewissen Hunger, Durst Trauer nach einem Verlust Angst Mißvergnügen bei Häßlichem Schlechtes Gewissen Es ist klar, worin sich diese beiden Gruppen von Gefühlen unterscheiden: Die ersten sind „positive“, „gute“, „angenehme“, die zweiten sind „negative“, „schlechte“, „unangenehme“ Gefühle. Die Unterscheidung ist die nach – wie die Philosophen sagen würden – „Lust und Unlust“. Nun haben wir es mit Ethik zu tun und Ethik hat mit dem Handeln zu tun. Dabei sind die Gefühle von Lust und Unlust u. a. deshalb wichtig, weil sie uns jeweils zu einem charakteristisch verschiedenen Verhalten oder Handeln antreiben. Angenehme Gefühle oder Gefühle der Lust sind mit dem Wunsch verbunden, sie möchten anhalten, bleiben, es möge sich nichts ändern. Mit „Verweile doch, du bist so schön“ läßt Goethe den Faust diese Art von Gefühlen beschreiben. Oder: „Das gute Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen“. Unangenehme Gefühle oder Gefühle der Unlust sind dagegen mit dem Wunsch verbunden, sie möchten vergehen oder aufhören. Sie sind Anlaß, die das unangenehme Gefühl auslösende Situation zu ändern, und zwar entweder dadurch, daß man die Störung aktiv beseitigt oder, wenn das nicht möglich ist, sich selbst durch Distanzierung oder Flucht aus der Situation entfernt. Unter den Unlustgefühlen gibt es nun einige, die uns zu wesentlich mehr veranlassen als zu einem kurzfristigen, auf die jeweilige Einzelsituation bezogenen Vermeiden, zu mehr als einem „weg damit“ oder „weg hier“. Zum Beispiel: Scham Schuld Peinlichkeit. Diese Gefühle sind Unterformen des schlechten Gewissens. Sie enthalten über die bloße augenblickliche Vermeidung hinaus zusätzlich einen Antrieb zur Bestimmung künftigen Verhaltens überhaupt. Die Unlust soll nicht nur für die gegenwärtige Situation, sondern längerfristig für die Zukunft beseitigt und bestimmte Handlungsweisen überhaupt vermieden werden, solche Handlungsweisen nämlich, deren man sich schämt oder die praktiziert zu haben man sich schuldig fühlt. In unserem Zusammenhang ist nicht wesentlich, ob man wirklich „tätige Reue“ zeigt, das heißt, ob man die Kraft aufbringt, der Weisung des Gewissens auch wirklich zu folgen. Wichtig ist, daß es diese Art von Gefühlen gibt: Gefühle, die bestimmte Handlungsweisen (und damit verbundene andere Gefühle) kritisieren können. Diese richtungweisenden Gefühle unterscheiden sich von allen anderen Gefühlen dadurch, daß sie einen gefühlsunabhängigen Beurteilungsmaßstab voraussetzen. Denn ohne Kriterien wie Normen und Werte, anhand deren es Handlungsweisen beurteilt, kann das Gewissen gar nicht arbeiten. Es setzt sie notwendig wie einen kognitiven, nicht von anderen Gefühlen irritierbaren Apparat voraus. Gefühle, die diese Voraussetzungen haben, kann man „moralische“ nennen. Beispiele sind Achtung und Selbstachtung. Es ist kein „gutes Gefühl“, die Achtung gegenüber einem anderen Menschen zu verletzen. Deshalb machen wir einen scharfen Unterschied zwischen Handlung und Person: Auch wenn wir die Handlung eines anderen verwerflich finden, halten wir uns doch davon zurück, die handelnde Person moralisch zu verurteilen. Wenn wir eigenes Verhalten beurteilen und uns „nicht mehr im Spiegel ansehen“ können, unser Verhalten also mit unserer Selbstachtung im Widerspruch steht, beschließen wir „das soll nicht wieder vorkommen“. Umgekehrt beim Loben: Wir haben kein Problem damit, die großherzige Handlung eines anderen zu loben, aber bei uns selbst scheuen wir wegen des „unangenehmen Gefühls“ beim Eigenlob davor zurück, uns selbst auf die Schulter zu klopfen.