Bischof em. Maximilian Aichern (Diözese Linz) Grußwort zur Festveranstaltung „120 Jahre Rerum Novarum. Christliche Soziallehre gestern – heute – morgen“ am 23. Mai 2011 im Parlament, Nationalratssitzungssaal Sehr geehrte Damen und Herren! 120 Jahre ist es her, dass Papst Leo XIII. den Impuls dafür gab, die Kirche müsse der modernen Welt mehr Rechnung tragen und die soziale Lage der sich im 19. Jahrhundert dramatisch veränderten Welt mit gestalten. Wenn ich sage, die Kirche gestaltet die Welt mit, dann ist hier schon das Kirchenverständnis des II. Vatikanischen Konzils (1962-65) vorweggenommen, demzufolge sich die Kirche nicht nur in Person des Papstes und der Bischöfe, sondern als wanderndes Volk Gottes betrachtet. Die Enzyklika Rerum Novarum legte den Grundstein für bisher 120 Jahre moderne katholische Soziallehre. Kirchliche Sozialverkündigung muss immer vor dem Hintergrund verstanden werden, dass die Kirchenleitung nicht selbst die Politik prägt, sondern in Korrespondenz mit den sozial gestaltenden Kräften und v. a. mit den Christinnen und Christen steht, die sich sozial engagieren. Eine der wichtigsten Fragen in der Gründungszeit war der christliche Zugang zur gewerkschaftlichen Betätigung, das Ernstnehmen des unfassbaren Leides der Lohnarbeiter, der Einsatz für gerechte Arbeitslöhne, soziale Absicherungen (z.B. Krankenversicherung). Dabei lag eine Barriere zwischen der Kirche und den marxistisch orientierten Arbeitervereinen, die durch das Engagement der christlichen Gewerkschaften gemildert wurde. Nach der Jahrhundertwende wurde dies durch eine pragmatische, kollegiale Zusammenarbeit der verschiedenen Fraktionen von Gewerkschaften in einer Einheitsgewerkschaft mit Beteiligung engagierter Christen und Christinnen fortgeführt. In dieser Linie ist z.B. die Gründung der FCG erfolgt, aber ebenso die ernsthafte Zusammenarbeit mit dem ÖGB insgesamt. Begleitet und glaubwürdig war diese soziale Verkündigung der Kirche immer nur dadurch, dass es tatsächlich Christen gab, die sich für mehr Gerechtigkeit einsetzten, für die Schaffung von Organisationen wie der allgemeinen Sozialversicherung, wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen, sozialen Wohnbau, für familienfreundliche Arbeitsbedingungen und besondere Rechte für Kinder und Eltern. Hier ist es unerlässlich, die Katholische Arbeiterbewegung 1 (später „ArbeitnehmerInnen-Bewegung“, KAB) oder die Katholische ArbeiterInnen-Jugend (KAJ) zu erwähnen. Es wurden auch Institutionen wie die Katholische Sozialakademie Österreichs (KSOE) oder das Sozialreferat der Diözese Linz gegründet, um die Verkündigung der Soziallehre der Kirche wirkungsvoller zu entfalten. (Nicht zuletzt wurde schon auf Wunsch Papst Leos XIII. an allen theologischen Hochschulen und ReligionslehrerInnenAkademien der Unterricht in Sozialethik und Soziallehre der Kirche als Fixpunkt eingeführt.) Aber auch andere kirchliche Organisationen wie die Caritas, Bewegungen wie „Pax Christi“ oder die in Österreich sehr große Katholische Männer- und Frauenbewegung (KMB und KFB) haben sich in ihren sozialen Anliegen eingebracht und an der sozialen Verkündigung der Kirche durch ihre Taten mitgewirkt. Oft waren es gerade diese Kräfte, die den Impuls zu einer neuen Erklärung, einer weiteren päpstlichen Enzyklika, einem Sozialhirtenbrief gaben, weil sie von der Basis her ein neues Problem vorbrachten und um die kirchliche Unterstützung für diesen Einsatz ersuchten. Durch diesen Einsatz haben in den 60er Jahren das Eintreten für die „Dritte Welt“ und noch später die Sensibilisierung für Ökologie als Überlebensbedingung der Menschheit Einklang in die kirchliche Sozialverkündigung gefunden. Vor allem die modernen und uns geläufigeren sozialen Initiativen von Christinnen und Christen wurden in den 3 Sozialenzykliken Papst Johannes Pauls II. (Laborem Exercens, Sollicitudo Rei Socialis und Centesimus Annus) aufgearbeitet. In ihnen klingen die heutigen Fragen des sogenannten Spätkapitalismus, der Dominanz der beschleunigten Finanzmärkte und ihre verheerenden sozialen Auswirkungen, die notwendige Unterstützung für eine gesteigerte Anti-Hunger-Politik im Sinn des UN-Millenniumsgipfels, die Umweltkrise und die Notwendigkeit einer nachhaltigeren Wirtschaft deutlich an. Besonders kritisierte Johannes Paul II. die Mentalität eines modernen „Ökonomismus“, einer gefährlichen Ideologie und Irrlehre unserer Zeit, in der tendenziell alles Menschliche zum Marktwert umgerechnet und in Geld ausgedrückt wird. Auch auf EU-Ebene ist kirchliches Sozialengagement wirksam und konnte Erfolge erzielen. In Österreich ist mir z.B. das Engagement für Mindestsicherung – auch wenn diese noch zu niedrig ist! – ein großes Anliegen. Die katholische Soziallehre verstand und versteht sich auch als eine Theorie, die die vorhandene gesellschaftliche Entwicklung anhand bestimmter ethisch-humanistischer Grundüberzeugungen begleitet und interpretiert, gelegentlich auch Vorschläge zur Reform, 2 zur politischen Gestaltung macht oder Forderungen erhebt, bestimmte Maßnahmen lobt und unterstützt. Aus den konkreten Anlässen in Österreich sind beispielsweise wichtige Initiativen für ein allgemeines Sozialversicherungsrecht, für eine ausgewogene Lohn- und Preispolitik, für Unterstützungen von Familien der Arbeitnehmer, für Rechte von Frauen und Sorge um Kinder, Jugendliche, Alte und Behinderte, auch für deren Sozialversicherung etc. entstanden. In Österreich wurden 1956 und 1990 Sozialhirtenbriefe des Gesamtepiskopates verfasst, die sich der Wohnungsnot, der Arbeitslosigkeit, der Landflucht, Aufrüstung, Entwicklungshilfe und anderen Fragen widmeten. Vor mehr als 10 Jahren gründeten wir gemeinsam mit den anderen christlichen Kirchen, mit Gewerkschaftern, Unternehmervertretern und kulturellen Bewegungen die „Allianz für den freien Sonntag“, um einer Vermarktung der Lebenszeit gegenzusteuern. Der Mensch ist das Maß von Wirtschaft und Arbeit! Und heuer stehen wir vor einer europaweiten Gründung einer derartigen Sonntagsallianz. Ich danke hier allen, die daran mitgewirkt haben! 2003 gaben wir 14 christlichen Kirchen in Österreich das „Ökumenische Sozialwort“ heraus. Erstmals haben hier die Kirchen der Orthodoxie, der Reformation und die Katholische Kirche unter starker Beteiligung der Basis gemeinsam zu den sozialen Fragen Stellung genommen. In dieser neueren Zeit, ich spreche von der Zeit nach der Wende 1989, nach dem Entdecken der Ökologiefrage und ihrer Bedeutung für das menschliche Überleben, werden von der kirchlichen Sozialverkündigung nachdrücklich einige „alte Fragen“ der sozialen Verteilungsgerechtigkeit neu gestellt: war es 1891 die Not der Arbeiterklasse, so müssen wir heute – inmitten des für Papst Leo undenkbaren Fortschrittes und Wohlstandes – eine neue Armut gewärtigen, ein Skandal und ein Hinweis auf soziale Widersprüche: haben wir nicht gleichzeitig Arbeitslosigkeit und Überstunden, gleichzeitig enormen Wohlstand und neue Armut, gleichzeitig zahllose Langzeitarbeitslose die nicht beschäftigt werden können und allzu viele Stress- bzw. Überlastungserkrankungen an vielen Arbeitsplätzen? Die christliche Sozialverkündigung möchte heute wie ehedem das Gewissen und die Aufmerksamkeit schärfen. Sie will niemand durch das Aufzeigen von Missständen entmutigen, sondern alle, besonders die ChristInnen, zum Engagement für eine gerechtere Welt einladen und Vertrauen geben, dass der Einsatz lohnt: Eine bessere Welt ist möglich! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! Bischof em. Dr. Maximilian Aichern OSB 3