Ausgangspunkt: Trennungsthese zwischen Recht und Moral, bzw

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I. Ausgangspunkt: Trennungsthese zwischen Recht und Moral,
bzw. zwischen Recht, was es ist und Recht, was es sein sollte.
1.
Trennungsthese vom praktischen Gesichtspunkt: Trennung zwischen Recht und Moral
1.1. Gegensatz zwischen konventioneller Moralität und kritischer Moralität als Grundlage der moralischen
Kritik gegen Recht
1.2. Status und Autorität des Rechts von dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Moralitäten:
Quelle der Befolgung des Rechts
1.3. Rechtspositivismus, konventionelle Moralität und radikaler Utilitarismus
1.4. Liberalismus und zwei Quelle des Rechtsgehorsams: die sich aus dem Status des Rechts selbst
ergebende Autorität des Rechts und moralische Autorität des Rechts.
1.5. Politische Zustände des Rechts
1.6. Trennung zwischen Recht, was es ist, und Recht, was es sein sollte: Recht als soziale Tatsache
1.7. Politischen Zuständen des Rechts und Ideologischen Charakter der Trennungsthese
1.8. Erkenntnis und Anerkennung: deskriptive Trennungsthese zwischen Recht was es ist, und Recht was es
sein sollte, und preskriptive Trennungsthese zwischen Recht und Moral
2.
Trennungsthese und Theorie der Rechtssprechung
2.1. Unklarheit der Trennungsthese bei der Dimension des Rechtsanwendung
1. Trennungsthese vom praktischen Gesichtspunkt: Trennung zwischen
Recht und Moral
1.1 Gegensatz zwischen konventioneller Moralität und kritischer Moralität als
Grundlage der moralischen Kritik gegen Recht
Das
älteste
und
banalste
naturrechtliche
Schlagwort
in
der
Problemgeschichte
der
Rechtsphilosophie kommt wie folgt zum Ausdruck: „Moralisch lasterhaftes Recht ist nicht mehr ein
1
Recht“, oder „Ein von dem Menschen gesetztes Recht ordnet sich dem Recht unter, das Gott
gesetzt hat. Ein dem Gottesrecht widerstehendes positives Recht ist nicht mehr als Recht gültig“.
Die menschliche Denkgewohnheit und der daraus folgende Handlungsmodus, die Recht und
Moral durchwirken, wurde von den zwei gegenüberlaufenden Kräften, nämlich einerseits der
praktischen Aufforderung, dass Recht immer für sittliche Würdigungen offen bleiben soll,
andererseits der historischen, theoretischen Betrachtung, dass ein Rechtsystem immer von dem
politischen Macht-Inhaber gesetzt und durchgesetzt geworden ist, bestimmt. Diese Beschaffenheit
wurde immer zur Quelle der Unklarheit, wenn man über den Begriff und das Wesen des Rechts
generell Angabe machen wollte.
Stellen wir uns ein schlechtes positives Recht vor, das eine bestimmte Gruppe von Menschen de
facto unterdruckt. Nehmen wir eine hypothetische Gesellschaft an, deren die geltende
konventionelle Moralität Sklaverei einräumt (wir können uns als klassisches Beispiel die Sklaverei
im archaischen römischen Reich oder die Sklaverei in den frühen Vereinigen Statten vor dem
Bürgerkrieg vorstellen). Innerhalb dieser Gesellschaft steht dem Sklavenhalter ein subjektives Recht
zur Verfügung, nach seinem Willen Sklaven zu kaufen bzw. zu verkaufen, ggf. sie zu ermorden. In
diesem Fall fühlt sich dieses Recht von vornherein für manche Anhänger der konventionellen
Moralität gar nicht als „moralisch lasterhaftes“ Recht an. Eine Möglichkeit der moralischen Kritik
gegen dieses Recht ist nur für eine geringe Zahl von Menschen offen, die gegen die
konventionelle Moralität eine kritische Haltung einnehmen.
Bezeichnen wir eine moralische Konzeption, die gegen die konventionelle Moralität spricht, als „
kritische Moralität“. Die Gesetzgebung und Anwendung des Rechts erfolgen in manchen Fällen
auf die Art und Weise, dass die konventionelle Moralität darin Achtung findet, wenn dies auch
nicht immer der Fall ist. Denn das Bewusstsein der Rechtsadressaten, dass ein positives Recht
mindestens der konventionellen Moralität genügt, wird zum allgemeinen und normalen Motiv
2
dafür, dass Rechtsadressaten dieses Recht befolgen und die danach gefällte Entscheidung
akzeptieren.
Aber eine konventionelle Moralität verändert sich selbst. Wenn diese Moralität von der schnell
sich wandelnden Gesellschaftslage stark beeinflusst wäre, würde sich moralische Kritik gegen
positives Recht quantitativ vermehren und qualitativ zuspitzen. Nehmen wir ein Beispiel in der
zukünftigen Gesellschaft. In dieser Gesellschaft gibt es neben der Art der „Natur-Menschen“ eine
andere Art der „Selbstbewussten Wesen“, nämlich „Menschen-Klone“ und Roboter mit k.I. In
diesem Fall würden die Menschen auf ein Bedürfnis stoßen, dass sie dieses neue selbstbewusste
Wesen moralisch, rechtlich bestimmen. Diese
„Natur-Menschen“ könnten entweder eine
Entscheidung fällen, diesem neuen selbstbewussten Wesen einen moralischen, rechtlichen Status
einzuräumen, in dem sie als einzelne Existenz die Selbstwürde genießen können, oder auf die
konservative Entscheidung kommen, auch dieses neue selbstbewusste Wesen nur als Objekt des
Eigentumsrechts anzusprechen.
Welche Entscheidung auch immer die „Natur-Menschen“ treffen, es würde eine Pro- und Kontra
Gruppe dazu existieren. Dieser hypothetische Fall zeigt wohl, dass eine konventionelle Moralität
stets mit den kritischen Moralitäten im Spannungsverhältnis steht, nämlich dass sie immer mit
deren Gegenkraft konfrontiert ist. Daraus geht klar hervor, dass ein Recht, das sich auf die
konventionelle Moralität stützt und umgekehrt diese Moralität bewahrt, auch der Herausforderung
und der Kritik der kritischen Moralität ausgesetzt sein würde.
1.2.
Status und Autorität des Rechts von dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen
Moralitäten: Quelle der Befolgung des Rechts
Die naturrechtliche Behauptung, dass das positive Recht von den sozialen, moralischen
Bewertungen, die die Aufforderung der Gerechtigkeit und Billigkeit umfassen, bestimmt werden
kann und soll, ist eine Einstellung (unter verschiedenen Einstellungen), die die Anhänger der
3
kritischen Moralitäten annehmen können. Die Kritiker der als soziale Konvention etablierten
Sklaverei können sich etwa das Flüchtling-Sklaven-Recht (das in den USA bestanden habende „
fugitive slave act“), nach dem die geflüchteten Sklaven zwangsweise in ihr Heimatland
zurückgesendet werden müssen, als ein untragbar schlechtes Recht verwerfen, indem sie sich
weigern, dieses Recht zu befolgen. Diese Kritiker würden sagen, dass dieses Recht die jedem auf
gleiche Weise gegebene grundsätzliche Freiheit des Menschen so sehr beeinträchtigt, dass dieses
Recht den Namen „Recht“ nicht verdient. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der
Aussage, „dieses Recht ist nicht mehr Recht“, klar. Diese Aussage leugnet nicht die Tatsache, dass
dieses Recht, wie anderes moralisch nicht schlechtes Recht, von einem historischen Gesetzgeber
unter identischen Verfahren gesetzt wurde. Ob dieser tatsächliche Satz wirklich wahr oder falsch
ist, würde nicht das Anliegen des Anhängers der kritischen Moralität sein. Worum es sich hierbei
handelt ist vielmehr eine praktische Aufforderung, dass Rechtsbeamte dieses Recht nicht
anwenden sollen, sowie dass Rechtsadressaten diesem Recht nicht Gehorsam, sondern Widerstand
leisten sollen. Wenn man unter Geltung des Rechts „die faktische Durschsetzungsmöglichkeit der
Vollstreckung des Rechts im gegeben Fall“ versteht, würde diese naturrechtliche Aussage, „
moralisch untragbares Recht ist kein Recht“ ein effizientes Schlagwort, weil dieses Schlagwort
direkt an die moralischen Gefühle der Rechtsbeamten appelliert, die das Recht auf den konkreten
Fall anwenden und vollstrecken können und müssen. Indem man sagt, dass moralisch untragbares
schlechtes Recht kein Recht ist, lässt sich ein objektiver Anspruch aufstellen, dass dieses Recht den
Status und die Autorität als Recht verloren hat. Wenn man im Gegensatz dazu folgende
Behauptung aufstellt, dass dieses Recht zwar ein Recht ist, aber daraus keine moralische Pflicht,
dieses Recht zu befolgen, hervorgeht, würde dies das Problem der Beachtung und Befolgung des
positiven Rechts nur auf das Problem der individuellen Gewissen zurückgehen lassen und
subjektivieren. Dieser Gegensatz zwischen Objektivierung und Subjektivierung bei der moralischen
Verpflichtung zum Ungehorsam gegen das schlechte Recht könnte zwar einen subtilen, aber
praktisch gesehen wichtigen Unterschied darstellen. Stellen wir uns als ähnlichen Fall ein
4
praktisches politisches Schlagwort vor, das gegen den legal gewählten Diktator spricht. Nehmen
wir Hitler als Beispiel. Es gibt zwei Arten des Schlagwortes: Entweder: „Obwohl Hitler ein legal
gewählter Chef der Regierung ist, stehen wir unter keiner moralischen Pflicht, seinen Befehl zu
befolgen. Denn er hat untragbare Verbrechen begangen.“ Oder: „Er ist nicht mehr unser Führer,
weil er untragbare Verbrechen begangen hat.“ In jene Aussage wird einerseits die formelle
Anerkennung des Status von Hitler als Chef der Regierung, andererseits die materielle NichtAnerkennung seiner moralischen Autorität ausgesprochen. Und diese zwei Dinge sind notwendig
miteinander verknüpft.
Dies gilt auch beim Fall des Ungehorsams gegenüber schelechtes Recht. Wenn man zwar den
objektiven Status des Rechts akzeptiert, aber getrennt davon die Befolgung des Rechts als ein das
individuelle Gewissen betreffendes Problem betrachtet, gerät ein Rechtsbeamter immer in das
Dilemma, in dem sich aus dem formellen Status des Rechtsbeamten ergegebende Berufspflichtnämlich die Pflicht, das formell als gültig verabschiedete Gesetz durchzuführen – mit der aus
seinem subjektiven Gewissen hervorgehenden Pflicht kollidiert.
Aber die allgemeine Einstellung, die die Anhänger der konventionellen Moralität einnehmen,
könnte wie folgt ausgedrückt werden: „Gesetz sei Gesetz. Solange jenes als Gesetz anerkannt wird,
(unabhängig von der moralischen Richtigkeit oder Unrichtigkeit) müsse dieses Gesetz angewendet
und befolgt werden“. Bei dieser Aussage werden der Status und die Autorität des Gesetzes in
ihrem materiellen Sinne als identisches angesprochen. Sie glauben, dass die Stabilität der
Gesellschaft insofern gehalten werden kann, als die Autorität des Rechts nur auf diese Weise
verstanden wird. Sie halten die Autorität des Rechts für etwas, das von der moralischen
Würdigung unabhängig existieren können soll. Denn wenn es ein häufig vorkommender Fall wäre,
dass die Autorität des Rechts von der individuellen subjektiven Wertung erschüttert wird, oder
dass die Befolgung des Rechts durch Nicht-Anerkennung der Autorität offenbar verweigert wird,
würde das menschliche Zusammenleben stets der anarchischen Gefahr ausgesetzt sein, die dem
5
jeweiligen Anspruch der Verwirklichung der politischen Gerechtigkeit immanent ist. Diese
Behauptung der Anhänger der konventionellen Moralität, dass einmal als gültig verabschiedete
und formell anerkannte Gesetze auf jeden Fall eingehalten werden müssen, kann man als eine
Unterart der konservativen Moralkonzeption verstehen. Eine Moralkonzeption, die auf der
Bewahrung der etablierten Moral- bzw. der Rechtsordnung bevorzugte Werte liegt.
1.3. Rechtspositivismus, konventionelle Moralität und radikaler Utilitarismus
Der Rechtspositivismus ist als prima facie eine Theorie verstanden geworden, die die konservative
politische Einstellung unterstutzt oder verstärkt. Nun erste Aufgabe ist, zu nachprüfen, ob dies
wirklich der Fall ist. Um diese Aufgabe auszuführen, brauchen wir die Folgerungen des Schlusses
näheres nachzufolgen, der aus dem Anhänger der konventionellen Moralität bzw. der kritischen
Moralität hervorgeht. Vor allem ist bemerkenswert, dass die Rechtspositivisten, nicht zuletzt
englischer Utilitaristen wie Bentham und Austin, offenbar verleugnen, dass Status und Autorität
des Rechts so identisch sind, dass die Anerkennung der Status des Rechts die moralische Pflicht
zur Befolgung des Rechts begrifflich umfasst, was einer der Einstellung der konventionellen
Moralisten entspricht. Hart kritisiert diese Verwechselung der Doktrin von konventionellen
Moralisten mit der von Positivisten wie folgt:
Andererseits liegt eine außerordentliche Naivität in der Ansicht, die Unempfänglichkeit für
moralische Forderungen und die Unterwürfigkeit gegenüber der Staatgewalt könnten in einem
Volk wie dem deutschen aus dem Glauben erwachen sein, Gesetz sei Gesetz, auch wenn es den
moralischen Minderstanforderungen widerspreche. Diese furchtbare Geschichte gibt vielmehr
Anlaß, die Frage zu untersuchen, warum das dem Schlagwort „Gesetz ist Gesetz“ beigelegte
Gewicht und die Unterscheidung von Recht und Moral in Deutschland einen so unheilvollen
Charakter annahmen, während sie anderswo, etwa bei den Utilitaristen selbst, mit den
6
aufgeklärtesten Einstellungen eines Liberalismus einhergingen. Doch hinter Radbruchs ganzer
Darstellung der Fragen, die sich aus der Existenz moralisch untragbarer Gesetze geben, verbirgt
sich etwas Beunruhigenderes als bloße Naivität. Man tritt ihm….daß er die geistige Botschaft des
Liberalismus, die er dem Juristenstand zu vermitteln sucht, nur halb verstanden hat. Denn alles,
was er sagt, beruht auf dem Mißverständnis, daß mit der Anerkennung einer Norm als einer
gültigen Norm des Rechts auch schon die moralische Frage „Soll man dieser Rechtsnorm
Gehorsam leisten?“ entscheiden ist. Zweifellos ist die Wahrheit liberale Antwort auf jeden
zweifelhaften Gebrauch des Schlagworts „Gesetz ist Gesetz“ oder der Unterscheidung zwischen
Recht und Moral: „Nun gut; aber das entscheidet die Frage nicht. Recht ist nicht Moral; lass es
nicht die Moral verdrängen“
1
Die utilitaristische Behauptung, dass das schlechte Gesetz auch Gesetz ist, läuft nicht auf die
Behauptung hinaus, dass obwohl etwas lasterhaftes Recht ist, aus dem bloßen Faktum, dass es
Recht ist, die moralische Verpflichtung zur Befolgung sich ergibt. Vielmehr kann man die
Auffassung von Utilitaristen radikaler verstehen: „Das ist zwar formell gültiges Gesetz, aber aus
der Tatsache, dass dieses Gesetz lasterhaft ist, folgt eher die moralische Pflicht, dieses Gesetz zu
verweigern. Bezeichnen wir diese (hypothetische) „radikale“ Auffassung des Utilitarismus als „
radikaler Utilitarismus“. Formulieren wir uns nun diese zwei Einstellungen wie folgt:
Proposition von konventionellen Moralisten:
P0 Obersatz: Dass man etwas als Recht anerkennt, umfasst, dass man auch die Pflicht, dieses
Recht zu befolgen, akzeptiert.
P1 Untersatz: Etwas ist lasterhaftes Recht.
1
H.L.A. Hart, Der Positivismus und Trennung von Recht und Moral (abgekürzt: „Trennung“), in:
Recht und Moral (Übs. N. Hoerster), Göttingen, 1971, S.42.f.
7
P2 Schluss: Wenn einmal etwas als Recht anerkannt wird, daraus folgt die Pflicht, dieses zu
befolgen, obwohl dieses lasterhaft ist.
Proposition von radikalen Utilitaristen:
Q0 Obersatz I: Es ist eine, dass man etwas als Recht anerkennt, und es ist andere, dass man
moralische Pflicht akzeptiert, dieses Recht zu befolgen.
Q1 Obersatz II: Aus dem Faktum, dass etwas lasterhaft Recht ist, folgt die moralische Pflicht,
dieses Recht nicht zu gehorchen.
Q2 Untersatz : Etwas ist lasterhalft Recht.
Q3 Schluss: Wenn etwas als Recht anerkannt wird und das auf dieser Weise anerkannte Recht
lasterhaft ist, daraus folgt die moralische Pflicht, dieses Recht nicht zu gehorchen.
Es ist klar, dass Utilitaristen wie Bentham und Austin den Obersatz von Anhänger der
konventionellen Moralität, P0 offenbar verweigern. Aber es ist nicht offensichtlich, ob sie, wie hier
angestellte hypothetische „radikale Utilitaristen“, Q1 akzeptieren oder nicht. Anders als „radikale
Utilitaristen“ scheinen (allgemeine) Utilitaristen der Meinung zu sein, dass es sich mindestens
lohnt, die Ansicht von konventionellen Moralisten ernst zu nehmen, nämlich dass es erforderlich
sei, dass man die Autorität des Rechts, die sich nicht der moralischen Autorität unterordnen lässt,
als Quelle der allgemeinen Gehorsam von Rechtsadressaten anerkennt. Sie scheinen Bereitschaft
zu haben, die Ansicht von konventionellen Moralisten mit den Vorteilen zu vergleichen, die das
moralische Handeln, schnell zu verweigern, dieses Recht zu gehorchen, hereinbringen könnten.
Dies hängt mit den Vorteilen der positivistischen Ansicht zusammen. Nämlich, wie Hart behauptet
hat, stimmt der Positivismus nicht einer bestimmten moralischen Einstellung zu, sondern den
Rechtsadressaten die intellektuelle Grundlage anbietet, auf der sich unterschiedlichen Schaden
bzw. Gute, die zwei Alternative im einzelnen Fall herbeibringt, bewusst erkennen lässt.
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1.4. Liberalismus und zwei Quelle des Rechtsgehorsams: die sich aus dem Status des
Rechts selbst ergebende Autorität des Rechts und moralische Autorität des Rechts.
Die Problematik, ob die moralische Befolgungspflicht des Rechts sich aus dem Anerkennungsakt
von Rechtsadressaten als Recht begrifflich ergibt oder nicht, ist nicht rein theoretische Frage. Denn
diese
Problematik
erfordert
den
Rechtsadressaten,
einen
praktischen
Gesichtspunkt
vorauszusetzen. Man kann, wie Anhänger der konventionellen Moralität, als Quelle des
Rechtsgehorsams die Priorität der exklusiven gesetzlichen Autorität vor der moralischen Autorität
des Rechts geben. Denn sie würden der Meinung sein, dass es moralisch richtig ist, die exklusive
gesetzliche Autorität anzuerkennen und dementsprechend zu handeln. Dagegen kann man wie „
radikale Utilitaristen“ behaupten, dass man zwar den formellen Status des Rechts akzeptiert, aber
eben weil der Rechtsgehorsam sich lediglich aus der moralischen Autorität des Rechts ergibt, ist
man moralisch verpflichtet dazu, dem Gesetz nicht Gehorsam zu leisten, falls er dieses Gesetz
moralisch verwerflich beurteilt hat. Es könnte aber auch dritten Weg geben, wie Utilitaristen
meinen. Sie würden der Meinung sein, dass es als der Quelle des Rechtsgehorsams zwei
Autoritäten gibt, die nicht völlig voneinander ausgeschlossen werden darf. Nämlich gibt es
einerseits die sich aus dem Status des Rechts selbst ergebende Autorität, andererseits die davon
getrennt bestehende moralische Autorität des Rechts. Und es lässt sich dem einzelnen offen,
welche Autorität zu folgen.
Indem man die konventionelle Moralität von der kritischen Moralität von Utilitaristen
unterscheidet, die Hart als die aufgeklärtsten Einstellung des Liberalismus bezeichnet, kann man
den Unterschied zwischen dem Gesichtspunkt der in der Menge verbreiteten konventionellen
Moralität und dem von Utilitaristen, nämlich die Differenz zwischen der Doktrin von
konventionellen Moralisten und der von Utilitaristen, richtig einsehen. Das ist ursprüngliche Quelle
9
der Verwechslung, die seit langem die menschlichen Gedanken verwirrt hat. Anders als die Doktrin
von Anhänger der konventionellen Moralität gehört die Doktrin von Utilitaristen zu einer
möglichen Einstellung, die die Anhänger der kritischen Moralität einnehmen können.
2
Aber mit Nachdruck sollte noch hervorgehoben werden, dass Utilitaristen die Doktrin von
Anhänger der konventionellen Moralität nicht völlig vernachlässigt oder ausgeschlossen haben.
Utilitaristen legen auch auf die Stabilisierung der Struktur der Gesellschaft primäre moralische
Wert. Die politische Leidenschaft von Utilitaristen, innerhalb des bestehenden Rahmens der
Gesellschaft soziale Reformen durchzuführen, wurde mit der Antipathie gegenüber dem
Anarchismus und der Revolution verknüpft. Bentham, die Kritiker gegen die Radikalisierung der
französischen
Revolution
in
der
späteren
Phase
und
den
anarchischen
Potenziell
von
unveräußerlichen Menschenrechten in der Declaration of Independence von Vereinigten Staaten,
steht teilerweise mit der Doktrin von konventionellen Moralisten im Einklang. Gehen wir uns auf
die Analyse von Hart über politische Ansicht von Bentham ein:
Auch Bentham bestand auf dieser Unterscheidung; allerdings war die Moral für ihn nicht auf Gott,
sondern allein auf die Prinzipien der Nützlichkeit bezogen. Dass beide Denker an der Trennung
festhielten, hatte seinen Hauptgrund darin, dass sie ihre Leser in die Lage versetzen wollten, sich
mit Bestimmtheit die genaue Problematik moralisch schlechter Gesetze vor Augen zu führen und
den besonderen Charakter der Autorität einer Rechtsordnung zu verstehen. Benthams allgemeine
Anweisung für ein Leben unter dem Gesetz war einfach: Sie lautete „gehorche gewissenhaft,
kritisiere freimütig.“ Doch als wachsamer Beobachter der französischen Revolution war Bentham
sich durchaus darüber im klaren, dass das allein nicht genügt: In jeder Gesellschaft könne eine
2
Dies erklärt teilweise, warum Bentham und Austin auf der positivistischen Trennung zwischen
Recht und Moral so stark bestanden haben, obwohl die beiden selbst leidenschaftlicher Reformer
ihrer Gesellschaft waren.
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Zeit kommen, in der die Vorschriften des Gesetzes so verwerflich sind, dass die Frage des
Widerstandes ins Auge gefaßt werden muss, und dann komme es darauf an, dass an diesem
Punkt zu lösenden Probleme weder unzulässig vereinfacht noch verdunkelt worden sind…Bentham
fand, dass sich die Verwirrung symmetrisch in zwei verschiedene Richtungen ausgebreitet hatte.
Einerseits hatte Bentham den Anarchisten im Sinn, der argumentiert: „So, wie es ist, sollte das
Recht nicht sein; daher ist es kein Recht, und ich bin nicht nur frei, es zu kritisieren, sondern auch,
es nicht zu befolgen.“ Andererseits dachte er an den Reaktionär, der argumentiert: „Das ist das
Recht, und daher ist es so, wie es sein sollte“, und damit jede Kritik im Keim erstickt….Es gibt also
zwei Gefahren, zwischen denen hindurchzusteuren das Bestehen auf diesem Unterschied uns
helfen wird: die Gefahr, dass das Recht und seine Autorität sich in den Vorstellungen der Leute
davon, was Recht sein sollte, auflöst, und die Gefahr, dass das bestehende Recht die Moral in ihrer
Funktion als letzen Maßstab des Verhaltens verdrängt und sich so der Kritik entzieht.. 3
First, then, the doctrine of natural unalienable rights. In his (Bentham’s) attack in 1776 on the
Declaration of Independence Bentham allows that the concept of a non-positive right, that is one
not created by the law or social custom, is coherent and not self-contradictory, though his own
view was that it was indeed self-contradictory and a species of nonsense. Within the framework of
this provisional concession, Bentham focused his criticism of the Declaration of Independence on
the absuridity of combining the assertion that there are unalienable rights with the assertion that
government is necessary to protect them and legitimate when it does so. This was absurd in
Bentham’s view because the exercise of the necessary powers of any government must constantly
restrict the exercise by the individual of his alleged unalienable rights.
3
a.a.O. s.18.f.
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They see not or will not seem to see that nothing that was ever called government ever was or
could be in any instance exercised save at the expense of one or other of those rights: that, in as
many instances as government is ever exercised someone or other of these pretended unalienable
rights is alienated… If the right of pursuit of happiness is a right unalienable, why are thieves
restrained from pursuing it by theft, murderers by murder and rebels by rebellion? 4
Wie Hart richtig eingesehen hat, ist die Trennungsthese zwischen Recht und Moral, wie später
dargestellt sein werden, über die begriffliche Dimension hinaus mit der politischen Dimension
verknüpft. Denn diese Problematik hängt vom praktischen Gesichtspunkt her gesehen mit der
Behandlung der zwei kennzeichnenden Aspekten, die jedem normalen Rechtssystem immanent
sind, zusammen: Erstens das Problem des Widerstandsrechts als moralisches Recht, dessen
Existenz die Autorität der bestehenden Rechtsordnung bedroht und von vornherein der
Rechtssicherheit
gegenüber
steht,
zweitens
das
Problem
der
aus
der
moralischen
Unempfindlichkeit folgenden blinden Gehorsams des positiven Rechts.
Die utilitaristische Trennungsthese zwischen Recht und Moral, nämlich, „Zwar lasterhaft Gesetz ist
Gesetz, aber daraus ergibt sich nicht moralische Pflicht, diesem Gesetz zu gehorchen“, könnte
daher als eine politische Programm sowohl für die anarchische Herausforderung gegen die
Autorität der Rechtsordnung, als auch für die Gefahr des aus der moralischen Unempfindlichkeit
folgenden blinden Gehorsams des Gesetzes abgelesen werden. Diese These ist nämlich ein
Ausdruck des liberalistischen Gesichtspunktes, die Quelle des Gehorsams des Rechts dem
Gewissen und dem Moralbewusstsein des Einzelnen zu überlassen, Indem Utilitaristen für das
lasterhaften Recht den Status als Recht nicht verleugnen, wollen sie und die daraus folgende
minimale Autorität ebenfalls anerkennen. Die Quelle des Rechtsgehorsams lässt sich allgemein
4
Hart, Law in the Perspective of Philosophy, in: Essay in Jurisprudence and philosophy, Oxford,
1983, S.149. f.
12
gesagt nach Utilitaristen als die Dualität der aus dem Status des Rechts selbst folgenden Autorität
und der von dem Status des Rechts unabhängig bestehenden moralischen Autorität des Rechts
bezeichnen.
5
Der Einzelne führt durch freie Wahl nach seinem Gewissen den Entschluss aus,
entweder diesem Gesetz zu gehorchen oder nicht. Utilitaristen, anders als „radikale Utilitaristen“,
geben nicht auf unbedingter Weise der auf der kritischen Moralität beruhenden moralischen
Autorität des Rechts den Vorzug vor der aus dem Status des Rechts selbst folgende Autorität des
Rechts. Deswegen kann die Gefahr, dass Rechtsadressaten durch die exklusive Betonung der
moralischen Autorität des Rechts leicht der Autorität der Rechtsordnung Herausforderung wagen,
relativ reduziert werden.
1.5. Politische Zustände des Rechts
Wir haben bisher betrachtet, welche praktische Bedeutung die Trennungsthese zwischen Recht
und Moral haben kann, wenn diese Thematik im Licht von Autorität und Befolgung der
Rechtsordnung aufgeworfen ist. Wir haben in den Augen gefasst, dass die sogenannte
Behauptung, die den Anschein des „Positivismus“ hat, in der Tat in zwei unterschiedlichen
Behauptungen eingliedert werden kann. Anhänger der konventionellen Moralität spricht den
Status des Rechts und dessen Autorität de facto als identisches an. Weiterhin festhalten sie daran,
5
Dies ist nicht von Hart explizite vertretende Ansicht, sondern meine Widerauslegung der
hartschen Trennungsthese. Hart sagt lediglich, dass die moralische Pflicht des Gehorsams des
Rechts nicht durch die Anerkennung des Rechts selbst erfolgt. Aber wenn Hart, wie bei seiner
Analyse von Bentham angedeutet wird, der Ansicht von Bentham zustimmt, und zwar solange
Hart auch der Meinung ist, dass dem Recht die Besonderheit der Autorität zugesprochen werden
soll, scheint es unvermeidlich zu sein, dass zwei parallel bestehende Art der Autorität des Rechts,
nämlich einerseits die aus dem Status des Rechts selbst folgende Autorität, andererseits die sich
aus dem subjektiven moralischen Urteil des Einzelnen ergebende Autorität, angenommen werden
müssen, damit der Rechtspositivismus dieser moralischen, politischen Gefahren, nämlich dem
Anarchismus und der moralischen Unempfindlichkeit, effizient entzogen werden kann.
13
dass die Rechtsordnung nur insofern der Stabilisierung der Gesellschaft dienen kann, als die
Autorität des Rechts-ein Grund zum Rechtsgehorsam- von dessen moralischen Autorität völlig
unabhängig bestehen kann. Dagegen verleugnen Utilitaristen, dass die Autorität des Rechts nur
aus dem Status des Rechts selbst folgen kann. Vielmehr akzeptieren sie als Quelle des
Rechtsgehorsams beide Arten der Autoritäten- nämlich die auf dem Status des Rechts beruhende
Autorität des Rechts und die auf der Moralität des Rechts beruhende Autorität des Rechts.
Utilitaristen wollen zeigen, dass falls allgemeine Gruppe von Rechtsadressaten- einschließlich der
Gruppe von Rechtsbeamten- den Ungehorsam gegen lasterhaftes Recht wagt, sie müssen immer
eine „moralischen Entscheidung“ fallen, unter zwei Alternativen eine zu wählen.
Von allgemeineren Gesichtspunkt her gesehen befindet sich unsere Frage in der breiteren
praktischen Perspektive, nämlich in der Perspektive von „politischen Zuständen des Rechts“. Die
gesamte Rechtsordnung ist im größeren politischen Zusammenhang zwischen Rechtbeamten und
Rechtsadressaten eingebettet. Wenn Rechtsbeamtengruppe ein Recht ohne moralische Hemmung
auf
den
konkreten
Fall
normalerweise
anwendet
und
Rechtsadressaten
den
von
der
Beamtengruppen gefällten Entscheidungen ohne große Kritik und Widerstand akzeptieren,
bezeichnet sich politische Zustände betreffenden Rechts als „normal“. Politische Zustände des
Rechts erschaffen sich aus der Verknüpfung zwischen der moralischen Einstellung von
Rechtsbeamten gegenüber dem Recht und der von Rechtsadressaten. Nun inwiefern kann eine Art
von diesen politischen Zuständen des Rechts, in denen Rechtsadressaten sich entweder
unterdruckend oder moralisch unempfindlich anfühlen, rechtfertig werden? Dies ist nämlich die
Frage, die von dem Gesichtspunkt der Rechtfertigung von politischen Zuständen des Rechts
gestellt wird.
Zwei politischen Zuständen des Rechts, erstens die „revolutionär anarchische Zustände“, unter
denen offenbaren und expliziten Herausforderung gegen die Autorität des Rechts aktiviert werden,
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zweitens die „stagnierend Zustände“, unter denen nur moralische Lähmung und blinder Gehorsam
des Rechtsordnung bleiben, stellen möglichen pathologischen Symptome der politischen
Zuständen des Rechtssystems dar. Wenn wir wie Utilitaristen durch die Trennung zwischen Recht
und Moral die Heilungsmittel über den pathologischen Zuständen finden wollen, können wir das
positivistische Program von Utilitaristen als offensichtlich politisches ansehen. Daher setzt die
utilitaristische Aufforderung der Trennung zwischen Recht und Moral ersichtlich die Garantie der
privaten Freiheiten voraus, in denen jeder Einzelne befreit von Eingriff der staatlichen Macht nach
seinem Gewissen über gewissen sozialen Ereignis das Urteil fällen, sie kritisieren, und darüber
hinaus politischen Handeln ausführen können. Die Trennung zwischen öffentlichen Sphären, in
denen institutionelle Entscheidung und deren Durchsetzung eintreten, und privaten Sphären, in
denen die privaten Kritik gegen die institutionelle Entscheidung verwirklicht werden, wird zur
politischen Grundlage der Trennung zwischen Recht und Moral. Eben hierbei stellt sich eine
weitere
Frage:
Könnten
Utilitaristen
bei
einem
Fall
eines
Rechtssystem
noch
auf
die
Trennungsthese zwischen Recht und Moral bestehen, in dem die liberalistische Trennung zwischen
öffentlichen und privaten Sphären gar nicht garantiert ist? Im Falls des Staates, in dem das
Grundrecht der Meinungs- und Pressfreiheit offensichtlich verweigert ist, etwa wo alle moralisch
Kritik gegen das Recht und den politischen Macht-Inhaber bestraft werden6, welche Einstellung
würden Utilitaristen einnehmen?
Es ist nicht leicht, auf diese Frage zu beantworten. Wenn die Trennungsthese zwischen Recht und
Moral lediglich auf dem politischen Ziel von Utilitaristen, und zwar den Rechtsadressaten die
heteronomen Quelle des Rechtsgehorsams ersichtlich erkennen zu lassen, beruht, scheint Ihnen
nur ein Weg zu offen, „radikale“ Utilitaristen zu werden. Denn in diesem Fall scheint es
offensichtlich zu sein, die aus dem Status des Rechts selbst folgende Autorität des lasterhaften
6
Das Strafgesetz in der NS-Zeit, jeden, der Führer kritisiert hat, umzubringen, ist sehr berüchtigt.
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Rechts völlig verleugnet zu werden. Die Anerkennung des Status des Rechts, das jeden, der
moralisch Kritik gegen das Recht ausgeübt hat, bestraft, und die Anerkennung der von dem Status
des Rechts folgenden Autorität würden nichts anderes als das Verzicht auf den moralischen Kritik
gegen dieses lasterhaften Recht sein. Utilitaristen mussten in diesem Fall die radikalen Utilitaristen
werden, die zwar nur den formellen Status dieses lasterhaften Gesetzes anerkennen, aber die
daraus folgende Autorität offensichtlich völlig verleugnen, und gleichzeitig mit dem moralischen
Widerstand beginnen.
Ich werde diese Thematik, nämlich ob die utilitaristische Trennungsthese zwischen Recht und
Moral als die notwendige, politische Bedingung dieser Aussage die auf die Trennung zwischen
private Sphäre und öffentliche Sphäre beruhenden politischen Freiheiten voraussetzt, offen lassen.
Es scheint in der Tat nicht zu sein, dass Postivisten wie Hart ihrer Trennungsthese zwischen Recht
und Moral eine bestimmte normative Voraussetzung wie diese auffordern. Es liegt teilerweise
daran, dass Hart behaupten zu scheint, dass ein anderer Aspekt der Trennungsthese- nämlich
Trennung zwischen Recht, was es ist, und Recht, was es sein sollte- ein notwendiges Ergebnis der
„positivistischen, und zwar deskriptiven“ Aussage über das Wesen des Rechts sei.
1.6. Trennung zwischen Recht, was es ist, und Recht, was es sein sollte: Recht als soziale
Tatsache
Streng genommen hat Trennung zwischen Recht, was es ist, und Recht, was es sein sollte, das
breiteren semantischen Spektrum als Trennung zwischen Recht und Moral. Die Meinung von
Utilitaristen, die mit Nachdruck auf die Trennung zwischen Recht was es ist, und Recht was es sein
sollte, bestehen, ist jedoch klar und leicht verständlich. Austins Meinung lautet:
„Das Vorhandensein einer Norm ist eine Sache; ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit eine andere. Ob
16
sie besteht oder nicht, ist eine Frage; ob sie einer zugrunde gelegten Idealvorstellung entspricht
oder nicht, eine andere. Ein bestehendes Gesetz ist auch dann ein Gesetz, wenn es uns
nicht zusagt oder wenn es von dem Kriterium abweicht, an dem wir unsere Billigung oder
Mißbilligung orientieren. Diese Wahrheit, in einem abstrakten Satz förmlich verkündet, ist so
einfach und einleuchtend, dass es müßig erscheint, sie besonders zu betonen…7
Hart verallgemeinert diese Meinung wie folgt:
Austins Einwand gegen Verwischung des Unterschiedes zwischen dem, was Recht ist, und dem,
was Recht sein sollte, ist ganz allgemein aufzufassen: Diese Verwischung ist ein Fehler, gleichgültig
nach welchem Maßstab wir beurteilen, was sein sollte, „an welchem Maßstab unsere Billigung bzw.
Mißbilligung orientieren“ Seine Beispiele allerdings betreffen immer Verwechselung des Rechts,
wie es ist, mit dem Recht, wie es nach den Forderung der Moral sein sollte. Dabei waren die
Grundprinzipien der Moral für ihn die Gebote des Gottes, deren Inhalt sich an ihrer Nützlichkeit
ablesen ließ; außerdem kannte er noch die von einer sozialen Gruppe tatsächlich anerkannte oder
„positive“ Moral.
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..bestritten weder Bentham noch seine Nachfolger, dass durch ausdrückliche gesetzliche
Anordnungen moralische Grundsätze an verschieden Punkten in ein Rechtsystem aufgenommen
werden und einen Teil seiner Regeln bilden können oder.
Dass Gerichte gesetzlich verpflichtet sein können, ihrer Entscheidung im Einklang mit dem zu
treffen, was sie als gerecht und optimal erachten..
7
Zitat aus der Trennung. S.17.
8
a.a.O. S.18.
17
Worauf es beiden, Bentham und Austin, ankam, sind die zwei folgenden einfachen Dinge. Erstens:
außer im Falle einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen Vorschrift, kann aus
der bloßen Tatsache, dass eine Norm die Grundsätze der Moral verletzt, nicht gefolgert werden,
dass sie keine Rechtsnorm ist; zweitens: umgekehrt kann aus der bloßen Tatsache, dass eine Norm
moralisch wünschenswert ist, nicht gefolgert werden, dass sie Rechtsnorm ist.
9
Hart bringt mit den Worten von Gray die theoretische Prägnanz der Trennungsthese wie folgt
zum Ausdruck.
„Der große Fortschritt, den die Rechtswissenschaft während des letzten Jahrhunderts in ihren
grundlegenden Vorstellungen machte, war die Erkenntnis der Wahrheit, dass das Recht eines
Staates…nicht ein Ideal ist, sondern etwas, das tatsächlich existiert. Es ist nicht das, was sein sollte,
sondern das, was ist.
10
Nun können wir die Ansicht von Utilitaristen in drei Teile rekonstruieren.
a.
Das positive Recht ist nichts anderes als soziale Tatsache, die von bestimmten
Handlungen von Menschen im historischen Ablauf erzeugt geworden sind. Daher ist die
Erkenntnis des Rechts Erkenntnis von sozialen, historischen Tatsachen. Folglich wird der
Inhalt des gegebenen Rechts durch den moralischen Maßstab, nach dessen das positive
Recht kritisiert wird, willkürlich nicht verändert.
b. Dies verleugnet keineswegs, dass positive Recht und Moral sich eventuell inhaltlich
überscheiden oder aufeinander beeinflussten. Positivistische These nur besagt, dass die
9
10
a.a.O. S.20.
a.a.O. S.21.
18
Verknüpfung zwischen Recht und Moral nicht begrifflich notwendig, sondern von den
Willen des Gesetzgebers explizit und eventuell eingesetzt wird.
c.
Obwohl das positive Gesetz gegebene explizite Tatsache ist, fällt das Gericht nicht ohne
Rücksicht der moralischen Werte wie Gerechtigkeit und Billigkeit seine Entscheidung. Das
Gericht kann eher dazu verpflichtet sein, mit der moralischen Aufforderung Einklang die
Entscheidungen zu fallen.
1.7. Politischen Zuständen des Rechts und Ideologischen Charakter der Trennungsthese
Nun betrachten wir uns aus dem Gesichtspunkt von poltischen Zuständen des Rechts die
utilitaristische Trennungsthese zwischen Recht und Moral. Wenn es angenommen ist, wie
Behauptung der konventionellen Moralisten, dass die Autorität des Rechts sich aus dem Status
des Rechts exklusiv ergibt, würde es schwer fallen, die Trennungsthese von Utilitaristen
buchstäblich zu akzeptieren. Denn sie widerspricht explizit politischer Doktrin der Verknüpfung
zwischen Recht und Moral. Und wenn wir nicht Anhänger von der konventionellen Moralität sind,
würde es auch eventuell schwer fallen, diese Trennungsthese zu akzeptieren. Denn wenn diese
Aussage
nicht
deskriptive
Aussage
über
den
historisch
bestanden
habenden
anderen
Rechtssystem, sondern die Aussage über das gegenwärtigen Rechtsystem, in dem wir leben, ist,
können wir eventuell den praktischen Grund dafür, diese Aussage nicht zu akzeptieren. Die
utilitaristische Trennungsthese- obwohl sie ihre Doktrin rein deskriptive, begrifflich zu sein
behaupten,- hat eine ganz unterschiedliche praktische Prägnanz, je nach den politischen
Zuständen des Rechts betreffender Gesellschaft. In einer Gesellschaft, in der die konventionelle
Moralität beherrscht, würde die Trennungsthese ganz andere praktische Prägnanz haben, im
Vergleich zu anderen liberalistischen Gesellschaft, in der die kritischen Moralitäten aktiviert sind.
Den Anhänger der konventionellen Moralität zu sagen, dass ein positives Recht eine gegebene
19
Tatsache ist, ist gleichbedeutend damit, dass sie diese Tatsache nur gehorchen sollen.
Ein wichtiger Punkt ist, auch immer kritisieren Utilitaristen mit Nachdruck den konventionellen
Moralisten, dass sie beim Recht das Sein vom Sollen nicht unterscheidet haben, haben die
konventionellen Moralisten dennoch den praktischen Grund- vielleicht ebenso wichtig wie den
Grund, den Positivisiten haben- dafür, weshalb sie auf die Verknüpfung zwischen Recht und Moral
bestehen. Und dieser Grund ist offenbar nicht von deskriptiven oder begrifflichen Charakter,
sondern von politischen, moralischen. Außerdem würden Utilitaristen verzögern, diesen Grund aus
der konventionellen Moralität ohne weiteres zu verwerfen. Denn
Utilitaristen auch würden
teilweise diesen Grund in der geschwächten Form – nämlich, dass die Anerkennung der
gesetzlichen Autorität, die von der moralischen Autorität des Rechts unabhängig besteht,
letztendlich der Rechtsordnung die Sicherheit bringt- teilen.
Nach alldem wird klar, dass die Trennung zwischen Recht was es ist, und Recht was es sein sollte,
wenn Austin auch mit Nachdruck bejaht hat, nicht selbstverständliche Aussage, für die keine
Erklärung benötigt. Wenn jemand glaubt, dass etwas als ein gegebenes Recht zuerkennen und
dem eine Anerkennung zu geben de facto seinen normative Entschluss- nämlich, Gehorsamauffordert, dann würde die Trennungsthese zwischen Recht was es ist und Recht was es sein sollte,
für den unter dieser konventionellen politischen Ideologie lebenden Rechtsadressaten zur anderen
Art der Ideologie erscheinen. Je größer der Abstand zwischen den poltischen Zuständen einer
betreffenden Rechtsordnung und den der Rechtsordnung, in der Utilitaristen lebten, wird, umso
ersichtlicher abheben sich dieser ideologische Charakter der Trennungsthese.
1.8. Erkenntnis und Anerkennung: deskriptive Trennungsthese zwischen Recht was es ist,
und Recht was es sein sollte, und preskriptive Trennungsthese zwischen Recht und Moral
20
21
II. Analytische Jurisprudenz und moralische Unbestimmtheit des
Rechtsanwendung : Das Problem des Richterlichen Ungehorsam
1. Die minimale Existenzbedingung eines Rechtssystems und
dessen minimaler normativer Tatbestand
1.1.Deduktives Naturrecht-Argument und induktives Naturrecht-Argument
1.2.Minimaler
Inhalt
des
Naturrechts
nach
Hart
und
minimale
Existenzbedingung
eines
Rechtssystems
1.3. Minimale Existenzbedingung eines Rechtssystems und dessen normativer Tatbestand
1.3.1. Grundzug der Regel als öffentlicher Maßstab
1.3.2. Harts Kritik gegen Austin
1.3.3. Ursprünglicher Regelgeber und Quelle der Regelbefolgung
1.3.4. Die Regel der Anerkennung nach Hart: eine minimale innere Perspektive
1.3.5. Normativer Charakter der Regel der Anerkennung: Die Regel der Anerkennung ist die
minimale Existenzbedingung eines Rechtssystems sowie der normative Tatbestand
1.1.
Deduktives Naturrecht-Argument und induktives Naturrecht-Argument
Was ist die „minimale“ Voraussetzung, unter der man das die menschliche Verhaltensweise
kontrollierende und regulierende System als „Rechtssystem“ bezeichnen kann? Dazu gehören
möglicherweise
die
Existenz
der
gesetzgeberischen
Autorität,
einheitliche
Rechtspflegeorganisationen, Gesellschaftmitglieder als Rechtsadressaten und die tatsächliche
Durchsetzungsmöglichkeit einer Norm usw. All das trifft möglicherweise auf den „tatsächlichen
22
Tatbestand“ eines Rechtssystems zu. Darf man dem nun „politische Moralität“ hinzufügen, wie
Gerechtigkeit und Fairness? Ist ein Rechtssystem ohne diesen „normativen“ Tatbestand vorstellbar?
Aus dem deskriptiven u. wertfreien Interesse wird der Ausdruck „minimale Bedingung“ eingeführt,
damit man das Rechtssystem einer Gesellschaft mit möglichst neutraler Sprache beschreiben kann.
Unter dem „Normsystem“ im weiteren Sinne versteht man eine soziale Institution, die im
Allgemeinen den Handlungsmodus der Menschen kontrolliert bzw. reguliert. Darunter fallen Moral
und Gewohnheit, Konvention und Recht. Diese Institutionen haben von außen betrachtet die
Kontrolle bestimmter menschlicher Handlungen zum Ziel, daher gehören Sie zur Kategorie der
Norm. Bei der analytischen Untersuchung einer sozialen Institution sind im Allgemeinen zwei
Punkte hervorzuheben, und zwar 1) ob die Gegenstand-Institution mit möglichst wertfreien
Ausdrücken beschreibbar ist, 2) ob die Unterscheidungspunkte bzw. –Kriterien von anderen
ähnlichen Institutionen einsichtig darstellbar sind. Allerdings kann man sich die Frage stellen, ob
diese sozialen Institutionen, in denen wir leben, überhaupt von einem äußeren Standpunkt aus
wertfrei untersucht werden können. Die Leistungsfähigkeit der analytischen Untersuchung würde
am Ende davon abhängen, ob unser Verständnis für den Untersuchungsgegenstand durch sie
wirklich verbessert wurde und was sie für uns praktisch bedeuten würde.
Gehen wir vor allem auf die Einwände gegen diese Untersuchungsweise ein. Gegen die
analytische,
wertneutrale
Untersuchungsweise
spricht
hauptsächlich,
dass
diese
Untersuchungsweise davon abhält, das Wesen des Rechts richtig zu verstehen. Nach diesem
Einwand kann man ohne minimale normative Voraussetzungen wie Gerechtigkeit das Wesen des
Rechts nicht richtig verstehen, denn diese dienen als die immanente Moralität des Rechts. Das
Recht ist als solches also verknüpft mit immanenten Moralitäten wie Gerechtigkeit und Fairness,
deshalb bedarf es wertender Sprache, um es zu erklären.
23
Nach Augustinus ist ein Königreich ohne Gerechtigkeit nichts anderes als eine Räuberbande.11 Aus
demselben Grund nennen wir das „Räuberbandenrecht“ nicht Recht. Wenn wir das tun, haben wir
dafür einen Grund aus der Moralität. Im „Räuberbandenrecht“ finden Gerechtigkeit und Fairness
keine Achtung. Ein Räuberbandenrecht, das etwa den Mord und die Plünderung einräumt und
sogar gebietet, erfüllt keineswegs das, was Gerechtigkeit und Fairness zur Forderung stellt,
vielmehr verletzt es diese moralische Idee massiv. Daher wird dieses keineswegs zum Recht
werden, weil dies moralisch sehr unerträglich wäre.
Dieser Einwand, der gegen die wert-neutrale Untersuchungsweise spricht, basiert auf dem
praktischen Interesse für das Recht. Daher führt er zu der normativen Einschränkung des
potentiellen Inhaltsberichs des Rechts. Daraus folgt, dass ein jedes Recht einen normativen Zug
hat.
Dieser Einwand stellt also sachlich einen Einwand gegen die Beliebigkeit des Inhalts des positiven
Rechts dar.
Dieser Einwand gegen die inhaltliche Beliebigkeit des Rechts basiert von einem anderen
praktischen Standpunkt aus gesehen auf der „Funktion des Rechts“. Wo der Mord und die
Plünderung gesetzlich erlaubt sind, würde niemand leben wollen, insofern man nicht auf seinen
Naturtrieb zur Selbsterhaltung verzichtet. Durch dieses Recht würde die Gesellschaft ihre
Bindungskraft gegenüber den Mitgliedern schnell verlieren. Das Recht, das die Menschheit
erheblich bedroht, würde die Existenzgrundlage einer Gesellschaft erschüttern. Insofern das Recht
nur ein Subsystem einer Gesellschaft ist, darf dieses Recht von dem praktischen Standpunkt her
nicht als „Recht“ anerkannt werden.
Der Einwand gegen die inhaltliche, normative Beliebigkeit des positiven Rechts ist verknüpft mit
11
De civitate dei, IV 4, Augustinus, zit. aus Philosophie der Gerechtigkeit, Christoph Horn und
Nico Scarano(Hg.), Frankfurt am Main, 2002. S.106.
24
dem Einwand, der auf der grundsätzlichen sozialen Funktion des Rechts basiert, also auf der
Funktion der Garantie der minimalen kollektiven Existenz der Menschen. Aufgrund dieser
Betrachtung kann man zwei Aspekte des Gegenarguments gegen die inhaltliche Beliebigkeit des
Rechts unterscheiden. Also einerseits den normativen Aspekt des Arguments, unter dem aufgrund
des Urteils über die Richtigkeit des Rechts dessen inhaltliche Beliebigkeit verleugnet wird,
andererseits dessen naturalistischer Aspekt, unter dem aufgrund des Urteils über die allgemeine
Funktion der Norm- die Funktion der Norm, den notwendige Rahmen der kollektiven Existenz der
Menschen zu garantieren-die inhaltliche Beliebigkeit des Rechts verleugnet wird.
Nennen wir diese Einstellung, dass eine inhaltliche Beschränkung des Rechts durch die Moral
möglich ist, naturrechtliches Gegenargument. Nun erkennen wir den logischen Unterschied
zwischen zwei Argumentationsmodi des
naturrechtlichen Gegenarguments. Innerhalb des
naturrechtlichen Gegenarguments gegen den Rechtspositivismus gibt es den deduktiven u. den
induktiven Argumentationsmodus. Die Zwei Argumentationsmodi aufgrund des Naturrechts haben
etwas gemeinsam in dem Sinne, dass Sie behaupten, dass durch die Moral der Inhalt des
positiven Rechts beschränkt werden kann. Dagegen unterscheiden sie sich insofern voneinander,
als jener die Quelle der Moral in der transzendenten Autorität (etwa Gott, einen idealen Sollen,
dem Willen des Souveräns usw.) findet, dieser auf dem natürlichen Faktum des alltäglichen
menschlichen Lebens. Bei jenem Argumentationsmodus werden die transzendenten Autoritäten
wie religiöse Doktrin, Volksgeist, charismatischer Führer usw. als Obersatz des Rechts aufgestellt,
wodurch
das
positive
Recht
inhaltlich
beschränkt
werden
kann,
was
der
deduktiven
Argumentationsweise entspricht. Dagegen wird bei diesem die Argumentation induktiv aufgestellt
und beruht auf dem Faktum der menschlichen Erfahrung.
Nun nennen wir die erste Argumentationsweise das deduktive (naturrechtliche) Gegenargument,
die zweite das induktive (naturrechtliche) Gegenargument. Das deduktive Gegenargument stützt
25
sich auf eine abstrakte Idee wie transzendentes, metaphysisches Naturrecht, Volksempfinden oder
den Willen des Souveräns. Im Gegensatz dazu hat das induktive Gegenargument die
naturalistische Auffassung der Moral zur Grundlage, in der sich aus der minimalen Bedingung der
menschlichen kollektiven Existenz die Funktion der Norm ableiten lässt.
1.2.
Minimaler
Inhalt
des
Naturrechts
nach
Hart
und
minimale
Existenzbedingung eines Rechtssystems
Dem deduktiven Gegenargument gegen die inhaltliche Beliebigkeit des positiven Rechts stimmen
die modernen Anhänger der Naturrechtstheorie und die Rechtspositivisten einheitlich nicht zu.
12
Also niemand
ist der Meinung, dass der Gehalt des positiven Rechts lediglich durch eine religiöse Doktrin, eine
abstrakte Idee oder das Volksempfinden usw. beschränkt werden kann. Der Grund dafür liegt
darin, dass die Argumentationsweise aufgrund der Berufung auf eine transzendente abstrakte
Autorität unter der modernen Diskussionslage nicht mehr akzeptiert werden kann. Z.B. würde
niemand behaupten wollen, dass aufgrund der Doktrin der katholischen Kirche die Homosexualität
gesetzlich strafbar ist, nach der sie als „Sünde“ bestimmt wird.
13
Bei dem induktiven Gegenargument ist der Umstand aber komplexer. Prima facie scheinen nicht
nur Naturrechtsanhänger sondern auch Rechtspositivisten zu akzeptieren, dass die naturalistisch
verstandene Moral die inhaltliche Grenze des positiven Rechts bilden kann. Hart z.B. behauptete in
12
Der Ausdruck “modern” verweist in Deutschland auf „die Zeit nach dem Nationalsozialismus“, in
der der Liberalismus als ein grundlegendes politisches Prinzip rehabilitiert wurde. In der NS Zeit
wurde das naturrechtliche Argument durchaus auf deduktive Weise verwendet. Die Funktion des
naturrechtlichen Arguments lag aber nicht in der normativen Beschränkung des Gehalts des
positiven Rechts. Es wurde vielmehr als Instrument der Rechtfertigung der willkürlichen
Ausdehnung oder Veränderung des Gehalts des positiven Rechts missbraucht. Siehe § 24,
Rechtspositivismus, Walter Ott, Berlin, 1992.
13
Siehe S.84. f. Ethik und Interesse, Norbert Hoerster, Stuttgart, 2003.
26
seiner These von „minimal content of the law“, dass in allen vorhandenden Rechtssystemen,
inhaltlich bestimmbares Recht gefunden werden kann. Er begründete sein Argument eben auf
naturalistische Weise.
14
Wenn wir aber darauf etwas näher eingehen, dann erkennen wir, dass der Umstand bezüglich der
Kontroverse zwischen Positivisten und Anhängern der Naturrechtslehre nicht so einfach ist. Worin
genau liegt der Streitpunkt, mit dem sich die beiden so stark auseinandersetzen? Moderne
Rechtspositivisten zeichnen sich vor allem durch ihre bestimmte Einstellung zu den zwei Punkten
aus: 1) dem Charakter der Verfahrensform, unter der das positive Recht gültig gemacht wird, 2)
der inhaltlichen Beliebigkeit des positiven Rechts. Ihrer Auffassung nach ist diese Verfahrensform,
durch die die Geltung des Rechts erfolgt, nichts anderes als ein soziales Faktum, das objektiv
auffassbar ist. Daher gibt es keinen Grund, sich zu weigern, das vom Gesetzgeber durch dieses
Verfahren gemachte Recht als „Recht“ zu bezeichnen, obwohl es inhaltlich moralisch sehr
fragwürdig ist. Natürlich kann der Gesetzgeber im Normalfall nach dem jeweiligen Bedürfnis eine
bestimmte Moral als den Gehalt des positiven Rechts kodieren. Wenn auch dies nicht der Fall ist,
bleibt noch die größere Möglichkeit, dass viele Gesetzgebungen auf eine die sozialen
Hintergrundmoral respektierende Weise erfolgen. Dennoch ist auch die folgende Tatsache wahr,
dass das formelle Verfahren, das zur Gesetzgebung gefordert wird, zum expliziten sozialen Faktum
gehört, das sich nicht der moralischen Aufforderung unterordnen lässt, und dass daher auch das
durch dieses Verfahren gesetzte Recht mit der Moral begrifflich keine notwendige Beziehung hat.
M.a.W. die Wahrheit des juristischen Satzes hängt nicht von der Wahrheit des moralischen Satzes
ab: Aus dem Satz, dass etwas moralisch richtig ist,
14
folgt nicht der Satz, dass dieses Etwas Recht
Siehe S. 193-200. The Concept of Law, H.L.A. Hart, Second Edition, Oxford, 1994. Dort erwähnt
er minimale Fakten über die Natur des menschlichen Zusammenlebens, die mit seiner These im
Wesentlichen verknüpft sind: (i) Human vulnerability, (ii) Approximate equality, (iii) Limited altruism
(iv) Limited resources (v) Limited understanding and strength of will.
27
ist.
Diese Bemerkung bezieht sich auf die positivistische Trennung zwischen dem kognitiven Aspekt
und dem praktischen, moralischen Aspekt der Justiz. Also, Rechtspositivisten unterscheiden
zwischen dem das Recht anerkennenden Verfahren und der moralischen Verpflichtung, das
positive Recht zu befolgen.
15
Ihrer Meinung nach mag dieses moralisch lasterhafte Recht zwar zum Recht gehören, aber hängt
es von der moralischen Auswahl jedes einzelnen ab, ob er dieses Recht befolgt. Die Verpflichtung,
ein gegebenes Recht zu befolgen, ergibt sich nicht aus dem Recht selbst. Sie lässt sich nach den
Rechtspositivisten vor allem nicht als juridische Pflicht, sondern als moralische Pflicht verstehen.
Wird ein Vertrag unter privaten Personen abgeschlossen, gehört die auf diesem Vertrag
beruhende gegenseitige Pflicht zur juristischen- sowie moralischen Pflicht. Aber auch wenn man
etwas als Recht akzeptiert, folgt daraus keine juristische Pflicht, dieses Recht zu befolgen. Diese
15
Siehe “Positivism and the Separation of Law and Morals”, in: Essay in Jurisprudence and
Philosophy, H.L.A. Hart, Oxford, 1983. insbesondere Chapter IV. S. 77:
…certain rules cannot be law because of their moral iniquity, we confuse one of most powerful,
because it is the simplest, forms of moral criticism. If with the Utilitarians we speak plainly, we say
that laws may be law but too evil to be obeyed…(Betonung von Autor).
Diese Erwähnung von Hart bildet einen eindrucksvollen Gegensatz zu dem klassischen Fall von
Sokrates, der ein moralisch „falsches“ Recht als „Recht“ anerkannte und an die Aufforderung des
positiven Rechts sein eigenes moralisches Urteil anpasste. Hart mag Sokrates subtil ironisieren.
Hart scheint in diesem Fall den Menschen vorzuschlagen, im Gegensatz zu Sokrates anders zu
verhalten. Die Meinung von Hart im Fall Sokrates kann so uminterpretiert werden: Auch wenn ein
Recht moralisch unerträglich ist, Recht ist Recht. Aber die Anerkennung, dass etwas Recht ist,
bringt nicht mit sich, dass aus dieser Anerkennung die moralische Verpflichtung folgt. Indem man
aus dem moralischen Grund ablehnt, dieses Recht zu befolgen, also indem Sokrates sich weigert,
das Gift zu trinken, kann er seine Integrität gegenüber dem Recht besser beweisen. Darauf wird
im nächsten Kapitel näher eingegangen werden.
28
gehört zur moralischen Pflicht, die dem moralischen Urteil des einzelnen zur Verfügung stehen
werden soll.
Wie bereits bemerkt wurde, haben Rechtspositivisten keine abweichende Meinung darüber, dass 1)
die Verfahrensform, unter der die Geltung eines positiven Rechts verliehen wird, zum objektiv
feststellbaren sozialen Faktum gehört. Außerdem nehmen sie auch die Möglichkeit ernst, dass
dieses Faktum mit der Moral in engerem Zusammenhang stehen würde. Aber trotzdem sind sie
sich darüber einig, dass dieses soziale Faktum der Gesetzgebung nicht durch den Bezug auf die
sozialen Moralen bestimmt wird. Aber 2) es ist noch nicht klar, welche Einstellung sie gegenüber
der inhaltliche Beliebigkeit des positiven Rechts einnehmen. Wenn 1) wahr ist, also der Satz, dass
die dem positiven Recht Geltung verleihende Verfahrensform als ein soziales Faktum sich nicht
immer auf die gegebenen sozialen Moral bezieht, ist dann Aussage 2) notwendig wahr? Selbst
wenn ein Recht so unerträglich lasterhaft ist, dass es bei den meisten Menschen unerträglichen
Ärger hervorruft, und selbst wenn es moralisch schrecklich ist, dieses Recht zu befolgen, ändert
dies nach der positivistischen Meinung nichts daran, dass es zum geltenden positiven Recht
gehört? Kann nicht das Empfinden die gegebene Tatsache verändern?
Es fällt sehr schwer zu beantworten, wie die zwei positivistischen Thesen, nämlich Harts These von
„the minimal content of the Law“ und die hier erwähnte inhaltliche, normative Unbeschränkbarkeit
des positiven Rechts von dem rechtspositivistischen Standpunkt aus miteinander vereinbar sind.
Wenn nach der Behauptung der Rechtspositivisten die einem Recht eine Geltung verleihende
Verfahrensform eine objektiv feststellbare soziale Tatsache ist, können wir uns a priori die Existenz
eines lasterhaften positiven Rechts vorstellen, das die Probe dieser Verfahrensform bestanden hat.
Stellen wir uns als Beispiel vor, das die Probe der Tatsächlichkeit bestanden habende Recht: „
Mord und Plünderung sind erlaubt.“ Würde Hart nach seiner eigenen These des minimalen
Gehalts des Naturrechts dieses nicht als „Recht“ bezeichnen? Vielleicht nein. Denn Hart sagt, ”..The
29
Society in which this was so might be deplorably sheeplike; the sheep might end in the slaughterhouse. But there is little reason for thinking that it could not exist or for denying it the title of a
legal system”.
16
Wie kann dieses scheinbare Paradox aufgelöst werden? Eine Alternative ist, anzunehmen, dass
Harts Verwendungsweise des Naturrechtsbegriffs eine andere als die der Naturrechtsanhänger ist.
Während Naturrechtsanhänger unter dem Ausdruck „Naturrecht“ normalerweise eine normative
Kraft verstehen, deren Mithilfe die Geltung eines positiven Rechts im Grenzfall leugnen kann,
versteht er unter demselben Begriff das universale inhaltliche Merkmal jedes Rechtssystems. Also
verwendet er den Ausdruck des Naturrechts wie ein Gesetz der Biologie. Der Naturrechtsbegriff
im hartschen Sinne ist nichts anderes als ein faktischer Satz über eine Regel, die im bestehenden
Rechtssystem universal vorgefunden wird.
Hart scheint als den einzigen Maßstab für die minimale Existenzbedingung eines Rechtssystems
nur die Probe der sozialen Tatsächlichkeit anzusehen, die mit der Probe der Moralität nichts zu
tun hat. Hier ist
hinzuzufügen, dass sein „minimal content of natural law“ weder zum Maßstab
für die Geltung des positiven Rechts noch zur minimalen Bedingung der Existenz eines
Rechtssystems gehört. Folglich führt es dazu, dass er den „minimal content of natural law“ nicht
als moralische Probe für die minimale Existenzbedingung eines Rechtssystems akzeptiert.
1.3.
Die
minimale
Existenzbedingung
eines
Rechtssystems
und
dessen
normativer Tatbestand
Was ist denn der Maßstab für die minimale Existenzbedingung eines Rechtssystems? Kann dies
16
Hart, (1994) S. 117.
30
bloß als die soziale Tatsache betrachtet werden, wie Positivisten vorschlagen? Kann man
denjenigen tatsächlichen Maßstab als den einzigen Test für das Rechtssystem feststellen, der
unabhängig von der politischen Idee einer Gesellschaft, der Regierungsform, dessen historischen
Entwicklungsprozess ist?
1.3.1. Grundzug der Regel als „öffentlicher Maßstab“
Die von Hart vorgeschlagene Regeltheorie bietet eine positive Antwort für diese Frage, obwohl sie
sehr komplex ist. Nach Hart ist es möglich, die Bedingung zu beschreiben, unter der das
Rechtssystem einer Gesellschaft im Allgemeinen besteht, ohne sich auf die Legitimität und den
politischen Hintergrund zu beziehen. Seiner Meinung nach lässt sich das Recht mit dem Begriff
des Regelsystems gut verstehen, das dem von Austin vorgeschlagenen Modell des generellen
Befehls des Souveräns (general command of souverign) gegenüber steht. Er teilt diese
Regeln in zwei Gruppen ein. Inhaltlich teilt er die Regeln der ersten Gruppe zu, die die Person
zum Tun oder Unterlassen verpflichten, der zweiten Gruppe ordnet er die Regeln der
Ermächtigung zu. Außerdem adoptiert er eine andere Weise der Einteilung. Also unterscheidet er
einerseits „primären Regeln“, die sich an den privaten Personen direkt orientieren, andererseits
„die sekundäre Regeln“, die sich an den Rechtsbeamten orientieren, die das Recht autoritativ
anerkennen, verändern, abschaffen, und anwenden können.
Hart sieht den Begriff der Regel als eine Art des Maßstabs, nach dem man seine eigene Handlung
koordinieren u. zugleich die der anderen kritisieren kann. Deshalb ist die Regel nur dann von
großer Bedeutung, wenn sie öffentlich dargelegt ist. Obwohl der austinsche Befehl des Souveräns
die Allgemeinheit als einen Grundzug annimmt, kann er nicht ein kritischer Maßstab für die
einzelne Handlung unter privaten Personen werden. Denn der Befehl liegt im Grunde nur in dem
binomischen Verhältnis zwischen Befehlsgeber und Befehlsadressat. Im Grunde genommen ist es
31
nur der Befehlsgeber, der an der Durchführung des Befehls ein Interesse hat und daher eine
Handlung
der
privaten
Person
zu
kritisieren
vermag.
Auch
wenn
der
Befehl
mit
Abschreckungseffekt an mich adressiert wird, brauche ich kein Interesse daran zu haben, dass
andere ein und denselben Befehl des Befehlsgebers ebenso ausführen.
Indem Hart nicht den Begriff des Befehls sondern den der Regel als Grundbegriff in seinem
System einführt, bezieht er sich in seinem Modell des Rechts auf zwei wichtige Punkte: Auf den
öffentlichen und dem maßstäblichen Charakter der Regel. Der Begriff der Regel schließt die
Konzeption des öffentlichen Maßstabs ein, so dass es mit diesem begrifflichen Merkmal leicht wird,
das Rechtssystem zu beschreiben. Dies ist im folgenden Sinne von doppelter Bedeutung: Erstens
kann man durch den Regelbegriff vermeiden, das Rechtssystem überflüssig moralisch zu belasten,
wie es durch den Normbegriff geschehen würde.
Zweitens kann man mit der Verwendung des Regelbegriffs die Konzeption der minimalen Fairness
verbinden, die in der Konzeption des „öffentlichen Maßstabs“ beinhaltet ist, selbst wenn der
Regelbegriff die Wertneutralität darzustellen scheint. Ziehen wir die Regel des Sportsspiels in
Betracht. Die Regel des Fußballspiels selbst definiert in erster Linie die im Spiel sich befindenden
Akte des Sportspielers und Schiedsrichters (Einwurf, Eckstoß, Abseits..).
17
Die Rolle des
Schiedsrichters ist, die Regel unparteiisch anzuwenden, ohne die Neutralität der Regel zu verletzen.
An der Vorstellung von der Rolle des Schiedsrichters kann man leichter sehen, was im Hintergrund
der Regelkonzeption steckt: Fairness als Neutralität der Regelanwendung. Dass jeder einzelne die
gegebene Regel befolgt, bedeutet nichts anderes, als dass die Handlung von jedem einzelnen aus
der Perspektive der Fairness standardisiert wird. Es ist klar, dass die persönliche Perspektive, die
Regel zu befolgen, in der kollektiven Perspektive die Konzeption der Unparteilichkeit der
17
Siehe, Zwei Regelbegriffe, John Rawls. In; Einführung in die utilitaristische Ethik, Otfried Höffe
(Hrsg), Tübingen, 2003. S. 153. ff.
32
Regelanwendung entspricht.
Trotzdem ist noch zu bemerken: Wenn man sagt, dass Regeln als öffentlicher Maßstab
funktionieren, muss das nicht bedeuten, dass die Kritik gegen die Übertretung einer Regel immer
den Zug des moralischen Vorwurfs annimmt. Wie bei der Übertretung der Sportregel reicht es aus,
dass diese Kritik bloß als äußerer Vorwurf bleibt. Das bedeutet in erster Linie: Die Kritik der
Übertretung einer Regel bedeutet nicht die Kritik der inneren Motive der Übertretung.18
Aus der Perspektive des Rechtssystems selbst betrachtet bezieht sich die Grundfunktion der Regel
als öffentlicher Maßstab nicht unmittelbar auf das innere Motiv des Handelnden zu deren
Befolgung und Übertretung. Das ist der Grundzug eines Rechtssystems. Diese Bemerkung ist
einerseits auch mit der methodologischen Aufforderung der analytischen Jurisprudenz vereinbar,
d.h. ein Rechtssystem neutral zu beschreiben, aber andererseits passt sie auch zu der
liberalistischen Herausforderung, nämlich, die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft, und der
daraus folgenden Bewahrung der Freiheit der einzelnen vor der Staatsgewalt.
Die Kritik einer privaten Person gegen eine andere private Person gehört daher vor allem zur
äußeren Kritik an der Tatsache, dass jemand die Regel übertritt. Die Möglichkeit dieser Kritik ergibt
sich aus dem öffentlichen Charakter der Regel. Aber trotzdem ist noch wahr, dass diese Kritik
insofern auch einen Aspekt der „inneren“ Kritik aufweist, als der Begriff der Regel selbst
unvermeidlich von der Konzeption der minimalen Fairness der Neutralität der Regelanwendung
abhängt.
1.3.2 Harts Kritik an Austin
18
Siehe S. 255. ff. Postscript, Hart. (1994).
33
Aufgrund des bisher Gesagten wenden wir uns nun dem Interesse an dem Vergleich zwischen
dem Modell von Hart und dem von Austin zu. Wie bekannt, stellt das Modell von Austin das
Recht als Befehl vom Souverän dar, der selbst nicht an seinen Befehl gebunden ist. M.a.W. ist das
Recht nichts anderes als das Produkt des Willens des Souveräns, der per Definition außerhalb des
Rechts steht, nicht ans Recht gebunden ist. Der Befehl des Souveräns bindet die private Person
sowie Rechtsämter, und diese Bindung drückt sich in der Tatsache des habituellen Gehorsams
dieser Gruppe aus. Die Grundzüge des austinschen Modells lauten:
1) Der außerhalb des Rechts stehende, das Recht erschaffende, aber daran nicht gebundene
Souverän.
2) Der Befehl dieses Souveräns
3) Der Zustand des habituellen Gehorsams von Befehlsadressaten.
Hart erhebt vor allem einen Einwand gegen die Meinung, dass die Haltung der Adressaten
gegenüber dem Recht auf die Haltung des habituellen Gehorsams zum Befehl zurückgeht. Hart
führt hierbei einen plausiblen Grund an, dass das Recht nicht immer den Grundzug des Befehls
einnimmt, und dass es nicht angemessen ist, die Haltung der Rechtsadressaten als habituellen
Gehorsam zu bezeichnen. Erstens, wenn die Haltung der Rechtsadressaten dem habituellen
Gehorsam entspricht, würde man nicht erklären können, dass viele Gesetzregelungen im
Privatrechtsbereich den Charakter der „Ermächtigung“ annehmen, d.h. die Funktion des Rechts,
den privaten Personen im privaten Verkehr die Befugnis zur (gegenseitigen) Berechtigung zu
verleihen. Diese Art der Gesetzregelungen nähert sich vielmehr der Verweisung oder der
autoritativen Einleitung an. Ein weiterer wesentlicher Punkt dafür ist, dass die Grundhaltung der
Rechtsämter und der privaten Personen nicht immer durch die Drohung in einer Form des
physikalischen Zwangs bestimmt werden, wie man am Beispiel der allgemeinen Achtung der
sozialen Regel gut erkennen kann, wie „Nimm den Hut ab, wenn du in die Kirche eintrittst“.
34
Nach dem austinschen Begriff des Souveräns ist es fragwürdig in dem Sinne, dass er nicht an dem
Recht gebunden ist und außerhalb des Rechts das Recht erschafft. Dieser Begriff im engeren Sinne
würde erst vorstellbar sein bei der verfassunggebenden Versammlung sowie bei der Gründung
eines Staats, also bei der Geburt des Staats. Die Bedeutung der Aussage von Austin über den
verfassunggebenden Souverän bedeutet nichts anderes als, dass die Quelle der das Recht
erschaffenden Macht ausschließlich in dem politischen Willen verwurzelt ist. Es ist aber noch die
Auffassung von Austin über die Funktion des Souveräns zu berücksichtigen. Dies ist ein wichtiger
Punkt. Fügen wir die Aussage von Austin über den Souverän mit dem Modell von Hart
zusammen: Stellen wir uns das neue Modell des Rechtssystems vor, in dem das Rechtsystem aus
der Regel einerseits, die von dem an den Regel nicht gebundenen Souverän gesetzt werden, und
andererseits dem habituellen Gehorsam von den Rechtsadressaten zu diesen Regeln besteht:
einfach gesagt, das Rechtsystem, in dem der austinsche Souverän die hartsche Welt des
Regelsystems dominiert.
1.3.3. Ursprünglicher Regelgeber und Quelle der Regelbefolgung
Die soziale Regel, dass man den Hut abzunehmen hat, wenn man in die Kirche eintritt, ist eine
gewöhnliche Regel und daher ist es schwierig zu sehen, wer wirklich diese Regel setzte: Der
Regelgeber kann möglicherweise eine Person oder ein bestimmte Gruppe sein. Aber es ist viel
wahrscheinlicher, dass diese Regel durch naturgemäße Vorgänge als ein Etikett gebildet wurde, mit
einer implizierten Vereinbarung unter den Menschen. Bei diesen gewöhnlichen Regeln ist es
rational zu sagen, dass die Quelle der Befolgung möglicherweise einerseits aus der Tatsache und
andererseits der Konzeption erfolgt, nämlich aus der Tatsache, dass diese Regel im allgemeinen
akzeptiert wird, und aus der Konzeption, dass diese Tatsache jedenfalls respektiert werden soll.
Hierbei gibt es zwei Aspekte: Die Tatsache, dass diese als Regel akzeptiert wird, bedeutet die
35
tatsächliche Wahrnehmung über die Existenz einer Regel. Und die allgemeine Konzeption, dass die
Regel geachtet werden soll, heißt die praktische Anerkennung einer Regel. Aus der Kombination
der
tatsächlichen
Wahrnehmung
mit
der
praktischen
Anerkennung
folgt
der
Akt
der
Regelbefolgung.
Nehmen wir ein anderes Beispiel an. Der Lehrer in einer Klasse setzt die Regel: „Säubern die
Klasse 10 Minuten vor dem ersten Unterricht“. Wenn die Schüler gefragt werden, warum sie diese
Regel befolgen, würden sie möglicherweise antworten, „Weil er diese als Regel gesetzt hat.“ In
diesem Fall gibt es die konventionelle Tatsache, die von allen Schülern wahrgenommen wird.
Erstens, die Tatsache, dass der Lehrer diese als Regel setzte, zweitens, die Tatsache, (obwohl sie
nur implizit informiert werden) der Lehrer die Befugnis hat, nach seinem Willen die Regel in der
Klasse zu setzen. Wird hierzu die generelle Konzeption, dass die Regel befolgt werden soll,
hinzugefügt, dann kann man die Bedeutung der Aussage verstehen, dass die Mitschüler einer
Klasse eine Regel akzeptierten.
Wenn man sagt, dass er etwas als Regel akzeptiert, gibt es darin nicht nur eine bloße
Wahrnehmung der Regel, sondern auch deren praktische Anerkennung. Daraus folgt, dass
einerseits die Aussage, dass etwas als Regel wahrgenommen wird, und andererseits die Aussage,
dass die Menschen etwas als Regel anerkennen oder akzeptieren, streng genommen nicht
dieselben sind. Die Letztere spiegelt eine praktische Haltung gegenüber einer Regel wider: Die
Achtung der Regel.
Wenden wir nun diese Denkweise auf das kombinierte Model von Hart-Austin an. Ist die Aussage
rational akzeptierbar, dass ein Rechtsystem nichts anderes als ein Regelsystem ist, das aus dem an
der Regel nicht gebundenen Souverän und seiner Regeladressaten besteht, die Recht habituell
akzeptieren?
36
Falls man als das Grundprädikat zum Zweck der Beschreibung eines Rechtssystems keinen Befehl,
sondern Regel adoptiert, sollte, meines Erachtens, die Haltung der Menschen gegenüber dem
Recht unterschiedlich beschrieben werden. Dies lässt sich vor allem durch die allgemeine
Konzeptionen bestimmen, die das jeweilige Grundprädikat hervorruft.
19
Wenn man unter dem Recht einen Befehl versteht, gehört die Quelle der Befolgung des Befehls
zur Drohung zusammen mit dem Zwangsakt. Aber wird das Recht als Regel bestimmt, liegt die
Quelle der Befolgung vor allem darin, dass die Regeladressaten die Tatsache wahrnehmen, dass
der Regelgeber diese als Regel gesetzt hat, und dass sie die allgemeine Konzeption haben, dass
die Regel befolgt werden soll. Also die Kombination zwischen Wahrnehmung der Tatsache und
Anerkennung der allgemeinen Konzeption bildet zusammen die Quelle der Regelbefolgung.
Hierbei ist noch zu bemerken: Allgemein gesagt, muss in der Wirklichkeit der Regelgeber auch
den Bezug auf andere Arten der Regel nehmen, obwohl er frei von Regeln seine Regel zu setzen
scheint. Betrachten wir den Fall des Lehrers in der Klasse. Er ist im Prinzip befreit von dem Eingriff
der anderen Lehrer oder von dem Schulleiter oder von anderen Regeln der Schule. „Er geht nach
freiem Ermessen bei der Setzung seiner Regel vor.“ Diese Aussage kann in diesem Sinne eine
Interpretation dessen, dass der Lehrer nicht an der Regel gebunden ist, sein. Hierbei bedeutet
dieser Ausdruck, „nicht an der Regel gebunden“, dass er autoritative Eingriff von anderen
19
Hart hat auch richtig bemerkt, dass die Konzeption, die durch das Grundprädikat hervorgerufen
wird, das der Beschreibung eines Rechtssystems dient, eine wichtige Rolle spielt. Siehe Hart, (1983)
S.59.
„…These fundamental accepted rules specifying what the legislature must do to legislate are not
commands habitually obeyed, nor can they be expressed as habits of obedience to persons. They
lie at the system, and what is missing in the utilitarian scheme is an analysis of what it is for a
social group and its officials to accept such rules. This notion, not that of a command as Austin
claimed, is the ‘key to the science of jurisprudence’, or at least one of the keys”.
37
ausgeschlossen wird, wenn der Lehrer den Inhalt seiner Regel für die Klasse setzt.
Aber näher betrachtet, hängt die Autorität des Lehrers, eine Regel für seine Klasse zu setzen, von
den anderen Arten der Regel, in denen der Status, die Verantwortung und die Rolle des Lehrers
bestimmt werden, ab. Der Lehrer akzeptiert die Tatsache, dass sein Ermessen innerhlab dieser
Regel auf dem oberen Rang beruht. In diesem Sinne passt nicht der Lehrer in der Klasse zum
Begriff des Souveräns, der von der Bindung aller Regel befreit ist.
Wie schon bemerkt wurde, durchführen eine bestimmte Person oder eine bestimmte Gruppe, die
eine Befugnis haben, im Alltag eine bestimmte Form der Regel zu setzen oder anzuwenden, ihre
Arbeit, indem sie bestimmte Regeln des oberen Rangs akzeptieren, die die Tragweite ihres Amts
und ihre Befugnis bestimmten. Hierbei treffen wir auf zwei Schwierigkeiten. Wenn wir den Begriff
des (souveränen) Regelgebers, der selbst an allen Regeln nicht gebunden ist, analysieren,
konfrontieren wir uns entweder mit einem Blindpunkt der logischen Deduktion, oder mit einer
Beschränkung des Erklärungsausmaßes.
Betrachten wir nun als erstes den zweiten Punkte. An einem Zeitpunkt, in dem ein Staat
gegründet wird, entsteht zum ersten Mal eine souveräne Autorität. Z.B. Staat A und Staat B haben
vereinbart, einen neuen Staat zu errichten. Sie haben auch vereinbart, ein völlig neues
Verfassungsrecht zu erschaffen. In dieser Situation liegt der Grund für die Erschaffung der ersten
Rechtsregel eben in dieser politischen Vereinbarung. Als anderes Beispiel wird aufgestellt, dass
sich Staat A den Staat B durch Gewalt einverleibt. Souverän A schafft das Recht des Staats B völlig
ab, und legt an dieser Stelle das Recht von A fest. In diesem Fall ist die erste Erschaffungsquelle
des neuen Rechts von Staat B der Wille des Souveräns von Staat A. Wenn A und B beide Reiche
sind, werden im ersten Beispiel der König von Staat A und der König von Staat B gemeinsam
souveräne Gesetzgeber von Staat AB. Im zweiten Fall ausschließlich der König von Staat A.
38
Falls der bisherige Rechtsstand in einem Territorium sich durch eine neue Gründung des Staats
völlig verändert, also falls das gesamte Rechtsystem entweder mit einen neuen System völlig
ersetzt wird oder völlig neu erschaffen wird, würde der Begriff des Souveräns, der von der
Bindung der Regel völlig befreit ist, in dem gemischten Modell von Hart-Austin passen. Sonst
nicht. Aus dieser Betrachtung folgt, dass das gemischte Modell zwar als Modell für die Erklärung
der ursprünglichen Bildung eines Rechtssystems funktioniert, aber nicht als ein allgemeiner
Beschreibungsrahmen des Rechtssystems dient.
1.3.4. Die Regel der Anerkennung nach Hart: eine minimale innere Perspektive
Folglich ist das kombinierte Modell von Hart-Austin als ein Modell der allgemeinen Beschreibung
für bestehende Rechtssysteme nicht relevant. Sobald man als Grundprädikat zur Beschreibung
eines Rechtssystems „Regel“ adoptiert, dann würde die Regeltheorie als das allgemeine Modell
wegen des Begriffs des Souveräns, der „außerhalb der Regel“ Regeln setzt, ihre Plausibilität
erheblich verlieren.
In diesem Zusammenhang verzichtet Hart auf den Begriff des souveränen Gesetzgebers. Im
Gegensatz dazu versucht er dieses Problem durch die Ausdehnung des Begriffs der Regel
aufzulösen. Er behauptet, dass sich aus dem konventionellen Faktum, dass Menschen ein Set der
Propositionen als Rechtsregel akzeptieren, die Geltung der Rechtsregeln ergibt, und weiterhin
behauptet,
dass
dieses
konventionelle
Faktum
der
Akzeptierung
einen
Grundzug
der
„Regel“ einnimmt. Hart nennt dieses konventionelle Faktum der Akzeptierung Master Regel eines
Systems. Durch diese Regel erfolgt die Geltung einer Regel im Rechtssystem. Die Wahrheit der
rechtlichen Proposition, nämlich die Geltung einer bestimmten Rechtsproposition, wird nach dem
Test dieser Master Regel entschieden, auf die sich die konventionelle Tatsache der Anerkennung
bezieht.
39
Diese Erklärungsweise ist nicht so ungewöhnlich. Betrachten wir nun noch mal das vorher
angeführte Beispiel. Ist die Regel der Etikette, „Nimm den Hut ab, wenn du in die Kirch eintrittst“,
eine gültige Regel? Wie erkennen wir das? Wir können uns leicht vorstellen, dass aus der bloßen
faktischen Aussage, dass die meisten Leute ihre Hüte abgenommen haben, falls sie in die Kirch
eintraten, nicht die Geltung dieser Regel heraustritt. Dies ist genauso wie das andere hartsche
Beispiel, dass aus der Tatsache, dass die meisten Leute in einer kleinen Stadt am Wochenende ins
Kino gehen, die Geltung der Regel nicht heraustritt, dass Leute in dieser Stadt am Wochenende
ins Kino gehen sollen. Wie Hart richtig bemerkte, hängt das Geltungspotenzial der Tatsache, dass
eine Menge von Leuten etwas als Regel akzeptiert, von der Möglichkeit ab, dass diese Leute
aufgrund dieser Regel die von dieser Regel abweichende Handlung kritisieren. Allgemein gesagt,
hängt die Geltung als Regel nicht von der äußeren Aussage über die Regelmäßigkeit der
passierenden Sachverhalte ab, sondern von der inneren Aussage, also von der Anerkennung der
Handelnden, dass eine Regel unter ihnen als öffentlicher Maßstab akzeptiert wird.
Die Feststellung, ob die Aussage, „Nimm den Hut ab, wenn du in die Kirche eintrittst“ als eine
Regel einer Gemeinschaft akzeptiert wird, hängt daher davon ab, wieweit kritische Haltungen
gegen diejenigen, die in der Kirche nicht ihren Hut abgenommen haben, in der Gemeinschaft
aktiviert worden sind. Trotzdem braucht diese kritische Haltung gegenüber der von der Regel
abweichenden Handlung nach Hart nicht aus den moralischen Erwägungen hergeleitet zu werden.
Er ist der Meinung, dass obwohl diese kritische Haltung nur auf die etablierte sozial verbreitete
Konvention ohne Überlegung basieren würde, dies als Beweis dafür ausreicht, dass diese Regel als
„vorhandene Regel“ in dieser Gemeinschaft gilt.
20
20
Siehe, a.a.O. Postscript, S.257, Hart sagt:
„..his [Dworkin] account of the existence condition of a social rule seems to me far too strong.
For it seems to require not only that the participants who appeal to rules as establishing duties or
providing reasons for action must believe that there are good moral grounds or justification for
conforming to the rules, but that there must actually be such good grounds…..Indeed, even the
weaker condition that for the existence of a social rule it must only be the case that participants
40
Deshalb kann man ein Urteil darüber fällen, ob die Aussage, „Nimmt den Hut ab, wenn du in die
Kirche eintrittst“ eine gültige Regel der Etikette darstellt, indem man sich darauf bezieht, dass
Mitglieder der Gemeinschaft diese als „Regel“ der Etikette akzeptierten, also indem man sich
darauf bezieht, dass Mitglieder der Gemeinschaft eine ausreichende Bereitschaft haben, diejenigen,
die in der Kirche nicht Hut abgenommen haben, zu kritisieren. Noch einmal zu betonen ist, dass
diese Kritik nicht aus dem moralischen Grund abgeleitet werden muss, sondern es ausreicht, als
äußere Kritik zu bleiben, wie die Kritik „Jedermann nimmt seinen Hut ab, aber warum nimmst du
deinen Hut nicht?“.
Diese Denkweise hilft dem Verständnis des Grundzugs der Regel der Anerkennung. Die Geltung
des Rechts im Rechtssystem begründet sich nicht durch den Willen des Souveräns im austinschen
Sinne, der außerhalb des Rechtssystems ein Recht seinen Untertanen befehlt, sondern durch die
Grundregel der Anerkennung, m.a.W. durch das Faktum, dass etwas von eine Menge der
Mitglieder innerhalb des Rechtssystems als Recht akzeptiert wird. Hart schlägt daher vor, den
Maßstab der Existenz des Rechtssystems in einer Gesellschaft nicht in der Perspektive des
Souveräns zu finden, sondern in den konventionellen Fakten, dass Rechtsbeamte und private
Personen aus einer innerern
Perspektive 21 eine Proposition bzw. ein Verfahren als Regel des
Rechts akzeptieren.
must believe that there are good moral grounds for conforming it is far too strong as a general
condition for the existence of social rules. For some rules may be accepted simply out of
deference to tradition or the wish to identify with others or in the belief that society knows best
what is to the advantage of individuals….when the question arises as to why those who have
accepted conventional rules as a guide to their behavior or as standards of criticism have done so
I see no reason for selecting from the many answers to be given a belief in the moral justification
of rules as the sole possible or adequate answer..
21
Diese “innere Perspektive” umfasst die innere und äußere Kritik gegenüber der von der Regel
abweichende Handlung. Innere bzw. moralische Kritik bedeutet die Kritik, deren Motive in dem
rationalen Grund verwurzelt ist, und zwar reflektierende Kritik. Dagegen heißt die äußere Kritik die
Kritik ohne rationalen Grund, also unreflektierende Kritik.
41
In diesem Zusammenhang kann man Harts Meinung verstehen, dass es nicht möglich ist, sich die
Geltung der Regel der Anerkennung selbst vorzustellen. „it [the very rule of recognition] can
neither be valid nor invalid, (it) is simply accepted as appropriate for use in this way.”
22
Denn die
Regel der Anerkennung ergibt sich lediglich aus den äußeren konventionellen Fakten, dass
Rechtsbeamte und private Personen etwas als Recht akzeptieren. Nach Hart,
…The statement that a rule exists may now no longer be what it was in the simple case of
customary rules-an external statement of the fact that a certain mode of behavior was generally
accepted as a standard in practice. It may now be an internal statement applying an accepted but
unstated rule of recognition and meaning no more that ‘valid given the system’s criteria of
validity’. In this respect, however, as in others a rule of recognition is unlike other rule of the
system. The assertion that it exists can only be an external statement of fact. For whereas a
subordinate rule of a system may be valid and in that sense ‘exist’ even if it is generally
disregarded, the rule of recognition exists only as a complex, but normally concordant, practice of
the courts, officials, and private persons in identifying the law by reference to certain criteria. Its
existence is a matter of fact…
23
Die folgende Aussage von Hart ist auch zu betonen:
….The case for calling the rule of the recognition ‘law’ is that the rule providing criteria for the
identification of other rules of the system may well be thought a defining feature of a legal
system, and so itself worth calling ‘law’; the case for calling it ‘fact’ is that to assert that such a
rule exists is indeed to make an external statement of an actual fact concerning manner in which
22
a.a.O. S. 109.
23
a.a.O. S.110.
42
the rules of an ‘efficacious’ system are identified… 24
…Here surely the reality of the situation is that a great proportion of ordinary citizens-perhaps a
majority-have no general conception of the legal structure or of its criteria of a validity….Here
what is crucial is that there should be a unified or shared official acceptance (by legal staffs) of
the rule of recognition containing the system’s criteria of validity.
1.3.5.
25
Normativer Charakter der Regel der Anerkennung: Die Regel der Anerkennung ist die
minimale Existenzbedingung eines Rechtssystem sowie der normative Tatbestand
Nach Hart ist die Frage, „Was ist Recht?“ im weiteren Sinne nichts anderes als die Frage nach dem
Ausmaß der Konvention, in der Rechtsbeamte, Gesetzgeber und private Personen ein Set der
Proposition und Verfahrens harmonisch als Recht akzeptieren. Allerdings räumt er die Möglichkeit
der allgemeinen Unkenntnis der privaten Personen über die Konzeption der Geltung in einer
komplexen Struktur des entwickelten Rechtssystems ein. Dementsprechend fordert er den
Rechtsbeamten auf, dass sie über den Inhalt und das Ausmaß der akzeptierten Konvention auf
eine einheitliche, geteilte und bewusste Weise eine klare Vereinbarung zur Verfügung stellen
sollen. Dies ist von großer Bedeutung für unsere Betrachtung. Denn um zu sagen, dass ein
Rechtssystem besteht, der Inhalt und das Ausmaß dieser Konvention mindestens allen Mitgliedern
der Rechtsbeamtengruppe offensichtlich und klar dargelegt werden muss, und darüber im Prinzip
keine Kontroverse unter Beamten bestehen soll. Dies ist eine Art der normativen Aufforderung.
Der Grund, weshalb die Regel der Anerkennung als Grundregel nicht nur den Aspekt der
Tatsächlichkeit sondern auch den der Normativität hat, ergibt sich hieraus. Nach Hart:
24
a.a.O. S.111. f.
25
a.a.O. S.114. f.
43
…If it (the rule of recognition) is to exist at all, must be regarded from the internal point of view
as a public, common standard of correct judicial decision, and not as something which each judge
merely obeys for his part only. Individual courts of the system though they may, on occasion,
deviate from these rules must, in general, be critically concerned with such deviations as lapses
from standards, which are essentially common or public. This is not merely a matter of the
efficiency or health of the legal system, but is logically a necessary condition of our ability to
speak of the existence of a single legal system. If only some judges acted ‘for their part only’
on the footing that what the Queen in Parliament enacts is law, and made no criticisms of those
who did not respect this rule of recognition, the characteristic unity and continuity of legal
system would have disappeared.26
Wie bereits bemerkt wurde, besteht die Regel der Anerkennung aus den konventionellen Regeln
und zugleich den Tatsachen, die von den Mitgliedern einer Gesellschaft von einem minimalen
inneren Standpunkt aus akzeptiert werden. Hierbei bedeutet ein minimaler innerer Standpunkt
eine Konzeption der kritischen Haltung gegen die von einer Regel abweichenden Handlung, die
eine kritische Haltung im weitersten Sinne, nämlich eine unreflektierte, äußere kritische Haltung
umfasst. Hierbei ist noch zu bemerken, dass, falls wir die Regel der Anerkennung nur als
konventionelle Tatsache für die Rechtsbeamtengruppe ansehen, das Niveau der normativen
Aufforderung mehr erhöht werden wird. Unter die Regel der Anerkennung, die allgemeine
Mitglieder eins Systems akzeptieren, darf die Möglichkeit der Kritik gegen die von der Regel
abweichenden Handlung individualistisch bleiben, und es reicht aus, dass der Charakter dieser
Kritik als etwas äußeres bleibt, dagegen, falls sich die Regel der Anerkennung nur an die
Beamtengruppe richtet, würde der Charakter der Kritik etwas Einheitliches, Kollektives und Inneres
werden. Wichtiger ist, dass der Fall, dass Beamte die Regel der Anerkennung willkürlich verändern
26
a.a.O. S.116. Betonung des Autors.
44
bzw. im bestimmten Fall sich weigern, die Regel der Anerkennung anzuwenden (wenn etwa ein
Richter sich verweigert, eine von anderen Richtern anerkennte Regel als Recht anzuerkennen),
dazu führen würden, dass die logische Grundlage eines Rechtssystems selbst zusammen bricht.
Falls ein Rechtssystem auf einen lasterhaften politischen Hintergrund basiert, lässt dies die
darunter lebenden Beamtengruppen in der hartschen Welt schnell in ein logisches, moralisches
Dilemma geraten. Ich werde im nächsten Kapitel dieses Dilemma erörtern.
Die abschließende Aussage dieses Kapitels lautet: Die Regel der Anerkennung im Modell von Hart
genügt im Allgemeinen sowohl der minimalen Existenzbedingung eines Rechtssystem wie auch
dessen minimalen normativen Tatbestand.
45
2. Rechtspositivismus und richterlicher Ungehorsam
2.1. Deskriptive Rechtstheorie und Politische Prinzipien
2.2. Normativer Charakter der Regel der Anerkennung
2.2.1 Zwei Arten der Grundregel der Anerkennung
2.2.2.Missbrauch der Grundregel der Anerkennung und die Existenz des autoritativen Texts.
2.2.3.Normativität der Regel der Anerkennung
2.3. Logische Grundlage der Regel der Anerkennung und daraus folgende logische Grundpflichten der
Richter
2.4. Der Fall des lasterhaften Rechts: richterlicher Ungehorsam gegen das lasterhafte Recht und
Missbrauch der Regel der Anerkennung - Das Dilemma des rechtspositivistischen Richters
2.1. Deskriptive Rechtstheorie und Politische Prinzipien
Man kann sich leicht vorstellen, dass das Modell, das der Rechtpositivismus vorschlägt, ein
Rechtssystem allgemein beschreiben kann, ohne dass er den Bezug auf diejenige politische
Theorie nimmt, die ein betreffendes Rechtssystem bzw. eine politische Struktur einer Gesellschaft
allgemein
rechtfertigt.
Innerhalb
des
Modells
von
Austin
gibt
es
kein
normatives
Interessensverhältnis zwischen Befehlsgebenden Souverän und Befehlsadressierenden privaten
Personen. Es besteht darin nur eine konventionelle Tatsache des (habituellen) Befehls und des
habituellen Gehorsams. Dies bedeutet, dass das politische Verhältnis zwischen Gesetzgeber und
privater Person lange Zeit stabil bleibt. Denn in der Zeit des politischen Umbruchs wird die Frage
„Wer ist der politische Macht habende Souverän?“ aktiviert, und dies führt unmittelbar zur
politischen Unstabilität.
Es ist nicht leicht zu beantworten, ob in dem Modell von Austin die Tatsache des habituellen
Gehorsams das Resultat der politischen Stabilität ist, die dem Rechtssystem zugrunde liegt.
46
Ebenso nicht leicht ist es, zu sagen, dass das Modell von Austin kein unmittelbares Interesse an
dem Verhältnis des Rechtssystems von der Moral hat. Abgesehen davon, dass Austin Utilitarist war,
ist sein Modell in dem politischen Hintergrund von England verankert, wo sich der politische
Liberalismus schon in seiner Zeit niedergelassen hat. Wenn wir zwei Arten der Moral
unterscheiden, einerseits „naturrechtliche Moral“, die einen universalen Geltungsanspruch in sich
hat, andererseits „politische Moral“, die den politischen Prinzipien oder gemeinschaftlichen
Werten entspricht, die einer politischen Gemeinschaft Achtung verleiht, können wir uns vorstellen,
dass das Modell von Austin etwas mit der politischen Moral zu tun hat.
Auch wenn dieser Umstand von dem Standpunkt der allgemeinen Jurisprudenz her, die sich an
der allgemeinen Beschreibung eines Rechtssystems orientiert betrachtet wird, würde es zu
eingeschränkt sein, zu sagen, dass das Modell von Austin nur im liberalistischen Modell gültig ist.
Dies würde die Tragweite und Leistungsfähigkeit der analytischen Jurisprudenz zu sehr
beschränken. Fassen wir also zusammen: Wenn wir der Grundeinstellung der analytischen
Rechtstheoretiker Rechnung tragen, nach der es möglich ist, ohne Bezug auf ein politisches
System das Rechtssystem einer Gesellschaft allgemein zu beschreiben, so ist das Modell von
Austin eine Rechtstheorie, die zwar den politischen Liberalismus als Hintergrund hat, aber sich
ohne unmittelbaren Bezug auf sein bestimmtes politisches Prinzip
auf die allgemeine
Beschreibung eines Rechtssystem richtet. In der Tat gibt es innerhalb seines Modells nur
deskriptive und hypothetische Begriffe (wie der an dem Befehl nicht gebundene Souverän,
allgemeine Befehl, habituelle Gewohnheit des Gehorsams..), die als solche keiner moralischen
Wertung bedürfen. In diesem Sinn darf man sagen, dass es in seinem Modell keinen normativen
Tatbestand gibt.
Diese Punkte wurde von Hart stark kritisiert. Wie schon bemerkt, kritisiert Hart das Modell von
Austin in dem Sinne, dass es auf die Situation passt, in der der Räuber mit der Pistole die
47
Bankangestellten bedroht, was im Allgemein von unserer Intuition erheblich abweicht. Nach Hart
dient der Begriff des „Befehls“ nicht als Grundprädikat für die Beschreibung eines Rechtssystems,
obwohl dieser Begriff mit dem Begriff des Recht etwas Ähnliches gemeinsam hat. Denn die
Sanktion ist nur ein Aspekt, den jedes Rechtssystem in sich hat-obwohl dieser Aspekt von großer
Bedeutung ist. Nach Hart kann der Begriff der „Sanktion“, die bei der Beschreibung eines
Rechtssystem als „Befehl“ die wesentliche Rolle spielt, nicht ein wesentliches Merkmal eines
Rechtssystem sein. Denn sie stellt weder den Zweck eines Rechtssystems noch das entscheidende
Motiv zur Befolgung dar. Die Sanktion wird vor allem nicht als normales Motiv zur Befolgung
sondern als eine Garantie auffordert, also die Garantie, damit freiwillige Befolger von Feindseliger
gegen dem Recht nicht geopfert werden kann. 27
Diese Meinung von Hart über das Wesen der gesetzlichen Sanktion ist deutlich liberalistisch. Die
Sanktion ist nicht die Maßnahme, die der Souverän auswählt, um allen Gesellschaftmitgliedern die
Befolgung des Rechts einheitlich aufzuzwingen. Vielmehr ist sie ein Rahmen, in der die (nicht
wenigen) freiwilligen Befolger vor den abweichenden Leuten des Rechtssystems bewahrt werden.
In dieser Aussage spiegelt sich das grundsätzliche Interesse der Liberalisten wider, durch die
öffentliche Konstruktion des Rechtssystems ihr privates Interesseverhältnis zu bewahren. Von der
politischen Wirklichkeit aus gesehen ist es auch wahr, dass es vor allem ausreichend freiwillige
Befolger geben muss, damit ein Rechtsystem gut funktioniert.
28
Dennoch ist diese Aussage mit der folgenden Bemerkung nicht zu verwechseln. Die
27
The Concept of Law, H.L.A. Hart, second edition, Oxford, 1994, S.198.
„…’Sanction’ are therefore required not as the normal motive for obedience, but as a guarantee
that those who would voluntarily obey shall not be sacrificed to those who would not…”
28
a. a. O., S.201.
„..It is true…that if a system of rules is to be imposed by force on any, there must be a sufficient
number who accept it voluntarily. Without their voluntary co-operation, thus creating authority,
the coercive power of law and government cannot be established.”
48
geschichtesoziologische Aussage, neben dem physikalischen Zwang bedarf es auch einem
Mechanismus, freiwillige Befolgung von einer nicht geringen Anzahl von Leuten herauszuziehen,
damit ein Rechtsystem lange hält, ist wesentlich anders als die erste Aussage. Hierbei will Hart
nicht behaupten, dass ein Rechtsystem historisch nur auf diese Weise funktionierte. Er schlägt
vielmehr eine Erklärungsweise-liberalistische Erklärungsweise- vor, unter der sich die logische
Konstruktion der allgemeinen Voraussetzungen eines Rechtssystems verstehen lässt.
Dies bedeutet, dass die Erklärung von Hart über die allgemeine, logische Konstruktion eines
Rechtsystems hinter dem liberalistischen Hintergrund- im Verständnis des liberalistischen
politischen Prinzip- ausgeführt wird. Warum hat der hartsche Souverän ein Interesse an der
Bewahrung der freiwilligen Befolger? Im Gegensatz dazu erkennt der austinsche Souverän nicht,
wer ein freiwilliger Befolger ist und wer nicht. Weil er in der Lage ist, außerhalb eines
Rechtssystems zu stehen und die Rechtsadressaten mit Zwang zu kontrollieren, hat er im Prinzip
überhaupt kein Interesse für die Bewahrung der freiwilligen Befolger vor deren Gegner. Aber nach
Hart kann der freiwillige Befolger durch den von dem Souverän erzeugten Rahmen seine privaten
Interessen versuchen zu bewahren. Dies setzt den Standpunkt voraus, dass freiwillige Befolger
innerhalb des bestimmten Ausmaßes den Souverän zu bewegen vermögen.
Anders als das austinsche Befehlsmodell, schließt das hartische Regelmodell ein minimales
liberalistisches politisches Prinzip in sich ein. Das minimale liberalistische politische Prinzip stellt
den politischen Neutralismus aufgrund der Konzeption der Fairness dar. Der Begriff der Regel als
Grundprädikat für die Beschreibung eines Rechtssystems umfasst bereit dieses politische Prinzip.
Regel und Befehl haben insofern etwas gemeinsam, als sie einer Person etwas zu tun oder zu
unterlassen verweisen. Aber die Regel nimmt zusätzlich den Grundzug als „öffentlichen Maßstab
“ ein, wie schon bemerkt wurde. Die Regeln gehören zur vorher vereinbarten Auswahl für „
common goods“. Indem diese Auswahl dem Publikum deutlich dargelegt wird, hat sie einen
öffentlichen Charakter. Und noch andere Dinge, die bei dem Prozess der Regelsetzung angedeutet
49
werden, ist, dass diese Regel mindestens als ein Ergebnis der „neutralen Probe“ der miteinander
konkurrierenden politischen Aufforderungen angesehen wird.
29
All das entspricht dem, was wir unter dem Begriff der „Regel“ verstehen. Der Begriff der „Regel
“ und die Achtung von der Konzeption der „Fairness“, die der Regelbegriff in sich schließt, stehen
im engeren Zusammenhang mit der Erfassungsweise der Liberalisten über die Funktion des Staats.
Allerdings bedeutet dies nicht, dass das Regelmodell von Hart nur für die Beschreibung und
Erklärung des Rechtssystems des liberalistischen Staats gültig ist. Die erste Aussage, dass es
möglich und allgemein gültig ist, unabhängig von einem jeweiligen politischen System in Bezug
auf den Begriff des „Regelsystems“ das Rechtsystem zu beschreiben, und die zweite Aussage,
dass die Regeltheorie als Modell zur Beschreibung eines Rechtssystems hinter dem Hintergrund
des liberalistischen politischen Prinzips besser verstanden werden kann, sind miteinander vereinbar.
Wir können eine Aussage, dass ein Modell universales Phänomen beschreiben und erklären kann ,
und die andere Aussage, dass dasselbe Modell mit Hilfe des politischen Prinzips gut verstanden
werden kann, getrennt verstehen und erhalten. Die zweite Aussage schränkt nicht die
Erklärungstragweite des Modells ein, die bei der ersten Aussage vorgeschlagen wird. Z.B. die
Aussage, dass das hartsche Regelmodell angemessen für die Beschreibung des Rechtssystems des
faschistischen Staats ist, würde wahr sein. Auch wenn diese Aussage wahr ist, wird die Aussage,
dass die hartsche Regelmodell sich im Hintergrund der liberalistischen politischen Prinzipien gut
verstehen lässt, nicht automatisch falsch.
29
Siehe a.a.O., S. 167.
…Some might indeed argue that….a choice between the competing claims of different classes or
interests was made ‘for the common good’, was that the claim of all had been thus impartially
surveyed before decision. Whether this is true or not, it seems clear that justice in this sense is at
least a necessary condition to be satisfied by any legislative choice which purports to be for a
common good…
50
Daraus folgt, dass die Aussage, dass obwohl ein Modell zur allgemeinen Beschreibung eines
Rechtssystems entworfen wird, dieses Modell selbst im Hintergrund eines bestimmten politischen
Prinzips bestens verstanden wird, nicht als solche die Erklärung für den „minimalen normativen
Tatbestand eines Rechtssystems“ sein kann. Denn aus demselben Grund, der eben vorher
angeführt wird, umfasst die Aussage, dass ein Modell im Hintergrund eines bestimmten
politischen Prinzips besser verstanden werden kann, nicht die Aussage, dass dieses Modell als
solches einen normativen Tatbestand in sich einschließen. Deswegen scheint die folgende
Behauptung vorschnell zu sein: Weil die Konzeption der Regel die Konzeption der Fairness
umfasst, muss die „Fairness“ als allgemeiner, normativer Tatbestand für alle Rechtssysteme im
Prinzip vorausgesetzt werden.
30
2.2. Normativer Charakter der Regel der Anerkennung
2.2.1.
Zwei Arten der Grundregel der Anerkennung
Wenn all das richtig ist, fordert dann das hartsche Regelmodell genauso wie das austinsche
Befehlsmodell keinen normativen Faktor als minimale Existenzbedingung eines Rechtssystems auf?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir vor allem betrachten, ob die Regel der Anerkennung
nur den tatsächlichen Aspekt hat, wenn nicht, inwieweit und in welchem Sinne diese Regel einen
normativen Aspekt hat. Denn die Regel der Anerkennung funktioniert im hartschen System als
30
Über dieses subtile Problem scheinen die Meinungen von Wissenschaftlern gegeneinander zu
stehen. Z.B. wenn wir annehmen, dass in dem virtuellen Staat es nur einziges Gesetz gibt, nämlich
„der Richter muss nur nach dem, was die Gerechtigkeit fordert, die Entscheidung fallen“. Raz
möchte dieses virtuelle „Gesetz“ nicht als Recht bezeichnen. Denn es fehlt hier eine minimale
normative Voraussetzung, die zu jedem Rechtssystem gehört: ein minimaler institutioneller
Maßstab zur Kontrolle der willkürlichen Entscheidung des Richters.
51
Grundregel für die endliche Probe der Geltung eines Gesetzes.
Als erstes müssen wir die Regel der Anerkennung vereinfacht verstehen. Diese Grundregel besteht
im Grund aus komplizierten, aber harmonisierten Konventionen der Akzeptierung unter Beamten,
Gerichten und privaten Personen. Grob gesagt teilen sich die Regel der Anerkennung einerseits in
die von Beamten akzeptierte Regel der Anerkennung, anderseits in die von allen privaten
Personen akzeptierte Regel der Anerkennung. Allerdings ist als erstes zu bemerken, dass die
Ausdehnung dieser Grundregel nach der Art der anerkennenden Gruppe-also, nach der Gruppe
der Beamten und der Gruppe von allgemeinen privaten Personen- nicht different ist. Diese
scheinbare Einteilung der Gruppe seitens der anerkennenden Subjekte spiegelt nur die komplexe
soziale Wirklichkeit, in der das Rechtssystem verankert ist, wider. Um allen Konventionen der
Anerkennung in dem modernen komplexen Rechtssystem zugänglich zu werden, bedarf es der
Fachkenntnis, die nur durch die lange Lernzeit erreichbar ist. All das ist nur die Umformulierung
der Aussage, dass die institutionelle Tatsache über das Rechtssystem so kompliziert ist und daher
ausgliedert wurde, dass es dabei eine Grenze gibt, in der gewöhnliche Leute über die als Recht
anerkannte institutionelle Tatsache detailliert Bescheid wissen können.
Aber irgendwo anders liegt der Grund dafür, weshalb es kritisch ist, die Regel der Anerkennung in
die zwei Gruppen einzuteilen. Die Grundregel der Anerkennung, die private Personen akzeptieren,
hängt am Ende von derjenigen Grundregel der Anerkennung ab, die die Beamtengruppe
einheitlich akzeptieren u. verwenden. Die Beamtengruppe ist eine Organisation von Personen, der
die Befugnis verleiht werden, das Recht autoritativ zu bestätigen. Obwohl etwa eine private Person
eine Tatsache als eine Regel des Rechts akzeptiert, kann diese nicht gültige Regel des Rechts
werden, wenn diese Tatsache von dieser Beamtengruppe nicht akzeptiert wurde. Auch wenn ich
z.B. als private Person daran glaube, dass das Recht verbietet, auf die Straße Zigarettenstummel zu
werfen, macht diese Tatsache diese scheinbare Regel nicht zu einer gültigen Regel des Rechts. Ob
52
eine Regel zur gültigen Regel des Rechts gehört, hängt ausschließlich davon ab, ob die
Beamtengruppe die betreffende Regel als rechtliches gültiges anerkennt und die Person bestraft,
die auf die Straße einen Zigarettenstummel warf. Allgemein gesagt, kann man nur durch den
Bezug auf die Anerkennungskonvention unter den Beamten die gültige rechtliche Regel erkennen.
Daraus folgt, dass die Wahrheit einer rechtlichen Proposition am Ende nach der Grundregel der
Anerkennung von den Beamtengruppen entschieden wird, die sie einheitlich akzeptieren. Die
Wahrheit des juristischen Satzes ist nichts anderes als, dass die Beamtengruppe die in dem
juristischen Satz zum Ausdruck gebrachte Tatsache als rechtliches gültiges akzeptiert.
2.2.2. Missbrauch der Grundregel der Anerkennung und die Existenz des autoritativen
Texts.
Nehmen wir an, dass “ein Mann“, der daran glaubt, dass es rechtlich verboten ist, einen
Zigarettenstummel auf die Straße zu werfen ( aber in der Tat ist dies nicht wahr), keine
Privatperson ist. Er gehört zur autoritativen Beamtengruppe. Er ist also Richter. Wenn dies der Fall
ist, würde dies die einheitliche Konvention der Anerkennung unter den Beamten spalten. Dieser
Mann missbraucht als Beamter die Regel der Anerkennung. Wenn dieser man eine Privatperson zu
bestrafen versucht, die auf die Straße einen Zigarettenstummel warf, würde die einheitliche
Konvention der Anerkennung der Beamtengruppe auf dem Spiel stehen.
Daher wird die Existenz des autoritativen Texts die wichtigste institutionelle Maßnahme dafür, die
einheitliche Konvention der Anerkennung unter den Beamten zu festigen. Aber trotzdem ist nicht
zu übersehen: Nicht der autoritative Text, sondern die einheitliche Konvention der Anerkennung
selbst wird der eigentlicher Test dafür, eine Regel oder ein Verfahren als gültige rechtliche Regel
zu bestätigen. Obwohl die Regel, das Werfen des Zigarettenstummels auf die Straße zu verbieten,
53
in dem autoritativen Text vorfindbar ist, fällt es schwer zu sagen, dass diese Regel „das lebendige
gültige Recht“ (The Law in the Action) ist, wenn diese Regel aus irgendeinem Grund von der
Beamtengruppe nicht mehr akzeptiert wird, wenn also m.a.W. die Regel die Gültigkeit verloren hat.
31
2.2.3. Normativität der Regel der Anerkennung
In dem hartschen Modell basiert die Grundregel der Anerkennung, die die Geltung des Rechts im
Grunde bestätigen lässt, auf der konventionellen „Tatsache“, dass die autoritative Beamtengruppe
etwas als Recht einheitlich akzeptiert. Aber anders als die Regel der Anerkennung für die
Privatperson, hat diese Regel der Anerkennung seitens der Beamtengruppe die Dimension der
Normativität als „Regel“.
Von der Regel der Anerkennung, die innerhalb der Beamtenkreise
gültig ist, wird gefordert, dass diese Regel immer auf einheitliche Weise, ohne Kontroverse
verwendet
wird. Im Gegensatz dazu reicht es bei der Regel der Anerkennung für die Privatperson
aus, sie getrennt zu verwenden. Es kommt normalerweise nicht in dem Gegenstand der Kritik vor,
dass eine Privatperson die Regel der Anerkennung missbraucht, also dass er über die Wahrheit
der rechtlichen Proposition ein falsches Urteil fällt. Aber dagegen würde es gerade stark kritisiert
werden, wenn die Beamten die Grundregel der Anerkennung, die von ihrer Gruppe akzeptiert wird,
missbraucht hätten. Wenn dieser Fall des Missbrauches widerholt vorkommen würde, würde die
Geltung und der Status dieser Regel als Recht auf dem Spiel stehen.
Aus all dem folgt, dass die explizite Vereinbarung über den Gebrauch der Regel der Anerkennung
und deren einheitlichen Gebrauch die notwendige minimale, tatsächliche und normative
Bedingung dafür ist, damit man sagen kann, dass ein Rechtsystem existiert.
31
Man kann sich als Beispiel dafür „das Verbot der Zauberei“ vorstellen, was Hart anführte.
54
2.3. Logische Grundlage der Regel der Anerkennung und daraus folgende logische
Grundpflichten der Richter
Wie Hart mit Recht bemerkt hat, umfasst eine Untersuchung über die Methode (der sozialen
Kontrolle) eine Untersuchung über deren Missbrauch.
32
Dies trifft auf seine eigene Theorie zu.
Wenn die Regel der Anerkennung die Grundregel darstellt, die als die logische Grundlage jedes
Rechtssystems vorausgesetzt werden soll, kann eine Untersuchung über den Missbrauch von der
Regel der Anerkennung ein wichtiger Bestandteil der Untersuchung sein. Aber dabei gibt es einen
unklaren Punkt. Gibt es ein explizites Verfahren, in dem geprüft wird, ob die Regel der
Anerkennung richtig gebraucht wird? Die grundlegende Bestätigung, ob die Regel, das Werfen
des Zigarettenstummels auf die Straße zu verbieten, zur von dem Recht verbotenen Regel gehört,
hängt davon ab, ob diese Regel von den autoritativen Beamten als Recht akzeptiert ist. Aber wie
kann die Frage nach der Geltung bzw. der Angemessenheit von der Konvention der Anerkennung
selbst beantwortet werden, die die Beamten in der Justizpraxis akzeptieren? Wie lässt sich die
Wahrheit dieser Aussage selbst erkennen, dass die Richter es als Recht akzeptieren, das Werfen
des Zigarettenstummels auf die Straße zu verbieten?
Letztendlich ergibt sich die Quelle der Geltung eines Rechtssystems nicht aus dem autoritativen
Text,
sondern
aus
der
konventionellen
Tatsache,
dass
die
autoritative
Beamtengruppe,
insbesondere die Richtergruppe einheitlich eine Proposition bzw. ein Verfahren als die Regel des
Rechts akzeptiert. Der autoritative Text bietet sich zur institutionellen Zusicherung der Einheit der
Konvention der Anerkennung an, falls es ungenau ist, ob am gegebenen Fall die autoritative
Anerkennung des Richterstandes auf eine Regel vorhanden ist. Der autoritative Text hat die
32
Siehe, a.a.O. S.210.
55
Funktion, den Richterstand von dem Missbrauch der Regel der Anerkennung abzuhalten. Wenn es
z.B. Zweifel unter den Richtern darüber gibt, ob das Verbot des Werfens des Zigarettenstummels
auf die Straße die von dem Rechtssystem akzeptierte Regel des Rechts ist, kann die Existenz des
autoritativen kodifizierten Texts zur stärksten Maßnahme werden, um den Missbrauch der Regel
der Anerkennung zu kontrollieren und daher eine einheitliche Konvention der Anerkennung zu
bewahren.
Dennoch bleibt bestehen, dass der autoritative Text selbst nicht der autoritative Maßstab für den
angemessen Gebrauch der Regel der Anerkennung werden kann. Denn der Richterstand kann „
nach dem Bedürfnis“ sogar die Autorität dieses Texts verneinen, obwohl sie vorhanden ist. Dies
zeigte sich bereits am Beispiel Verbots der Zauberei. Daraus folgt, dass die Autorität des Texts von
der Tatsache der Anerkennung abhängt, dass der Beamtengruppenstand den Text als eine gültige
Quelle für das Recht akzeptiert.
Hierbei wird eine grundsätzliche Frage erhoben. Was bedeutet es, wenn Beamte eine Regel des
Systems „einheitlich akzeptieren“? Falls der einzelne Richter über die Existenz der Regel für einen
bestimmten Fall Zweifel hat, also falls ein Richter darüber zweifelt, ob eine bestimmte Regel unter
allen Richtern als Recht konventionell akzeptiert wird, kann er seinen Zweifel nicht durch den
Bezug auf die „virtuellen Konferenz unter allen Richter“ oder auf die „speziellen Beratung
“ innerhalb des Richterstandes abschaffen. Denn es gehört zum Richteramt selbst, eine Regel als
die Regel des Rechts zu akzeptieren und dementsprechend die Entscheidung zu fällen.
Daraus folgt, dass die Aussage, dass der Richterstand eine Regel des Systems einheitlich als die
Regel des Rechts akzeptiert, ausschließlich von der Aussage abhängt, dass der einzelne Richter
nach der Regel der Anerkennung etwas als Recht einzelne akzeptiert, und dementsprechend seine
Entscheidung fällt. Daraus ergibt sich die amtliche Pflicht des Richters: Der Richter muss, was er
56
als Recht anerkannte, durchführen.
Diese Tatsache, dass der Richter, das was er als Recht akzeptierte, durchführen muss, muss a priori
angenommen werden, insofern wir nicht der inneren psychischen Tatsache des Richters zugänglich
sind. Denn diese Annahme ist in der Tat der einzige Indikator dafür, ob auf die betreffende Regel
die äußere Tatsache der einheitlichen Anerkennung des Richterstandes besteht. Wenn diese
Grundannahme nicht akzeptiert wird, m.a.W. wenn im hartschen Modell ein einzelner Richter im
System zwar eine Proposition oder ein Verfahren als Recht akzeptiert, aber nicht dies anwendet,
würde dies nichts anderes als die Selbstverneinung der Raison d’etre als Richter bedeuten.
Weiterhin führt dies notwendigerweise zum Zusammenbruch der logischen Grundlage der Einheit
der Konvention der Anerkennung der Richter. Wenn die Richter als einzelner zwar die Regel der
Anerkennung gebrauchen und etwas als Recht akzeptieren, aber nicht dies anwenden, kann dies
keineswegs „die gültige Regel des Rechts“ sein, wie beim Beispiel des Verbots der Zauberei
bereits bemerkt wurde. Der Ausdruck der Regel, die zwar als gültig anerkannt und akzeptiert
wurde, aber zugleich von der Beamtengruppe selbst verneint wird, und ihre Anwendung zu finden,
ist nichts anderes als der Begriff, der in sich den logischen Widerspruch einschließt, wie „Onkel
ohne Nichte“ oder „Kahlkopf mit dem roten Haar“. Wird angenommen, dass bei der Regel der
Anerkennung den Richtern die Befugnis verleiht wird, die Anwendung der von ihnen bereits
anerkannten Regel abzulehnen, würde dies nichts anderes bedeuten, als dass durch die Richter die
Regel willkürlich durchgeführt wird. D.h. dass diese Art der Regel nicht mehr an die Richter
gebunden ist. Die Aussage, dass der Richter etwas als gültige Regel des Rechts anerkennt, umfasst
daher die Aussage, dass die als Recht anerkennte Regel durchgeführt werden soll.
2.4. Der Fall des lasterhaften Rechts: richterlicher Ungehorsam gegen das lasterhafte
Recht und Missbrauch der Regel der Anerkennung - Das Dilemma des
rechtspositivistischen Richters
57
Die Aussage, dass der Richterstand eine einheitliche Konvention der Anerkennung besetzt, setzt
einerseits die Anerkennungsakte des einzelnen Richters und anderseits die daraus folgende
Tatsache, dass das durch diese Anerkennungsakte erfolgte Recht gerade durchgeführt wird, voraus.
Dies stellt im hartschen Regelmodell eine minimale normative Bindung von den Richtern an dem
Recht dar. Dies ist m.a.W. nichts andres als der normative minimale Tatbestand eines
Rechtssystems. Dieser normative Tatbestand hat im wesentlichen Punkt mit der Konzeption der
Fairness, die durch den Begriff der Regel selbst hervorgerufen wird, viel zu tun: Die Fairness als
das Verbot der willkürlichen Anwendung der Regel. Aber jener unterscheidet sich von diesem in
dem
Sinne,
dass
jener
die
logische
Voraussetzung
des
hartschen
Modells
ist,
die
notwendigerweise angenommen werden muss. Das Modell von Hart würde zusammenbrechen,
wenn dieser Punkt nicht a priori angenommen wird.
All
diese
Betrachtungen
liefern
einen
wichtigen
Punkt,
nämlich
den
Standpunkt
der
Rechtspositivisten über das Verhältnis zwischen Recht und Moral zu verstehen und aufzuwerten.
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und Moral hat sich nach dem Standpunkt der
Person, die diese Problematik betrachtet, sehr komplizierte und subtile Aspekte entwickelt. Dies ist
der Grund, weshalb diese Problematik sich seit langem im Zentrum der Jurisprudenz und der
Rechtsphilosophie steht. Normalerweise stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht
und Moral in den drei Perspektiven: 1) Von der Perspektive des Beobachters außerhalb des
Systems, 2) Von der Perspektive der Privatperson innerhalb des Systems, 3) Von der Perspektive
des Beamten innerhalb des Systems.
Der sehr bekannte radbruchsche Maßstab des Unrechts, also „dass der Widerspruch des positiven
Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht“
33
33
, ist nichts anderes als die
Gesetzliches Unrecht und Übergesetzliches Recht, Rechtsphilosophie, Gustav Radbruch, Sechste
58
Aussage, dass das unerträglich lasterhafte Recht nicht mehr Recht ist. Abgesehen davon, wie diese
Formel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den Gerichten in Deutschland zur Bereinigung
der
Vergangenheit
verwendet
wurde,
orientierte
sich
deutlich
diese
Aussage
an
der
Beamtengruppe, insbesondere an der Beamtengruppe unter dem lasterhaften politischen System.
Diese Aussage ist nun von der hartschen Perspektive aus gesehen nichts anderes als die Aussage
über den moralischen Gebrauch der Regel der Anerkennung. Die radbruchsche Umformulierung
der Regel der Anerkennung lautet: Obwohl ein Satz oder ein Verfahren formalistisch gültig gesetzt
wurde, soll der Richter dies insofern nicht als „Recht“ akzeptieren, als aufgrund des subjektiven
Urteils des Richters dieses Gesetz einen unerträglich lasterhaften Gehalt in sich einschließt.
Nach dem hartschen Standpunkt bezieht diese Umformulierung deutlich das moralische,
subjektive, persönliche Urteil des Richters in die Regel der Anerkennung ein. Dagegen betont er
stark, dass die Tatsache, dass man etwas als Recht akzeptiert, sich nicht als solche auf die Moral
notwendig bezieht. Daraus folgt, dass aus der Tatsache, dass man etwas als Recht akzeptiert, die
moralische Pflicht zur Befolgung des Rechts im Allgemein nicht folgt. Nach der Regel der
Anerkennung können sich die moralische Pflicht und die juristische Pflicht von einander
unterscheiden.
Es gibt zwei Einstellungen gegenüber dem unerträglichen lasterhaften Recht: 1) wie Radbruch
vorschlug, zu verneinen, dass es das Recht ist. 2) wie Hart vorschlug, zu sagen, dass es zwar das
Recht ist, aber daraus folgt nicht automatisch die moralische Pflicht zum Gehorsam dieses Rechts.
Man kann sich leicht vorstellen, dass die Aussage von Radbruch sich im Grunde an eine
Beamtengruppe orientiert, die möglicherweise unter dem lasterhaften politischen System leben
würde, während die von Hart entweder zur Aussage des äußeren Beobachters gehört oder sich an
Auflage, Stuttgart, 1963, S.353.
59
der Privatpersonen orientiert. Die allgemeine Meinung der Rechtpositivisten nach Hart wird wie
folgt ausformuliert:
What these thinkers (Positivisten) were, in the main, concerned to promote was clarity and
honesty in the formulation of the theoretical and moral issues raised by the existence of the
particular laws which were morally iniquitous but were enacted in proper form, clear in meaning,
and satisfied all the acknowledged criteria of validity of a system. Their View was that, in thinking
about such laws, both the theorist and the unfortunate official or private citizen who was called
on to apply or obey them, could only be confused by an invitation to refuse the title of ‘law’ or
‘valid’ to them. They thought that, to confront these problems, simpler, more candid resources
were available, which would bring into focus far better, every relevant intellectual and moral
consideration: we should say, ‘This is law; but it is too iniquitous to be applied or obeyed.’
34
Wie lässt sich die Meinung von Hart verstehen, die mit der von anderen Positivisten zum
Ausdruck gebracht wird? Es ist klar, dass sich diese Aussage nicht nur an den Privatperson,
sondern auch an der Beamtengruppe orientiert. Hart räumt die Möglichkeit ein, dass obwohl
etwas nach der Regel der Anerkennung als das positive Recht anerkannt werden kann, der Richter
aus dem moralischen Grund sich weigern kann, dieses Recht auf den Fall anzuwenden. Diese
Meinung von Hart, die zum Geist des zivilen Ungehorsams gut passt, gerät insofern gerade in ein
Dilemma, als dies als die allgemeine Aussage über dem richterlichen Ungehorsam gegen das
positiven Recht verstanden wird. Wenn letztendlich ein Richter etwas als das positive Recht
anerkennt und akzeptiert, aber zugleich aus irgendeinem Grund – sei es reine Willkür oder
persönliche Moralität des Richters- ablehnen kann, dieses von ihnen anerkannte Recht
anzuwenden, würde die logische und normative Grundlage der einheitlichen Konvention der
34
a.a.O. S. 208, betont von dem Autor.
60
Akzeptanz unter dem Richterstand zusammenbrechen. Kann man sich einen Richter überhaupt
vorstellen, der in seinem Gericht mit der Amtssprache so verfährt, indem er sagt „Es ist zwar das
gültige positive Recht für den Fall, aber dieses Recht darf nicht angewendet werden, weil es
unerträglich unmoralisch ist?“
Zu den Richtern, die sagen, dass es stimmt, dass dieses Recht ein rechtlich gültiges Recht im
gegebenen Fall ist, aber trotzdem nicht anwendbar wegen des moralischen Grundes, gehören
diejenigen, die die Regel der Anerkennung de facto ablehnen. In diesem Fall steht die amtliche
Pflicht des Richters mit seiner moralischen Pflicht in einem unerträglichen Widerspruch. Diese Art
des Gebrauchs der Sprache weicht erheblich von der Konzeption der natürlichen Pflicht des
Richters, die der Begriff des Richteramtes bereits umfasst, ab.
Das ist ein logisches Dilemma. Hart schien dies eigentlich so sagen zu wollen, dass der
radbruchsche Versuch, einen subjektiven, persönlichen Test des Rechts aufgrund der Moralität des
Richters in die Regel der Anerkennung einzubeziehen, theoretisch falsch ist. Nach Hart bezieht
sich der Anerkennungsakt des Richters nicht notwendig auf den Anwendungsakt. M.a.W. dass der
Richter etwas als Recht anerkannte, umfasst nicht, dass derselbe Richter eine moralische Pflicht
hat, das von ihm anerkannte Recht auf den Fall anzuwenden. Ist diese Aussage plausibel? Die
Aussage, dass von der privaten Perspektive her man etwas als Recht anerkennt aber aus dem
moralischen Grund ablehnt, dieses Recht zu befolgen, unterscheidet sich logisch von der Aussage,
dass von der inneren Perspektive des Beamten man etwas als Recht anerkennt aber aus dem
moralischen Grund ablehnt, dieses Recht anzuwenden. Die beiden Aussagen nehmen einen
logisch ganz anderen Status im hartschen System ein. Hart scheint diesen Unterschied zwischen
den beiden Aussagen zu verwechseln. Obwohl die beiden Aussagen im wesentlichen Punkte einen
semantisch selben Inhalt zu haben scheinen, verankern sie in der anderen logischen Grundlage.
Der Richter, der etwas als Recht anerkennt, aber aus dem moralischen Grund ablehnt, dieses Recht
anzuwenden, darf niemals als der Richter angesehen werden, der die Regel der Anerkennung
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richtig gebraucht. Diese Redewendung weicht von der alltäglichen Redeweise über den Richter
und den Richteramt erheblich ab.
Obwohl angenommen wird, dass diese Redewendung nicht von der Alltagesredeweise abweicht,
zeigt sich bei dem dies sagenden Richter nur, dass sein Verständnis gegenüber seinem Richteramt
fehlerhaft ist. Der Versuch, dass die Richter ihre Moralität auf diese Weise beweisen wollen, ruft
nur eine Verwechselung gegenüber dem Verständnis der im System geltenden Grundregel der
Anerkennung und ihren richtigen Gebrauch hervor.
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