Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften Institut für Philosophie Brandom: Begründen und Begreifen Dr. Jasper Liptow / Stefan Deines Essay zum Thema Was ist expressive Vernunft und was leistet sie? Vorgelegt von Fabian Seitz Matrikelnummer: 2689306 Magister-Hauptfach Philosophie, 4.Semester Waldallee 63.5 65817 Eppstein E-mail: [email protected] Eppstein, den 24.05.2005 Ein zentraler Begriff in Brandoms Projekt – dem Versuch ein Modell menschlicher Rationalität in Begriffen sozialer Praktiken zu definieren - ist der der Expressiven Vernunft, welche Brandom als eine wesentliche Praxis innerhalb seiner Theorie versteht. Ich werde in den ersten beiden Abschnitten Brandoms Weg zu dieser Expressiven Vernunft skizzieren: In (i) wird die Unterscheidung zwischen materialer und logischer Schlussfolgerung erläutert, sowie, warum materiales Schlussfolgerungen nach Brandom das grundlegende Schlussfolgern ist. In (ii) wird skizziert, wie die Idee der expressiven Vernunft aus den vorangegangenen Überlegungen entsteht. Der letzte Abschnitt wird der Kritik an Brandoms These, dass materiale Schlussfolgerungen die grundlegenden Schlussfolgerungen seien, dienen. Ich möchte versuchen zu zeigen, dass logisches Vokabular bereits für materiales Schlussfolgern notwendig ist. Meine Motivation für dieses Vorhaben ist, zu zeigen, dass Brandom uns in seinem Theorieaufbau eine Lücke gelassen hat: Nach meinem Verständnis ist das Phänomen des materialen Schlussfolgerns nicht hinreichend genug erklärt, um sein weiteres Vorgehen in Richtung expressiver Vernunft zu rechtfertigen. (i) Was einen Modus Ponens zu einem guten Schluss macht, ist seine logische Form: Aus „Wenn a, dann b“ und „a“ folgt „b“ – unabhängig davon, welchen spezifischen Gehalt „a“ oder „b“ besitzen. Bei einer anderen Sorte guten Schlusses verhält es sich anders: Aus „Gießen liegt südlich von Hamburg“ folgern wir - normalerweise - ohne Probleme auf „Hamburg liegt nördlich von Gießen“. Kraft welcher Leistung ist auch letzterer ein guter Schluss? Die Antwort lautet in knapper Form, dass die Richtigkeit letzteren Schlusses von den Gehalten der Begriffe „nördlich“, „südlich“, sowie „... liegt... von...“ abhängt. Wir haben es also mit zwei Kategorien von Schlussfolgerungen zu tun: Auf der einen Seite diejenigen, die Gültigkeit durch logisches Vokabular erlangen, also dank Konjunktionen, Adjunktionen, Konditionalen und dergleichen, und auf der anderen Seite diejenigen, die Brandom (in Anlehnung an Sellars) als materiale Schlussfolgerungen bezeichnet1. Material schlussfolgern bedeutet: Über ein Wissen-wie zu verfügen, um Begriffe anzuwenden. D.h. Begriffe so zu verstehen, dass man weiß wie sie in Schlussfolgerungen verwendet werden sollten, um den Gehalt des Begriffes zu verstehen, also bestimmte Übergänge von einem Satz P zu einem Satz K als richtig zu behandeln. Es handelt sich hierbei um zwei voneinander abhängenden Behauptungen: Den Gehalt von Begriffen versteht man, indem man weiß, wie man diesen Begriff in materialen Schlussfolgerungen verwendet 1 Vgl. Robert Brandom, Begründen und Begreifen, S. 76f. 2 und materiale Schlussfolgerungen werden gute (richtige) Schlussfolgerungen aufgrund der Gehalte der in ihnen vorkommenden Begriffe. Wie ist nun das Verhältnis dieser beiden Kategorien zueinander? Einer traditionellen Denkrichtung nach, die Brandom (auch hier in Anlehnung an Sellars) als „Dogma“ bezeichnet, sind materiale Schlussfolgerungen nichts anderes als Enthymeme, d.h. das dem gültigen Übergang von einer Festlegung P zu seiner Konklusion K noch unterdrückte Prämissen Pi zugeschrieben werden müssten, um sie als gute Schlussfolgerung betrachten zu können2. Zur Veranschaulichung ein von Sellars verwendetes Beispiel: (P) Es regnet. (K) Die Straßen sind nass. Um von (P) einen gültigen Übergang zu (K) zu erlangen, bedarf es – dem „Dogma“ zufolge – der unterdrückten Prämise (P1) „Wenn es regnet, dann werden die Straßen nass“. Erst durch die Unterbringung dieses Konditionals (und damit dem Unterbringen von logischem Vokabular) wird obiges Enthymem zu einer guten Schlussfolgerung. Demnach gibt es so etwas wie materiales Schlussfolgern in Wirklichkeit nicht: Rationalität, also die Fähigkeit zu Schlussfolgern, wird als rein logisches Unternehmen betrachtet. Wichtig sind in erster Line nicht die Gehalte, die in den Begriffen der Schlussfolgerungen vorkommen, sondern ihre Wahrheitswerte und ihre logische Form, also die Verknüpfung dieser Gehalte mit Hilfe von logischem Vokabular innerhalb der Schlussfolgerung. Materiales Schlussfolgern lässt sich bestenfalls als verkürztes logisches Schlussfolgern verstehen. D.h. die Kategorie der materialen Schlussfolgerungen wird abgeleitet aus der grundlegenderen Kategorie der logischen Schlussfolgerungen. Brandom widerspricht diesem Ansatz und versucht, die Erklärungsrichtung umzudrehen, also zu zeigen, dass die Kategorie der materialen Schlussfolgerungen die grundlegende Kategorie ist und die Kategorie von Schlussfolgerungen, die ihre Gültigkeit aufgrund logischen Vokabulars erhält, aus erster abgeleitet ist, also genau umgekehrt zur eben skizzierten Erklärungsrichtung3. Die für diese Strategie tragende These lautet, „dass sich das Konzept formal gültiger Inferenzen ganz unproblematisch aus dem der material richtigen Inferenzen definieren lässt, wohingegen es den umgekehrten Weg nicht gibt.“4 Brandom argumentiert hierfür, dass, wenn wir entscheiden wollen, ob eine Schlussfolgerung aufgrund 2 Vgl. ebd. S.77 Vgl. ebd. S.77 4 Ebd. S.79 3 3 ihrer Form, also aufgrund der Verbindungen von Prämissen, logischem Vokabular und ihrer Konklusion ordnungsgemäß ist, folgende Bedingung erfüllt sein müssen5: - Erstens, es handelt sich um eine gute materiale Schlussfolgerung, d.h. wir haben einen richtigen Übergang von Satz (a) zu Satz (b) - Zweitens, die Form (also unser logisches Vokabular) dieses Übergangs von (a) zu (b) ist dann gut, wenn die materiale Schlussfolgerung unter erstens immer eine gute Schlussfolgerung bleibt, unabhängig davon, welches materiale Vokabular wir in (a) und (b) verwenden. Daraus folgt, dass eine Schlussfolgerung eine logisch gute dadurch wird, dass sie bereits zuvor eine material gute Schlussfolgerung ist. D.h. weiter, dass man die Kategorie der logischen aus der Kategorie der materialen Schlussfolgerungen ableitet und man nicht die logischen zur Erklärung der materialen Schlussfolgerungen verwenden sollte. Denn: Es sind ja gerade die Richtigkeiten der materialen Schlussfolgerungen, die die Güte der logischen Schlussfolgerungen erklären. Aber: Wird der Zusammenhang zwischen materialen Schlussfolgern und logischem Vokabular wie von Brandom favorisiert verstanden, bleibt die Frage – und Brandom stellt sie auch folgerichtig6 – welche Leistung das logische Vokabular dann noch vollbringen soll, wenn die Gültigkeit einer Schlussfolgerung nicht mehr grundlegend von ihr logischen Form abhängt. Hier nähern wir uns nun dem Begriff der expressiven Vernunft. (ii) In Language, Rules, and Behavior formuliert Sellars eine Idee der “Sokratischen Methode”: Kern dieser Idee ist, so referiert Brandom in Abschnitt VI. (Aufklärende Vernunft) von Begründen und Begreifen7, dass mit dieser Methode unsere Praxis des Schlussfolgerns (hier: des materialen Schlussfolgerns) unter „rationale Kontrolle“ gebracht werden kann. Damit gemeint ist, dass wir eine Möglichkeit bekommen, die in unserer rationalen Praxis enthaltenen, impliziten Festlegungen als Behauptungen explizit machen zu können, wodurch sie in den Raum der Gründe gestellt werden. D.h., dass sie als Prämissen und Konklusionen in Schlussfolgerungen verwendet werden können und dadurch kritisierbar durch andere Behauptungen werden. Zuvor konnte man eine (materiale) Schlussfolgerung billigen als gute oder eben als schlechte Folgerung. Doch dadurch, dass man nun sagen kann, was diese Schlussfolgerung ausmacht, ist man imstande für oder gegen diese Schlussfolgerung weitere Gründe anzuführen, sie zu kritisieren oder zu verteidigen. Diesen Teil unserer Rationalität, 5 Vgl. ebd. S.79 vgl. ebd. S. 7 vgl. ebd. S. 80f. 6 4 das Explizitmachen von impliziten Festlegungen in materialen Schlussfolgerungen, bezeichnet Brandom als expressive Vernunft. Wie genau diese expressive Vernunft, also die explizitmachende Wirkung von logischem Vokabular auf die zugrundeliegenden materialen Schlussfolgerungen, arbeitet, analysiert er in den Abschnitten IX. – XII. von Begründen und Begreifen: Er verdeutlicht dies unter anderem an Begriffen, die insofern „kritisch“ sind, dass ihre materialen Folgen zu anderen uns wichtigen Überzeugungen inkohärent sein können8. Näher exemplifiziert wird dies am Ausdruck „boche“, der in der französischen Sprache „richtigerweise“ 9 auf Deutsche angewendet wird und soviel bedeutet wie „barbarisch“ oder „grausam“10. Ist nun jemand überzeugt, dass man von der deutschen Nationalität einer Person nicht zwangsläufig darauf schließen darf, dass diese Person grausam ist, darf sie den Begriff „boche“ nicht verwenden. Erkennbar wird dies allerdings nur dadurch, dass man die materiale Schlussfolgerung explizit macht, die der Begriff „boche“ mit sich herumträgt, nämlich: (*) Wenn man Deutscher ist, dann ist man auch zwangsläufig grausam. Dies geschieht wiederum indem man logisches Vokabular – in unserem Fall: das Konditional - dazu benutzt um eine implizit im Begriff enthaltene Festlegung explizit zu machen. Dadurch, dass wir durch diese Praxis der expressiven Vernunft die Behauptung (*) aufstellen können, geben wir uns (und anderen) die Möglichkeit, den Gehalt von „boche“ auf seine Richtigkeit im Rahmen unserer sonstigen Schlussfolgerungen zu überprüfen und gegebenenfalls vor deren Hintergrund zu korrigieren. Der Gehalt von „boche“ wird durch die Behauptung (*) dem Raum der Gründe zurückgegeben und damit angreifbar durch andere Überzeugungen. (iii) Brandom verfolgt mit seinem ehrgeizigen Projekt der expressiven Vernunft das Ziel, den Gehalt von Begriffen, also ein glauben, meinen, wissen dass, in Begriffen des Wissen-wie zu beschreiben11. Dazu ist ein Doppelschritt nötig: (a) Es muss gezeigt werden, wie materiale Schlussfolgerungen die grundlegenden Schlussfolgerungen sind um dann, (b) daraus sein Konzept der expressiven Vernunft zu entwickeln - also eine Praxis des Explizitmachens mit Hilfe von Behauptungen mit logischem Vokabular von implizit in materialen Schlussfolgerungen enthaltenem. Und nur wenn (a) richtig ist, macht es Sinn, expressive 8 Vgl. ebd. S.95ff. „Richtigerweise“ in Bezug auf die Anwendungssituation, nicht in einem wertenden Sinne. 10 Dieses Beispiel geht auf eine Textstelle von Dummett zurück. Vgl. ebd. S.95 11 Vgl. Robert Brandom, Expressive Vernunft, S.168 9 5 Vernunft als dasjenige Vorhaben, wie es unter (b) beschrieben ist, zu begreifen. In den beiden vorangegangenen Abschnitten habe ich dies skizziert. In diesem Abschnitt möchte ich nun meine Zweifel anmelden. Ich halte Brandoms Übergang von (a) zu (b) in seiner Argumentation für richtig: Wenn (a) stimmt, wenn also materiale Schlussfolgerungen grundlegend sind, dann macht es auch Sinn (b) zu akzeptieren, also, dass logisches Vokabular der expressiven Rolle des Explizitmachens dient. Womit ich hingegen Probleme habe, ist die Richtigkeit von (a). Zugegeben, Brandom (und Sellars) können sich auf starke Intuitionen berufen, wenn sie behaupten, die Richtigkeit eines Schlusses „x liegt (ist, steht,...) rechts von y, also liegt (ist, steht,...) y links von x“ hänge von den Begriffen „rechts“ und „links“ ab. Man könnte schon dazu neigen, eine solche Feststellung als Common sense zu bezeichnen. Und dennoch, was mir hier fehlt ist eine Erklärung dieser Leistung: Wie versteht eine Person, die diese Schlussfolgerung anstellt, was sie dort überhaupt tut? Die Antwort kann meiner Meinung nicht alleinig in Begriffen des Wissen-wie angegeben werden. Zu wissen wie „links“ in weiteren Schlussfolgerungen verwendet werden sollte - sei es mit oder ohne logischem Vokabular – scheint mir zwar ebenfalls notwendig um den Begriff „links“ richtig zu verwenden, d.h. auch: seinen Gehalt zu verstehen, dennoch reicht es nicht aus um diesen Begriff vollständig zu verstehen. Betrachten wir Maria wie sie folgenden bekannten Schluss anstellt: (*)1 Es regnet, also sind die Straßen nass. Nun, wie versteht sie, was sie dort tut? Sie sieht Regen und sie sieht nasse Strassen. Doch wie sieht sie, dass das eine die Folge des anderen ist? Wenn sie (*)1 verstehen möchte, muss sie wissen was eine Folge ist, also was es heißt, dass x aus y folgt. Man muss eben wissen, dass x eintreten muss, bevor y eintreten kann. Und um dieses zu verstehen drängt sich das Konditional gerade zu auf: Wenn x, dann y. Sie kann noch soviel mit den Begriffen „Straße“, „nass“ und „Regen“ schlussfolgern ohne logisches Vokabular explizit anzugeben - ohne den Gedanken, dass irgendetwas aus irgendetwas folgt, ist dies belanglos. Doch um diesen Gedanken zu verstehen bedarf es bereits des Konditionals. Wenn der Gehalt eines Begriffes so zu verstehen ist, dass er als die Folge vorangegangener Gehalte oder als Folge auf weitere Gehalte gilt, haben wie logisches Vokabular bereits versteckt an Bord. Um zu verstehen, was „nass“ bedeutet, müssen wir wissen, was eintreten muss, damit dieser Begriff zutrifft. Und das rationale Konstrukt, mit dem wir uns solche Leistungen ermöglichen, ist: das Konditional. 6 Wenn diese Überlegung richtig ist, scheint es doch so: Der Erwerb von Begriffen bedarf, zumindest in einigen Fällen, der Verwendung des Konditionals (und damit logischem Vokabulars) um überhaupt verstanden zu werden. Nun haben wir aber die Erklärungsrichtung, wie Brandom sie vertritt, wieder herumgedreht. Dann gilt: Materiale Schlussfolgerungen sind verkürzte Überbleibsel vorrangig angestellter logischer Überlegungen, die bei der Etablierung des Begriffs mit im Spiel waren. Welche Folgen hat das für die Expressive Vernunft? Nun, wenn die bis hierhin angestellten Überlegungen richtig sind, müsste man auch den Schritt gehen und behaupten, dass expressive Vernunft nicht ein Explizitmachen, sondern ein Wiedererinnern an vorrangegangene logische Schlussfolgerungen ist. Wir würden dann mit dieser Praxis das implizit in einer materialen Schlussfolgerung enthaltene in einem anderem Sinne dem Raum der Gründe wiedergeben, nämlich: Zurückgeben. Diesen Schritt möchte ich hier nicht gehen. Ich möchte aber noch einmal an den Ausgangspunkt dieser Überlegungen erinnern: Ich habe darauf verwiesen, dass der in Abschnitt (i) und (ii) meines Essays angeführte Weg Brandoms gegangen werde könnte, würde man tatsächlich glaubhaft machen können, dass materiales Schlussfolgern das grundlegende Schlussfolgern in unserer Rationalität wäre. Dem habe ich versucht, das Argument, dass materiales Folgern doch logischen Vokabulars zu seiner Entstehung bedarf, entgegenzustellen - nicht, um sein Projekt unglaubhaft zu machen, sondern um zu zeigen, dass in diesem Bereich seines Projekts noch nicht alle Phänomene hinreichend genug erklärt sind, um gegen Kritik immun zu sein. Ohne eine Theorie darüber, wie ein rationales Wesen material Schlussfolgern kann ohne vorher mit logischem Vokabular ausgestattet zu sein, bleibt sein Projekt angreifbar. Literatur -Robert Brandom, Begründen und Begreifen, Frankfurt 2001 (Suhrkamp, Übersetzung: Eva Gilmer). -Ders., Expressive Vernunft, Frankfurt 2000 (Suhrkamp, Übersetzung: Eva Gilmer, Hermann Vetter). 7