10. Kapitel Bunhill Fields Die dünne Mondsichel, drei Tage vor Neumond, stand tief im Westen hinter ziehenden Wolken, aber ihr Licht erlaubte mir gleichwohl eine erste Orientierung. Das, wo wir gehalten, war tatsächlich ein Hof, umgeben auf drei Seiten von niedrigen Stallungen und Scheuern, ein eigentliches Wohnhaus war nicht unmittelbar auszumachen. Dafür befand sich hinter uns, ebenfalls in völliger Dunkelheit liegend, jenseits des Weges, den wir gekommen, ein größeres, schmuckloses Gebäude wie ein Klosterstift oder ein Hospiz, seitlich von welchem sich eine verfallene Ziegelmauer in die Ferne zog, über die hinweg die Kronen vereinzelter großer, sehr alter Bäume zu erkennen waren. Die Mauer war an einzelnen Stellen fast gänzlich niedergebrochen und erlaubte dort den Blick auf das Gelände unter jenen Bäumen – undefinierbare Schattenformen schienen da ungewiß im Nachtwind zu warten - und wenn der Mond etwas deutlicher aufgeschienen wäre, hätte ich gleich erkannt, wo wir uns befanden. So jedoch gewann ich fürs erste lediglich den Eindruck eines gespenstisch düsteren Ensembles - die Lichter an dem Wagen stellten neben dem blassen Mondschein die einzige Beleuchtung im Umkreis dar. Die Fahrt hierher mochte eine halbe Stunde oder länger gedauert haben, es mochte demnach gut zwei Uhr vorbei sein, der Mond stand kurz vor seinem Untergange. Noah Whelmsley hatte mit dem Kutscher einige Worte getauscht und diesem einige Befehle erteilt – es ging um die Versorgung sowohl der Equipage als auch der aufgeladenen Kisten; ich hörte etwas von „Wecken Sie Swensson, wecken Sie Cruikshank“ – sieh da, dachte ich, auch er hat also seine Leute, genau wie Wayne Leonard Kirby – nun jedoch trat der beleibte Friedensrichter zu mir heran und mit der weitausholenden Geste eines Zeremonienmeisters wies er mich über die Straße auf jenes größere Gebäude zu: „Kommen Sie, Mr. Holland, ich habe da noch etwas für Sie, das Sie unbedingt sehen sollten.“ Ich warf einen letzten Blick zurück auf die Kiste mit Rosetta Manderlays geschundenem Leichnam, dann trat ich neben Whelmsley über die schlaglochübersäte Straße. „Vorsicht“, mahnte er. „Stürzen Sie nicht …“ Indem wir uns dem großen Haus gegenüber näherten, sah ich, daß es gewissermaßen gegen die Mauer lehnte und daß diese sich auch nach der anderen Richtung zu erstreckte. Links, von wo wir gekommen, herrschte weiter Blick vor, Bruchwiesen, Ödland, über dem niedrig und bleich die Mondsichel stand, aber rechts hinunter weitete sich die Straße fast zu einer Art jetzt natürlich geisterhaft leerem - Marktplatz. Dort erhoben sich dunkle Stadthäuser. Und - war es die geringfügig veränderte Perspektive, sobald man aus dem Gehöft hinaustrat – oder war es auch nur, daß der Mond für einen Augenblick deutlicher durch ein Wolkenloch fand – mit einem Mal jedoch hatte ich mit den Platz erkannt, an dem wir uns befanden, und ich verhielt unwillkürlich den Schritt, denn um diesen Ort, sozusagen, hätte ich wohl auch bei Tageslicht vorgezogen einen Bogen zu schlagen. Der Friedensrichter, vor mir, bemerkte, daß ich zurückblieb. Er blieb gleichfalls stehen, drehte sich um und lachte: “Was haben Sie, mein Sohn?“ „Dies ist City Road, Sir“, sagte ich. „Wir sind in Finsbury.“ „Oh, Sie kennen sich aus, junger Mann“, lachte er anerkennend. „Und nun? Sie werden nichts gegen Finsbury haben.“ 194 „Dann muß dies das alte Schulhaus sein“, sagte ich alarmiert. „Gewiß“, schmunzelte Whelmsley, „in einer Minute werden Sie es zweifelsfrei riechen.“ „Aber dann ist das hinter der Mauer … Bunhill Fields!“ Whelmsley ließ seine Schultern und seine Heiterkeit fallen. „Nun gut, Mr. Holland“, sagte er ungeduldig, „Sie brauchen hier nicht den Maitre de Plaisir zu machen. Ich kenne mich an dieser Stelle weit besser aus als Sie. Also bitte … wollen wir?“ Er fingerte ein üppiges Schlüsselbund aus seinem weitläufigen Wams, drehte sich abrupt um und strebte vorwärts. Das Schulhaus war sein Ziel. Was blieb mir also übrig, als ihm zu folgen …? Ich muß, fürchte ich, geneigter Leser, an dieser Stelle eine Information einfügen, für den Fall, daß Dir die genannten Namen nichts sagen, aber mir liegt sehr daran, Dir zu verdeutlichen, warum dieser Flecken Erde hinter der Mauer und das dabeigelegene Schulhaus für mich seit je mit einer ganz eigenen Qualität und Intensität von Schauder behaftet waren. Ganz sicher ist es nicht, aber man nimmt heute an, daß der Begriff „Bunhill“ sich ursprünglich von „Bone Hill“ herleitet; da der Platz erstmals seine Auflassung erfuhr, als im Jahre des Herrn 1549 zunächst Wagenladungen von Knochen aus dem völlig überfüllten Gottesacker von St. Pauls hierher transportiert wurden. Das Gelände, das seit dem Mittelalter im Besitz der Corporation of London war, sollte nach der großen Pest von 1664 zum Pestacker umgewidmet werden, zu der Zeit wurden auch die Mauern und Tore darum herum errichtet. Es kam letzthin zwar nicht zur Bestattung von Seuchenopfern, unbestritten jedoch ist auch, daß der Friedhof niemals geweiht wurde, was in der Folge dazu führte, daß der Ort verstärkt Bestattungen von Gehenkten sowie Nonkonformisten erfuhr, die auf den Beistand des Common Prayer Book verzichten mußten oder wollten,. – man nannte die Stätte damals deshalb häufig auch „Tyndall’s Burial Ground“ – ein anderer Name, den der Ort erwarb, war „Friedhof des Puritanischen England“. Nachdem schon lange zuvor das Problem aufgetreten war, daß auf den Kirchhöfen der vielen, kleinen Pfarreien im Raume Londons der Raum für die Toten ausging, führte das aufstrebende Wachstum unserer Metropole seit cirka achtzig oder hundert Jahren zu einer derart dramatischen Platznot auf den Friedhöfen, daß es gerade hier in Bunhill Fields zu den makabersten Auswüchsen des Bestattungswesens kam. Wurde zunächst einerseits der verstärkte Gebrauch von Gruben praktiziert, in welche die Toten, nur in ein Tuch eingeschlagen, zu sehr großen Zahlen gemeinsam versenkt wurden - jede Schicht von Leibern zwecks schnellerer Zersetzung mit ein paar Schaufeln ungelöschten Kalkes bedeckt - so war ein anderer Ausweg, das Problem zu lösen, die Dahingegangenen zwar in Särgen, aber diese derart dicht bei dicht und in bis zu sechs Lagen übereinander zu bestatten, daß sie nur jeweils ein oder zwei Inches Erde zwischen sich hatten und auch die oberste Erdschicht nicht mehr als eine Daumenbreite betrug. Abgesehen davon, daß es zu Unglücken aufgrund von Einbrüchen kam, wenn das verfaulende Holz einzelner Sargschichten nachgab, muß man berichten, daß diese Zustände binnen kurzer Zeit ein offener Skandal und der Ort das Eldorado von Gelichter ward, das die Toten massenhaft ausraubte oder sogar ihre Körper stahl. Darauf ging man dazu über, und das nicht nur hier in Bunhill Fields, sondern auch anderenorts, die obersten Schichten von Toten wieder herauszuholen und die Särge an verschlossener Stelle, nämlich in Zwischendecken und unter dem Fußboden von Schulen und Krankenhäusern zu verstauen, wo nun die Kinder und die Kranken die faule Luft zu atmen hatten. Erst in letzter Zeit waren solche Gebäude vermehrt geräumt worden – von den Lebenden – die Leichen befanden sich immer noch darin. Und ich wußte von Meredith, der einen anklagenden Bericht darüber verfaßt, daß zum Beispiel die nun vor mir liegende Schule zu solchen „Lei195 chenhäusern“ gehörte – und allein dies war der Grund für mich gewesen, mich Whelmsley gegenüber so irritiert zu verhalten wie geschildert. Wir näherten uns dem Haus, der Friedensrichter stieg die vier Stufen davor hinauf, ich, notgedrungen, folgte ihm. Whelmsley schob den Schlüssel ins Schloß und sperrte auf. Er trat vor mir ein. „Kommen Sie“, sagte er nachlässig über die Schulter. Ich trat furchtsam durch die Tür und hielt mit dem Atem inne. Der Eingang fiel mit einem Klappen hinter mir wieder zu. In der völligen Finsternis hörte ich Whelmsley rascheln, dann, nach einiger Zeit, flammte ein Öllicht auf. Fieberhafte Überlegungen zuckten unterdessen durch mein Hirn, ob ich besser durch die Nase oder den Mund Luft holen sollte, ich konnte den Atem naturgemäß nicht ewig zurückhalten, dann, als es nicht mehr ging, ließ ich es einfach geschehen, riß den Mund auf und holte die Luft ein. Und – was soll ich sagen – es war auf unbeschreibliche Weise gleichzeitig schlimmer und weniger schlimm als erwartet. Es war, denke ich, fast mehr eine Sache des Kopfes denn des Geruchssinnes. Natürlich war ein grauenhafter Gestank im Hause – dennoch, ohne Kenntnis der wahren Ursache dessen hätte ich, offen gesprochen, kaum gewußt, was die Nase da aufnahm, denn was es wirklich heißt, einen – nein, viele Menschen im Zustande der Fäulnis zu riechen, das können sich die wenigsten von uns vorstellen. Und so war dieser Verwesungsodem, der aus den Fußbodendielen drang, mir gleichermaßen gräulicher Pestatem wie Ausfluß von etwas Natürlichem, es hätte in großer Menge vielleicht auch stockendes, schimmelndes Papier, verdorbenes Fleisch oder eine Jauchegrube sein können, die man da wahrnahm. Und in alledem war auch etwas – verlache mich nicht, treuer Leser – beinahe anrührend Frisches oder Luftiges zu spüren, und ich schob das darauf, daß die meisten der Toten, die ich hier roch, den Zustand des Fleisches zum größten Teile seit langem hinter sich hatten. Vermutlich ohne daß er es ahnte, bestätigte mich Whelmsley bereits im nächsten Augenblick. „Merken Sie auf, Mr. Holland“, meinte er gönnerhaft, „es ist gar nicht so gräßlich, nicht wahr? – die meisten sind trocken, ausgedörrt, längst weitgehend mumifiziert, überlegen Sie, wie lange es her, daß sie abgegangen …! – Folgen Sie mir jetzt, wenn Sie die Güte haben wollen ...“ Die Zeit meiner Reflexion hatte ihm wohlauf gereicht, mehrere der Öllampen anzuzünden, die offensichtlich im Bereich der Haustüre auf den Eintretenden warteten. Er gab mir eine davon und trug selber zwei in der mächtigen linken Hand. Nun kehrte er sich um und bewegte sich durchs Haus. Ich, wie zuvor, folgte ihm. Es war gespenstisch, wie sehr dieser stille Bau, sah man von dem erwähnten Verwesungsgeruch ab, nein, rein von dem her, was die Augen erblickten, den Charakter einer Schule behalten hatte, obwohl es von jedem Mobiliar entblößt worden war; unwillkürlich stiegen Erinnerungen an meine Kindheit in mir auf, wo ich das Glück gehabt, über einige Jahre ein privat geführtes Institut besuchen zu dürfen – die Treppen, die nach oben führten, die Dielen, die knarrenden Korridore, die großen, stillen Räume zur Seite, das Glas, das unser vorbeigleitendes Licht für einen Augenblick aus der Finsternis riß … viel fehlte nicht, und ich hätte die Kleiderhaken noch an den Wänden der Flure erblickt, die in Wirklichkeit natürlich längst abgenommen und entfernt waren. Wir benutzten die Treppen nicht, blieben im Erdgeschoß, Noah Whelmsley führte mich einen lautlosen Korridor hinunter in den rechten Teil des Gebäudes, sein mächtiger Schatten mit den zwei Öllichtern in der linken Hand glitt mir vorweg. Die Türen seitwärts standen offen, und aus ihnen heraus stank es … „Haben Sie ein Taschentuch und Duftwasser dabei?“ fragte er mich plötzlich über die Schulter. „Ersteres ja, letzteres nein“, gab ich zur Antwort. 196 „Dann sollten Sie es auf alle Fälle jetzt applizieren“, meinte er so unschuldig wie möglich. „Denn wir statten jetzt den jüngsten Bewohnern des Hauses einen Besuch ab …“ Hier, am Ende des Korridors, stiegen wir ein paar Stufen hinunter, vermutlich genau die Höhe, die wir vor der Haustür hinaufgestiegen. Dies hier war ein Teil des Hauses, schloß ich, der nicht unterkellert war. Whelmsley öffnete dort eine eiserne Tür, die mittels gewaltiger Hebel verschlossen war – fast schien es, als galt es einen riesigen Tresor zu öffnen - und sein Licht fiel dahinter in ein einigermaßen weiträumiges, wenngleich fensterloses Gelaß, welches - worauf der Steinfußboden hindeutete, über den Rinnen hinliefen, in denen Wasser abfließen konnte - wohl ehemals ein Waschraum oder eine Küche gewesen sein mußte. Jetzt war der Raum wie all die anderen Räumlichkeiten hier leer – bis auf vier Tische, die gleichmäßig verteilt in den vier Winkeln standen. Es waren allerdings keine normalen Tische, sondern sie waren ihrerseits aus Stein oder Coade-Terracotta aus Lambeth, sie sahen vom Material her aus wie Bänke oder Taufbecken, aus alten Kirchen gestohlen. Ich konnte mich jedoch nicht in erster Linie um den Augeneindruck kümmern, denn hier, anders als bisher in diesem Hause, war es, als sei ich gegen eine Wand wahrhaft mörderischen Gestanks gelaufen. Ich riß entsetzt ein Taschentuch hervor,– im Lichte der Lampe, die ich trug, bemerkte ich gerade rechtzeitig, bevor ich es an Mund und Nase preßte, daß es – BRH – jenes einst unschuldige, unterdessen jedoch mit dem Blute Rosetta Manderlays besudelte Stück Stoffes war, das mir jener ältere Herr in Bedlam mit dem leeren, freundlichen Geiste eines Kindes ungewollt übereignet – ich fühlte, daß die Lampenschale in meiner Hand schwankte und klirrte, als ich zu zittern begann – dies, was ich hier zu riechen genötigt war, war strikt jenseits dessen, was der Chronist entfernt in der Lage ist darzustellen. „Ja, es ist unangenehm“, beeilte sich Noah Whelmsley einzugestehen, „jedoch, Mr. Holland, für den Augenblick tatsächlich unumgänglich. Ich muß Sie dringend bitten, einen Blick hierauf zu werfen.“ Er hatte seine Ölschalen auf ein erhöhtes Bord an der Wand plaziert und nahm mir jetzt mein Licht ab. „Kommen Sie.“ Ich drängte mit dem letzten Atem des Verzweifelten oder sollte ich sagen der Verzweiflung des Erstickenden den unerbittlich in meiner Kehle aufwachsenden Brechreiz gegen diese olfaktorische Hölle von bestialischer Fäulnis und Verwesung zurück und folgte, taumelnd in den Knien, Noah Whelmsley die wenigen Schritte, wie er mich an einen der vier Tische führte, auf dem, wie ich erst jetzt bemerkte, mit einem glatten, weißen Tuche bedeckt, ein länglicher Gegenstand hingebreitet lag. Ich wußte sofort und mit jeder Faser meines Herzens, mit jedem Atom meines Gehirns, daß es ein menschlicher Körper war, der dort lag, lange, lange, bevor Noah Whelmsley es mir bestätigte. Seitlich waren eine ganze Reihe kleinerer, länglicher Packen oder Bündel gegen den größeren Laib gelehnt, und hier im Licht, aus der Nähe, nahm ich einen unheimlichen dünnen Nebel war, der aus den kleineren Paketen aufstieg, lautlos über den steinernen Tisch kroch und an den Seiten herunterfloß wie zähflüssiger, weißlicher Hexenbrei. Der Friedensrichter begann, ohne viel Federlesens diese kleinen Bündel mit den Händen zur Seite zu reißen, wobei mir auffiel, daß er sie nur so knapp als irgend möglich berührte. „Trokkeneis“, gab er mir über die Schulter zur Kenntnis. Es schien mir, daß ich längst das Maß dessen erreicht hatte, was mir an einem einzigen Tage der Schöpfung an Grauen zuzumuten war, gleichwohl starrte ich, unerlösbar und gebannt, zitternd und mit einem fauligen Würgen in der Magengrube, darauf hin, wie Noah Whelmsley nach der Entfernung der Trockeneisbündel darum herum begann, das Tuch um den Leichnam selbst aufzuschlagen. „Diese junge Frau“, sagte Noah Whelmsley, und die Art, wie er während der geschäftigen Tätigkeit seiner Hände seinen Kopf halb zurückzog, halb abwandte, zeigte mir, daß auch er 197 hier seine Grenzen erreicht hatte, „dürfte zwei bis drei Wochen tot sein, und es wird somit in der Tat höchste Zeit, daß sie christlich unter die Erde gelangt. Sie ist trotz meiner Versuche, sie durch Kälte zu konservieren, wie Sie sehen, inzwischen in einem stark verwesten Zustand. Sie war schon, bevor wir sie fanden, schrecklich zugerichtet – wir haben sie vor einer Woche aus einem Abwasserkanal geholt, dort hat sie eine Woche oder länger gesteckt.“ Er schlug das Tuch am Kopfende zurück, und eine dunkelbraune, schauerliche Fratze mit zurückgezogenen Lefzen und halbgeöffneten, zerstörten Augen, den Kopf halb zur Seite geneigt, blickte mich an. Die Stirn, die Wange, das Kinn, überall hockte die Verwesung bereits gierig bei der Tafel, die sehr langen schwarzen Haare waren verfilzt und stumpf, sie verdeckten das Gesicht teilweise, der ganze Kopf starrte von gräßlichstem Schmutz. Dies war ein ehemals menschliches Antlitz, das einer jungen, anmutigen Frau, wie ich wohl aus den Andeutungen wußte, aber es sah aus wie das einer uralten Indianerin. Eine Ähnlichkeit zu jenem Bilde war im Grunde nicht mehr auszumachen, da der schnöde Tod alles, was dieses Wesen an äußeren Merkmalen besessen, ihr in so kurzer Zeit geraubt, er hatte sie gesichtslos gemacht - der seelenvolle Blick, der schöne Mund, die edle Form der Wangen oder die marmorweiße, lilienreine Haut – all das war mit dem Sonnenglanz ihres kurzen Lebens verweht. … Asunción Lozanos Seele und Körper waren nun beide fortgegangen. „Nun?“ fragte Noah Whelmsley. „Sagt Ihnen das Gesicht etwas? Kennen Sie die junge Frau?“ „Das Gesicht, Sir …“, würgte ich hervor, „… nun - es ist, Sir, … nachgerade nicht mehr zu identifizieren.“ - Das war nicht einmal gelogen. „Ich habe Sie gefragt, ob Sie wissen, wer diese Frau ist!“ Ich schüttelte stumm den Kopf. „Sehen Sie, hier“, sagte Noah Whelmsley spröde. Mit einem grausamen, kurzen Ruck, so daß der ganze verwesende Körper sich bewegte, zerrte er das Tuch über Brust und Bauch der Toten auseinander – man konnte sehen, daß sie bekleidet war, ein ehemals weißes Nachtgewand, aber der Stoff war über dem oberen Bauch völlig zerfetzt, man sah das faulige, schwarze Fleisch darunter und den dunklen Trichter, wo ihr das Herz entnommen worden war. Ich wendete mich hastig gegen die Wand, stützte mich dort ab, beugte mich und würgte. Ich mußte auch deshalb würgen, weil ich im letzten Moment, als ich dort hingeschaut, etwas eminent Scheußliches gesehen. Ein winziger Käfer, nicht größer als ein kleiner Fingernagel, war Asunción Lozano aus dem Munde gekrochen, blitzschnell über das Gesicht gelaufen und ihr im Auge versunken. „Nun, wie schaut es aus, Mr. Holland?“ fragte mich Noah Whelmsley dröhnend, während ich keuchend gegen die Wand gelehnt stand. „Das Herz entfernt …– zweimal dieselbe Methode … wie? … zweimal zum gleichen Zweck? - Würden Sie nicht meinen, nein?“ Ich schwieg - zum Teil, weil ich nicht sprechen konnte. „Hören Sie, Mr. Holland, bevor Sie mir weiter Märchen erzählen, die Ihnen nicht einmal Ihre Großmutter abkaufen würde … gehen Sie in sich und geben Sie sich einen Ruck! Als Mr. Cavendish vorhin erläuterte, Sie seien gestern … verzeihen Sie mir: vorgestern … in Marylebone am Canonbury Square aufgetaucht und hätten da mit dem Verwalter gesprochen, wissen Sie, da habe ich ganz laut die Glocken läuten hören. Unter dieser Adresse hat sie nämlich bis vor etwa zweieinhalb Wochen als Gouvernante für einen Arzt gearbeitet. - Hieß Asunción Lozano und stammte aus Spanien … aus Zaragoza oder weiß der Teufel …“ Ich schwieg. Was wollte er von mir noch hören, da er sowieso schon alles wußte. Er betrachtete mich in einer Weise, die mir zeigte, daß sein Wohlwollen mir gegenüber rapide im Schwinden begriffen war. 198 „Also gut“, sagte er schließlich, „dann schweigen Sie eben - es geht auch anders, mein Sohn.“ Er drehte sich um und klaubte irgendetwas Kleines von einem Wandbord im Hintergrunde. Er kam damit zurück und zeigte es mir. „Das haben wir bei ihr gefunden, junger Mann. Sie hatte es dort in einer Tasche ihres Rocks.“ Es war ohne irgendwelches Blut daran, es war zerknittert, blaß und ausgewaschen vom Liegen im Wasser – Domenic Holland … Schreiber … ‚Monthly Mercury’ …- Es war meine Karte. „Aber das ist nicht möglich“, stieß ich hervor. „Wie meinen?“ „Ich sage, das ist nicht möglich! Ich habe dieses Mädchen nie getroffen. – Bei Gott, ich habe sie nie gesehen!“ „Aber trotzdem ist sie tot und hat dieselbe Wunde wie ein anderes totes Mädchen, das Sie zugegebenermaßen trafen. Zwei tote Frauen - zwei Ihrer Karten! Welche Schlüsse würden Sie daraus ziehen?!“ „Aber das ist falsch“, rief ich, „es ist alles nicht richtig! - Ich wollte sie treffen, ja, ich habe sie gesucht, das ist wahr, aber zu diesem Treffen ist es nicht gekommen! Überlegen Sie doch selbst, Sir! – ich war gestern – vorgestern am Canonbury Square – da war sie, sagen Sie, schon lange tot. - Ich habe dieses Mädchen nie gesehen und kann ihr deshalb meine Karte nicht gegeben haben!“ „Aber von irgendwoher hatte sie sie. - Von wem? - Sagen Sie, mein Sohn, verstreuen Sie dieses Bütten sehr generös über ganz London?“ „Ich weiß es nicht, Sir. Im Laufe von annähernd drei Jahren – so lange arbeite ich für den ‚Mercury’ - werde ich sie dem einen oder anderen gegeben haben.“ Ich erinnerte mich, daß ich Fiona de Cato und vorher bereits Mrs. Purcell respektive ihrem Knaben je eine Karte überlassen. Und Eusebia Purcell hatte immerhin das spanische Mädchen für mich gesucht … War auf diesem Wege vielleicht eine Verbindung möglich gewesen? Konnte es die nämliche Karte sein, die ich Eusebia Purcell gegeben? Die ganze Zeit standen wir in diesem Gelaß, in dem der infernalische Gestank der Verwesung wütete. Um Whelmsley meinen guten Willen zu bezeugen, fügte ich hinzu: „Das Mädchen stammte übrigens aus Córdoba, Sir, nicht aus Zaragoza.“ „So?“ nickte er halbwegs amüsiert, halbwegs besänftigt. „Nun gut, nun gut, Holland. Sie und Asunción Lozano. - Sie wollten sie also doch sprechen!“ Er faßte mich fester ins Auge. „Möchten Sie mir verraten, warum?“ Ich zögerte. „Sir, bitte … ich bitte Sie …“, sagte ich schwach. Ich zeigte auf die Leiche auf dem Tisch. „Können wir das nicht an anderer Stelle verhandeln? Ich denke, mir ist nicht gut.“ Er zog eine Grimasse, die mir bedeuten sollte, daß er nicht viel von meiner Weichlichkeit hielt. Seine Stimme klang plötzlich von neuer Energie durchdrungen, als er mir entgegnete: „Wir gehen, Mr. Holland, wir gehen sogleich, haben Sie nur etwas Geduld mit mir. Schulden Sie es meinem Alter, wenn ich nicht mehr der Schnellsten einer bin. – Wir sind sozusagen schon auf dem Wege. Eine Kleinigkeit möchte ich Ihnen allerdings vorher noch zeigen möchte doch zu gerne wissen, was Sie davon halten. Schauen Sie …“ Er nahm das Licht und drehte sich damit um, tat ein paar flinke Schritte und riß somit einen anderen Teil des düsteren Gelasses aus der Finsternis. Auch dort gab es einen der steinernen 199 Tische, ich hatte ja vermerkt, daß ich bei meinem Eintritt vier davon gesehen. - Aber hatte mich vorhin die Gesamtheit des ersten Eindruckes oder der olfaktorische Schock zu sehr vereinnahmt – ich hatte ja bei dem ersten Tische zuerst auch nicht gesehen, daß sich eine Leiche darauf befand – so ging es mir hier ein weiteres Mal ebenso, es war, als ob ein grauenvolles Schicksal mich zwang, die gräßlichsten Ereignisse, die ich mir vorstellen konnte, wieder und wieder zu durchleben – erst jetzt nahm ich wahr, daß auch auf diesem Tische ein in ein helles Tuch eingeschlagener Leichnam zwischen Paketen lautlos rauchenden Trockeneises ruhte. Unglauben rührte mich an. „Sorgen Sie sich nicht“, ließ mich Whelmsley mit volltönender Stimme wissen, während er mit vorsichtigen Händen die Trockeneisbündel beiseite räumte. „Diese hier ist erst drei, vier Tage tot. Sie ist in einem noch durchaus respektablen Zustand, die Leichenstarre noch nicht einmal völlig vergangen. Auch eine junge, hübsche Frau. Schauen Sie nur …“ Der große schwere Mann breitete mit fast liebevollen Händen die Tücher auseinander, und die unbekleideten Schultern einer jungen Frau wurden sichtbar. „Natürlich haben wir auch hier wieder den notorischen Schönheitsfehler“, räumte Whelmsley ein, und in dem Augenblick enthüllte der auseinanderfallende Stoff die bekannte, gräßliche Verletzung neben dem Brustbein. Ich preßte entsetzt die Hand an den Mund - zum dritten Mal an diesem Abend sah ich die grauenvolle Wunde, wo einer jungen Frau brutal das Herz herausschnitten worden war. Hörte das nie auf? Diese Tote schien reinlich gewaschen, weshalb die sichtbare, getrocknete Menge Blutes sich in Grenzen hielt und sich im Grunde auf die geöffnete Brust der Toten beschränkte. Die Öffnung dort schien mir wie ein widernatürlicher, klaffend aufgerissener Mund, der eine unhörbare und unsagbare Anklage hinausschrie. Noah Whelmsley deutete auf die entblößte Brust der Toten. „Sehen Sie sich ihren Busen an, mein Sohn … Dr. Gaddison vermutet, daß sie vor kurzem schwanger gewesen ist … schauen Sie … dreimal dieselbe Wunde, Mr. Holland - nur hatte diese Frau Ihre Karte nicht dabei …“ „Gott sei Dank“, dachte ich matt. „Schrecklich, gleichviel! Lieber Gott im Himmel …!“ Er hatte es bis jetzt vermieden, mir ihr Gesicht zu zeigen. Jetzt zog er wie beiläufig das Tuch von ihrem Kopfe. Ein totes Antlitz blickte zur Decke, ausdruckslos, erloschen, still - und dennoch schien es mir voller unsäglicher Trauer über das, was geschehen, liebenswert, milde und verzagt. Ich starrte dort hin und mein Herz stand still. Es waren die Züge von Leto, Mrs. Eusebia Purcells Gesicht. Plötzlich war alles ganz weit weg, drehte sich sonderbar - ein Rauschen kam über mich wie mächtige Meeresbrandung. Ich sah Whelmsley winkend noch für einen Augenblick ganz am Ende eines langen Tunnels. Dann weiß ich von nichts mehr, und alles war fort ... ..... Als ich zu mir kam, lag ich, in weiche Kissen gebettet, auf einem ledernen Kanapee in einem Raume, der eine Bibliothek sein mochte. Ein behagliches Feuer brannte im marmornen Ka200 min, den zwei majestätische Löwenköpfe zierten, und es waren mehrere Lampen angezündet. Ferner gab es einen mächtigen Schreibtisch, linkerhand am Boden stehend einen riesigen, kostbaren, alten Globus, gepolsterte Sessel mit soliden Arm– und Rückenlehnen; ich blickte durch zwei Fenster rechts in den Nachthimmel. Und ein Mann saß auf meinem Kanapee, den ich nicht kannte, und hielt meinen Puls. „Er wacht auf, Sir“, meinte er. „Wird Zeit“, sagte Whelmsley und trat seitlich in mein Blickfeld. Er hielt ein Glas mit bernsteingelber Flüssigkeit in der Hand. Noch ein dritter Mann stand im Hintergrund. Auch ihn kannte ich nicht. „Sie waren fast zwei Stunden abgetreten, mein Sohn“, begrüßte mich der Friedensrichter ungnädig. „Wahrscheinlich haben Sie sich gründlich ausgeschlafen, während unsereins an Ihrem Lager Wache hielt. - Sie befinden sich, um Ihnen die übliche alberne Frage ‚Wo bin ich’ zu ersparen, im Allerheiligsten, meiner Wohnstätte in dem Gehöft gegenüber von der alten Schule. Es geht mittlerweile auf vier. - Hier, trinken Sie das, es ist Cognac. Hinterher gibt es Tee. Sie kosten mich ein Vermögen.“ Ich nippte vorsichtig von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Allzuselten, befand ich, berührte solche Köstlichkeit meine Zunge, rollte hinunter in meine Eingeweide und versah meinen Leib daselbst mit neuen Kräften. „Danke“, murmelte ich. Noah Whelmsley, schien mir, war, was Lebenssäfte anbetraf, erstaunlich ausgestattet. Der Friedensrichter winkte unwirsch ab. „Gaddison“, sagte er zu dem Manne, der bei mir saß, „Ihrer bedürfen wir nicht mehr; der junge Mensch kommt jetzt, denke ich, allein zurecht. Ich danke Ihnen herzlich. – Sie dagegen, Swensson“, sagte er zu dem anderen, „bleiben noch ein wenig. Schauen Sie sich das merkwürdige Tierchen ruhig genauer an.“ Dr. Gaddison … Swensson … Namen, die ich schon gehört … Gaddison, ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, mit ernstem, schmalem, glattrasiertem Gesicht und Augengläsern steckte seine Uhr weg, erhob sich, verneigte sich knapp vor Whelmsley und verließ mit ruhigen, abgezirkelten Bewegungen den Raum. Swensson, im Hintergrunde, rührte sich nicht. Er war ein Mann in seinen Dreißigern, bestenfalls mittelgroß, bläßlich, sehr blond, fast farblos, und sein Gesicht war auf bemerkenswerte Art nichtssagend in der Weise, daß man ihn ansah und schon eine Sekunde später Schwierigkeiten gehabt hätte, sich vor das Gedächtnis zurückzurufen, was denn sein Aussehen nun eigentlich ausmache. „Die beiden Gentlemen haben Sie herübergetragen, Mr. Holland“, ließ Noah Whelmsley mich wissen, „als … nun als Ihre Kräfte nachließen. Und sie haben Ihre Freundin, die Wirtstochter, zu den beiden anderen gelegt.“ Hatte vorher seine spaßig gemeinte Bemerkung mit dem „Tierchen“ - womit er offensichtlich mich bezeichnet - mir lediglich jenen schrecklichen Anblick vor das geistige Auge zurückgerufen, da der kleine Käfer in das Auge von Asunción Lozano eingetaucht war, so brachte die Erwähnung der Wirtstochter mir schlagartig alles, alles, was ich an Schrecklichem erlebt, wieder – von der „Lieferung“ der Kiste am frühen Abend und dem grausigen Fund darin über das Auftreten Whelmleys und Kirbys im „Ye Olde Bell Inn“, die Fahrt hierher, den nächtlichen Blick auf das wüste Gelände von Bunhill Fields, den Gestank herüben in der Schule, alles bis zu den zwei Leichen in der alten Waschküche, wo das Bewußtsein mich verlassen. Ich richtete mich auf dem Kanapee auf. „Bleiben Sie liegen, bleiben Sie liegen“, mahnte Whelmsley hastig. „Wir werden uns jetzt noch ein halbes oder dreiviertel Stündchen in netter Form unterhalten, Sie werden meinen Cognac und meinen Tee trinken und uns dafür erzählen, was wir wissen wollen, danach dürf201 ten Sie hinreichend wiederhergestellt sein - außerdem ist dann die Sperrstunde abgelaufen - so daß wir Sie Ihrer Wege werden schicken können, und Sie können getrost hingehen, wohin Sie wollen, etwas beschwingt zwar möglicherweise und vom genossenen Alkohole duftend, aber nichtsdestoweniger bereit für all die bedeutenden Dinge, die Sie heute zweifellos vorhaben.“ „Bitte, Sir“, fragte ich, „beantworten Sie mir auch die eine oder andere Frage?“ „Das kommt darauf an“, meinte er gönnerhaft, „ob Sie mir meine Fragen beantworten.“ Er zog sich einen Sessel näher und ließ sich darauf nieder. „Vielleicht beginnen wir damit, junger Mann, daß Sie mir erzählen, was Ihnen der Leichnam der dritten Frau dort herüben sagte. Denn ich hatte den unbedingten Eindruck, daß Ihre Lebensgeister Sie gerade verließen, als ich Ihnen ihr Gesicht zeigte. Ich würde daraus schließen: Diese Frau dort unter den Toten zu treffen, damit haben Sie offensichtlich nicht gerechnet.“ „Sie meinen Mrs. Eusebia Purcell?“ versicherte ich mich. „Ah, Sie wissen also ihren Namen, das ist doch schon einmal ein Beginn … Woher kennen Sie sie?“ Ich überlegte und erzählte ihm dann umfänglich die Geschichte, wie ihr Mann von der Kutsche getötet worden war. Ich verbreitete mich ausführlich über die sonderbaren Umstände des Unglückes und daß mir irgendetwas daran nicht zu stimmen scheine … der Kutscher … die Zeugen … der befreundete Redakteur … irgendetwas sei da faul. Noah Whelmsley saß währenddessen breit in seinem Sessel, die Hände gefaltet und hörte mir mit einer Art wohlgefälligen Behagens zu. Ich berichtete von der Visite bei ihr, von der armseligen, aber herzlichen Atmosphäre, davon, wie sie mir bei der Suche nach Asunción Lozano habe helfen wollen und daß ich ihr wohl deshalb die Karte gegeben hatte, die nun offensichtlich bei der Spanierin gefunden worden sei. Den mit Myrsilos Ludo unterschriebenen Zeitungsartikel indessen sowie Sir Enid Luciter als Ursache oder Auftraggeber des Kutschunglückes ließ ich fuglich aus. Im Gegenzug erfuhr ich von Whelmsley, daß man die Frau tot bei sich zu Hause aufgefunden, während die Kinder oben eingesperrt gewesen waren. Die Kleinen waren völlig verschüchtert und in Angst gesetzt und außer zu dem Hinweis, daß es mehrere Personen, Männer und Frauen gewesen, die gekommen seien, und daß die Mutter gräßlich geschrien habe, zu keiner Aussage hilfreich gewesen. Das kleinste Kind, kaum über drei Wochen alt, war dem Hungertode nahegewesen, es sei jedoch, und zwar ohne die übliche Wahl zu den regulären Konditionen im Findlingshospital in der Guilford Street aufgenommen worden – Captain Coram sei Dank! - und die größeren hatte man ins St. Josephs verbracht, von wo sich ihre weitere Verwendung finden würde. „St. Josephs“, dachte ich flüchtig, und daß Dr. Copeland Arzt dort war … Merkwürdig immerhin sei, fuhr Whelmsley fort, daß, wenn die Frau geschrien habe wie geschildert, keiner der Nachbarn etwas bemerkt haben wolle - es sei jedoch eine arme Gegend und daher möglich, daß diesem Schweigen in der Umgebung eventuell mit Geldgeschenken durch die Täter nachgeholfen worden sei. Er wollte von mir wissen – und kam damit auf eine alte Frage von sich zurück - zu welchem Zwecke ich Asunción Lozano denn nun habe aufsuchen wollen, und ich machte sie der Einfachheit halber zu einer Zeugin des Kutschunglücks. Ich heischte im Gegenzug zu wissen, warum er mich nicht arretiere, wo ich doch zu allen drei Toten Beziehungen besessen – er tat dies mit einem Lachen, einem „Cui bono“ und einem Hinweis auf meine Magenschwäche ab hinsichtlich Rosetta Manderlays blieb ich meinerseits und auch trotz schließlich schärferer Nachfrage bei der sich anbahnenden Liebesgeschichte. So tasteten wir uns, bildlich gesprochen, umeinander herum, es war ein rechtes Katz-und-Maus-Spiel, das wir betrieben. Ich muß zugeben, die Unterhaltung, so scheinbar freundlich und offen sie oberflächlich geführt ward, strengte mich rechtschaffen an. Ich war müde wie ein Hund, denn natürlich hatte ich nicht, wie der Friedensrichter zuvor gescherzt, geschlafen. Während der ganzen Zeit 202 mußte ich mir überdies herzlich Mühe geben, mir keine Blöße hinsichtlich der Hintergründe zu erlauben. Und drittens bewegte ich in meinem Kopfe, was die Aufklärungen, die ich erfuhr, für mein weiteres Verhalten bedeuten mußten. Die drängendste Frage von allen – im Grunde war dies ein ganzes Knäuel von Fragen: Von den sieben Geliebten des Zeus hatte ich bislang vier ausgefunden, und nach so kurzer Zeit lebte nur noch eine einzige von ihnen, Fiona de Cato. Die drei anderen waren in einer rätselhaften, böse verläßlichen Regelhaftigkeit ermordet, tot, das Herz ihnen blutig herausgeschnitten. Hieß es am Ende, daß ich es war, der womöglich die Beachtung des Mörders oder sein Interesse oder seine Wut ursächlich auf diese Frauen hingelenkt? Traf mich insofern eine Schuld? Falls dies eine gewisse Richtigkeit hatte, wodurch um alles in der Welt war ich ihm verdächtig geworden? In diesem Zusammenhang fiel mir abermals nur die Szene in dem trüben Hinterzimmer bei Sir Enid ein, wo er mich auf den Tod verwünscht. Wie weiter? Hieß es, daß ich mit dieser grauenhaften Kenntnis Fiona de Cato warnen mußte? Ihr mitteilen, daß ich sie durch meinen Versuch in tödliche Gefahr versetzt, da sie die letzte Überlebende sei? Oder war dem Mörder im Gegenteil durch eine glückliche Fügung mein erster Besuch bei ihr entgangen, und erst durch neuerlichen Kontakt lenkte ich ihn nun auf ihre Spur? Doch hier besann ich mich, daß Cavendish mich auch an dem Abend verfolgt … zumindest hatte er mich bei dem Gespräch mit Carlysle im Torweg beobachtet, und ich war unmittelbar danach zu ihr hingelaufen. Was bedeutete dies alles überhaupt für meine Suche? Mußte ich sie nicht umgehend einstellen, um die anderen drei noch lebenden Unbekannten nicht zu gefährden, unter ihnen meine Io? - Was war gefährlicher für diese Frauen, daß ich sie aufspürte oder ignorierte? Dieselbe Frage nochmals gestellt unter der Prämisse, daß ich in jedem Falle wußte, daß Enid Luciter meine Io seit spätestens gestern in seiner Gewalt besaß. Würde ich sie also durch künftiges Nichtstun töten - oder durch den Versuch meiner Rettung? Der alte Mann in Bedlam, fiel mir plötzlich ein, hatte in seiner kindhaften Unschuld etwas derartiges Furchtbares gesagt … oh, wie war mir zu raten, zu helfen?! Ein zweiter, nie erlöschender Fragenkomplex betraf das Rätsel, wen wir denn hier eigentlich verfolgten, wenn wir vom „Mörder“ dieser jungen Frauen sprachen, von der Bestie, die Menschenherzen herausnahm. Da war einerseits dieses menschliche Monstrum, dieser junge Mann unmittelbar im Umfeld des Mordes an Rosetta Manderlay, den John Cavendish verhältnismäßig verläßlich beschrieben. Doch auch Dr. David Gideon Copeland mochte ich nach allem nicht aus dem Katalog der zweifelhaften Zeitgenossen entlassen. – Ja, und im Falle Eusebia Purcells war die Rede gewesen von gleich mehreren Frauen und Männern – was also war dies alles hier, die Verschwörung einer geheimen Sekte? Eine weitere, gewissermaßen dritte Ungewißheit quälte mich: Hatte mir Noah Whelmsley bislang durch irgendetwas den Anschein oder den leisesten Verdacht seiner Illoyalität vermittelt, der es wirklich rechtfertigte, ihn hinsichtlich Sir Enid Luciters derart im Unklaren zu lassen – oder beging ich hier den nächsten schrecklichen Fehler, indem ich es ihm verschwieg? Wäre es nicht besser gewesen, zu zweit, gemeinsam, sozusagen in der doppelten Kenntnis der Sachlage an die Lösung dieses schrecklichen und gefährlichen Rätsels zu gehen? Aber wie dem sei, ich hatte meine Entscheidung fürs erste getroffen und bezahlte sie mit einer quälend bohrenden Unsicherheit und fast so etwas wie schlechtem Gewissen. Zu Beginn, als wir über Eusebia Purcell gesprochen, hatte der blasse Swensson, dieser stille, etwas unheimliche Mensch, unbeweglich seitab gestanden, dann, irgendwann, später, hatte ich bemerkt, daß er verschwunden war, und ich begriff in der nämlichen Sekunde, daß ich seinen Abgang nicht registriert hatte. Jetzt, gegen Ende des Gesprächs – es schien mir das Ende, da auch Whelmsleys Fragen langsamer auf mich heruntertropften, da meine Erkundigungen spärlicher wurden, da die Pausen, die in unserer Unterhaltung entstanden, sich verlängerten – 203 jetzt gegen Ende des Gesprächs tauchte Swensson ein weiteres Mal auf, allerdings nur, um mir einen weiteren Tee zu servieren. Der Friedensrichter blieb bei Cognac. Die ganze Zeit hatte er, behäbig in seinem Sessel sitzend, dieses unerklärliche Flair von Zufriedenheit verströmt, das mir vielleicht angemessen geschienen hätte, wäre der Fall gelöst gewesen, aber nicht unter den obwaltenden Umständen. Nun, als Swensson mir den Tee einschenkte, lachte Whelmsley mit einem Male sonderbar. „Schauen Sie nur Bo, Sie werden ihn wiedersehen. Schauen Sie ihn sich nur gut an. Ich verspreche Ihnen, es gibt ein weiteres Treffen.“ Swensson schaute mich mit seinen großen, blassen, nichtssagenden Augen an, was mir ein wenig unheimlich war, dann stellte er die Kanne ab und ging still hinaus. Angesichts meiner Müdigkeit war mir sein sonderbarer Vorname – Bo – fast eindrucksvoller als der seltsame Ausfall in den Bereich unmotivierter Heiterkeit, den ich bei Noah Whelmsley soeben erlebt. „Ja, Mr. Holland“, fragte der Friedensrichter und wurde wieder ernst, „wie verfahren Sie nun weiter?“ Ich war einen Moment unsicher, wie er seine Frage verstanden wissen wollte: „Wie meinen Sie, Sir? Ich denke, ich werde nach Hause gehen, das wird mich eine Stunde kosten. Dort werde ich mich etwas erfrischen und dann ins Kontor gehen zur Arbeit. Bald wird es hell werden.“ Whelmsley wiegte den Kopf. „So schnell wird es noch nicht hell.“ Er stand plötzlich auf, trat ans Fenster und schaute hinaus, obwohl dort in der Tat nichts zu sehen war außer der Nacht, und er verschränkte die Hände auf dem Rücken. „Zur Arbeit?“ versicherte er sich. „Ja, Sir.“ „Der ‚Monthly Mercury’, nicht wahr?“ „Ja, Sir, richtig, Sir.“ „Ah, ja …“ Er schien angestrengt zu überlegen, kratzte sich am Kopf . „Sagen Sie, der ‚Monthly Mercury’ … gab es da in der Ausgabe Oktober …“, er brach ab, schüttelte den Kopf, setzte erneut an, seine Stimme klang unschuldig wie die eines Kindes, „gab es in der Ausgabe Oktober nicht irgendwie den Bericht … über eine recht sensationelle Vernissage in Morass Manor oben an der Themse? – Wie? - Ein lauer Septembernachmittag, gut gekleidete Gäste, schmackhafter Imbiß, Hunde im Zwinger. Später ein Kaminzimmer, aufgeregte Damen, soignierte Herren, ein eloquenter Gastgeber, dann das Bild, ein sonderbarer Maestro, Neger in Rokokoperücken … helfen Sie mir …“ Ich saß ganz still. In mir war alles wie Eis. „Morass Manor“, erklärte der Friedensrichter leutselig. „Das ist, falls es Ihnen entfallen sein sollte, das Landhaus eines verdienten Mitgliedes der Gesellschaft, eines gewissen Sir Enid Luciter. Ja? – Nein?“ Noah Whelmsley am Fenster drehte sich um und musterte mich. Sekundenlang sah er mich an, aber diese Zeit dehnte sich mir zu Stunden. „Auf dem Gemälde sollen sich sieben junge, sieben entkleidete Frauen mehr oder minder unzüchtig getummelt haben -- äußerte zumindest der Artikel - man hörte die Entrüstung des Schreibers sozusagen heraus … ein gewisser D Punkt H Punkt übrigens, soweit ich mich erinnere …“ Noah Whelmsley kam unendlich langsam zu seinem Sessel zurückgeschritten und ließ sich in seiner opulenten Fülle darin niedergleiten. „Wollen Sie auch noch einen Cognac?“ fragte er. „Ja, Sir“, brachte ich hervor. Wir saßen uns mit ausgestreckten Armen gegenüber, ich hielt das Glas, er goß mir ein. 204 Eine große Stille breitete sich aus. „Ich nehme an“, meinte Whelmsley schließlich, „das ganze riesige Geheimnis – ich spreche von dem, was Sie nicht in dem Artikel erwähnt haben - ist, daß Sie sich in eine von diesen sieben verguckt haben müssen - und begannen, ihr nachzuspüren, ist es nicht so?“ „Ja, Sir, wenn Sie so wollen ...“ Er nickte eindringlich. „Es ist immer das gleiche mit Euch jungen Leuten“, seufzte er. „Und? - War es Rosetta Manderlay?“ „Nein, Sir, es ist eine von denen, die noch leben. Es war keine von den drei Toten. Ich habe im Grunde nur versucht, über die anderen die meine zu finden …“ „Die Ihre …“, wiederholte er spöttisch und schnaubte durch die Nase. „Und jetzt fragen Sie sich natürlich, ob Sie sie stattdessen durch Ihre Nachforschungen nur gefährden, richtig?“ „Ja, Sir … beziehungsweise: nein, Sir, leider dramatischer als das. – Denn ich weiß verläßlich, daß sie im Bedlam gefangengehalten wurde … und daß sie jetzt wieder bei Sir Enid Luciter ist. Die Gefährdung ist schon eingetreten, Sir – akut!“ „Luciter“, wiederholte er versonnen. „Der alte Lump …“ Eine neue Pause breitete sich aus. „Sie wissen noch nicht alles, Sir“, äußerte ich schließlich kleinlaut. „Oh nein?“ fragte er ironisch. „Sie überraschen mich! - Nun denn … wenn Sie so gut sein wollen … lassen Sie hören.“ Ich nickte und faßte meinen letzten Mut zusammen. - Und dann erzählte ich ihm, wie Luciter mich auf seinem Fest hatte abführen lassen und hinter den Kulissen bedroht hatte. Ich wies darauf hin, daß ihm durchaus derlei zuzutrauen sei, denn auch das vorerwähnte Kutschunglück, das mich zu Eusebia Purcell geführt, war der größten Wahrscheinlichkeit nach im Auftrage von Luciter ausgeführt, und dies, auch wenn es so vertrackt nach nichts als einem wirklichen Unfall aussah. Ich sprach ihm von Dr. Copeland und seiner vermutlichen Verstrikkung in das Verschwinden einzelner Mädchen, erklärte mich ferner erschöpfend zu allem, was ich über die restlichen Frauen einschließlich meiner Io bislang herausgebracht, daß eine eine Hausgehilfin und eine eine Straßendirne sei, nannte Fiona de Cato beim Namen und bekannte, daß ich im Gegensatz zu all dem über die, auf die es mir eigentlich ankam, noch recht wenig - respektive nur allerlei Widersprüchliches gehört. Whelmsley hörte mir zu, diesmal jedoch nicht im Habitus des wohlgelaunten Bonvivant, sondern in aufmerksamster Ernsthaftigkeit und Konzentration. Zum Schluß, als ich schwieg, saß er eine Weile tief in Gedanken versunken. „Tja, mein Sohn“, sagte er dann. „Wenn ich mir eine Wiederholung der Frage von zuvor erlauben dürfte, wie Sie denn nun weiter verfahren wollen, so werden Sie mir diesmal sicher nicht solchen Unfug von Nach-Hause-Gehen und Zur-Arbeit-Eilen erzählen, sondern daß Sie als nächstes so umgehend wie möglich vorhaben, in ‚Morass Manor’ einzudringen und der Dame ihres Herzens beizustehen, habe ich recht, mein Junge?“ „Ganz gewiß, Sir, das haben Sie.“ „Ja, so schätze ich Sie ein“, nickte er, „- impulsiv, naiv, unbelehrbar - mit einem Worte: jung.“ Er betrachtete mich versonnen. „Sie bringen es glatt eine ganze Nacht lang fertig, mich mit Schnickschnack und Kinkerlitzchen aufzuhalten, Sie unverschämter, grüner Lümmel, obwohl ich Sie bereits zwischenzeitlich ermahnt habe, mich mit Großmutter-Kram und AltWeiber-Märchen gefälligst zu verschonen.“ 205 Ich senkte beschämt den Kopf. „Ja, Sir, ich weiß. - Es tut mir sehr leid, Sir.“ Er nickte wohlgefällig, als er meine Reue sah. „Andererseits haben Sie mir durchaus gezeigt, daß Sie verschwiegen sein können“, sprach er bedächtig. „Und das … nun … das ist eine Eigenschaft, die ich bei jungen Leuten auch durchaus zu schätzen weiß.“ Er betrachtete mich aufmerksam. „Sir?“ fragte ich, da ich ihn nicht verstand. Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich fürchte, ich kann Ihnen bei all dem, was Sie vorhaben, sehr wenig helfen“, sagte er. „Sie werden das unternehmen, was zu unternehmen Sie meinen das Richtige ist. - Und ich denke“, setzte er langsam hinzu, „Sie tun vermutlich wohl daran, es zumindest zu versuchen.“ Ich blickte auf. „Meinen Sie, Sir? – Ich danke Ihnen.“ Das Kaminfeuer war heruntergebrannt. Es war kühl im Raum, und ich hüllte mich in den von Mrs. Hamlet geliehenen Mantel Noah Whelmsley betrachtete seine Fingernägel. „Ich werde Ihnen als letztes heute eine kleine Lektion erteile, junger Freund“, sprach er bedächtig, „bevor ich Sie nach Hause entlasse …“ Er blickte auf. „… eine Lektion in Vertrauen“, setzte er hinzu. „Sir?“ fragte ich. Der schwere, mächtige Mann in dem Sessel mir gegenüber versuchte ein zartes, vorsichtiges Lächeln, fast schläfrig. „Hören Sie mir zu, mein Sohn.“ Aber es bedurfte dieser Ermahnung nicht – ich war von gespanntester Aufmerksamkeit. „Zunächst …“, begann Whelmsley, „Sir Enid Luciter ist nicht an dem Kutschunfall schuld …“ „Sir?!“ fuhr ich auf. „Wollen Sie mir zuhören, junger Mann?“ fragte er mit einiger Schärfe und ich schwieg. Ich schwieg aus Enttäuschung, auch aus barem, reglosem Entsetzen. Hatte ich also doch den verhängnisvollen Fehler gemacht - den einzigen, den es zu vermeiden galt – hatte ich mich in ihm gröblich versehen und mußte mir nun die Litanei anhören, daß Sir Enid Luciter unschuldig sei. - Was kam danach? - Schlimmeres? Arbeitete er also doch mit ihnen zusammen? „Nehmen Sie zur Kenntnis“, sagte Whelmsley einigermaßen grob, „daß Sie nicht der einzige Ritter in schimmernder Rüstung sind, der in den großen Straßen Londons unterwegs ist. Ich versichere Ihnen: Da gibt es noch einige mehr. Und jetzt reißen Sie sich zusammen und hören Sie zu. Luciter ist gewiß ein Schweinehund und Roßtäuscher, aber mit dem Unfall von Purcell hat er nichts zu tun. – Und Sie? - Sie haben zwar ein Problem mit drei bestialisch abgeschlachteten Mädchen am Hals, verheerend genug! - aber kein Problem mit irgendeiner Kutsche. Denn ich versichere Ihnen jetzt etwas, mein Freund …“ Er hob seinen dicken Zeigefinger in die Höhe und sprach langsam: „Luciter hat mit diesem Kutschunfall gewiß nichts zu tun, Mr. Holland, denn es hat diesen Unfall nicht gegeben.“ Ich schwieg, einerseits weil ich vor Verblüffung sowieso nicht imstande gewesen wäre, meinen Mund aufzutun, andererseits, muß ich gestehen, war mein gerade zuvor aufgekommenes Mißtrauen angesichts dieser kühn behaupteten Wendung noch längst nicht gedämpft. Whelmsley sah sich mein Schweigen eine Weile lang an. „Wir“, sagte er dann, „… wir haben diesen Unfall lanciert.“ Mein Hals war trocken. „Wer: ‚wir’?“ fragte ich. 206 „Wer? – Ja, was glauben Sie wohl, wer?!“ – Er zuckte nachlässig die Schultern. „Bow Street Runner … Public Informer … Thief Takers … -- Friedensrichter … was haben Sie denn gedacht, die Gilden der Büdner und Bäcker?“ Er winkte ab, als ich etwas sagen wollte. Es war fast, als ob er zu sich selber sprach. „Nehmen wir für einen Augenblick an, mein Sohn, nur für einen winzigen Augenblick“, sagte er, „daß wir auch hinter Luciter her sind, seit Jahren, wie der Teufel hinter der armen Seele, daß wir ihm gerne ans Leder wollen, nennen Sie es, wie Sie mögen.“ Er blickte mich finster an. „Also schreibt Frank Purcell einen gemäßigt gegen Luciter eingestellten Artikel. – Wenig darauf kommt er ums Leben und wir täuschen Zeugen, einen Redakteur, eine Untersuchung vor, lancieren die Gerüchte, alles deutet auf Luciter als den Täter hin. Wir haben uns gefragt: Wie wird Luciter reagieren, wenn er im Mittelpunkt des Verdachtes steht, und im Unterschied zu sonst ausnahmsweise einmal weiß, daß er unschuldig ist. - Wir haben uns eine Menge davon versprochen - wir haben Protest erwarte, irgendeine Frechheit, eine Unvorsichtigkeit, aber der Lumpenhund hat seine Nerven gut im Schuß – im Grunde hat er gar nicht reagiert. Schade.“ Ich saß da, wie vor den Kopf geschlagen. „Aber Frank Purcells Frau war auf dem Gemälde dabei“, rief ich erregt. “Und es gibt diese Unterschrift unter seinem Artikel, die Luciter signalisiert, daß der Ehemann von der Eskapade mit dem Gemälde wußte. Ich sage Ihnen, Luciter fühlte sich bedroht, und er hat Frank Purcell aus dem Wege geräumt, wie auch immer ...“ „Sie haben immer noch nicht verstanden“, unterbrach mich Noah Whelmsley milde. „Ich sagte Ihnen doch: Es gab keinen Kutschenunfall. – Frank Purcell lebt. Er ist am Leben.“ Mir verschlug es erneut die Sprache. „Er ist am Leben?! Ich meine, er war die ganze Zeit am Leben? – Und seine Frau, die jetzt dort herüben liegt, mit ihren Kindern … es sind auch seine Kinder …“ Ich brach ab. Ich war fassungslos. „Die Frau hat nichts davon gewußt“, sprach Noah Whelmsley sehr ernst. „Aber wie konnte dieser Mann …“ „Frank Purcell ist einer von uns“, fiel mir Noah Whelmsley ins Wort. „Ein Bow Street Runner. Und diese Aufgabe verlangt manchem von uns manches ab. Natürlich war diese Geschichte nicht auf Ewigkeit ausgelegt, und natürlich sollte er zu seiner Familie zurück. Er wird irgendwann zu seinen Kindern zurückkehren, aber nicht jetzt, ehe dies vorbei ist. Daß seine Frau ums Leben kam, war nicht in unserem Plan, das versteht sich von selbst - und wenn ich erst weiß, wer das zu verantworten hat … Sie haben schon immer von den abenteuerlichen Verkleidungen der Bow Street Runner gehört, die Geschichten von Camouflage und doppelter Existenz. Dergleichen, Holland, ist uralt. Sie werden den Namen Christopher Marlowe kennen – er hat den ‚Dr. Faustus’ geschrieben. Er ist, wie Sie wissen, angeblich in einer Messerstecherei in einer Kaschemme am Hafen ums Leben gekommen, aber ich sage Ihnen, er hat für die Krone gearbeitet, und sein ‚Tod’ war ein Tribut an seine eigene Sicherheit … übrigens auch eine Maßnahme, um die Durchführbarkeit künftiger Arbeit zu ermöglichen. Ähnlich verhielt es mit Frank Purcell, der dringend ein neues ‚Leben’ benötigte ...“ „Aber Mrs. Purcell“, rief ich bitter aus. “Sie glaubte, daß ihr Mann ums Leben gekommen sei. Sie mußte es ihren Kindern sagen. Sie weinte sich die Augen aus, sie wohnte in Armut. Vielleicht ist sie umgebracht worden aufgrund der ‚Arbeit’ ihres Gatten.“ „Letzteres glaube ich nicht – oder warum wären dann die anderen Frauen auf die gleiche Weise gestorben? Nein, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Indessen, bezüglich der ersten Punkte konzedier ich Ihnen: Es ist hart.“ „Hart? Hart?“ rief ich aus. „Sie sind hart! Die Kinder, die jetzt leiden, weil sie als Waisen dastehen ...“ 207 „Mr. Holland“, unterbrach mich der Friedensrichter grob, „diese Kinder sind im St. Josephs und im Foundling Hospital in der Guilford Street bestens untergebracht, ich sagte es Ihnen. Und ich teilte Ihnen auch mit, daß es dank meiner Intervention ohne die übliche Aufnahmeprozedur abging. Wissen Sie, daß ansonsten aus einer Ledertasche Holzkugeln gezogen werden müssen, rote, weiße und schwarze, um über die Aufnahme der Kinder zu befinden? Frauen, Mütter, Witwen, Nachbarinnen stehen in einer Schlange, um Kinder, oftmals ihre eigenen, die sie sonst nicht durchbrächten, abzugeben. Früher hieß es: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Heute hat Weiß Anrecht auf eine ärztliche Untersuchung und bei nachgewiesen einwandfreiem Zustand verläßt das Kind die Mutter und gelangt hinein. Bei Schwarz werden Mutter und Kind gleich wieder weggeschickt, und Rot wird eingetragen in einer Aufrückliste, was eine zweite Chance in einem Monat oder einem Jahr bedeutet. Können Sie sich das tagtägliche Elend vor dieser Pforte vorstellen?! Also bitte! – Und haben Sie die Schilderungen gelesen, die uns von Captain Coram überliefert sind, der der Gründer dieser wohltätigen Einrichtung ist, von den Kindern, ich darf ihn zitieren, ‚die von ihren Eltern massenhaft auf die Dreckhaufen der Straße hingeschleudert werden, damit sie dort krepieren mögen’. Und wenden Sie ja nicht ein, mein Sohn, das sei das London von vor achtzig Jahren! Ich bin zufällig Friedensrichter und kenne daher auch einige aktuelle Zahlen. Wie würde es Ihnen gefallen, junger Mann, wenn ich Ihnen sagte, daß über die Hälfte der Menschen, die heute in Londoner Hospitälern stirbt, Kinder unter zwölf Jahren sind. Dabei nehmen die meisten Hospitäler aus Prinzip überhaupt keine Kinder auf, nicht wahr, außer es geht um Amputationen!? Also lassen Sie es nur gut sein“, bellte er ärgerlich, „die Nacht ist zu weit fortgeschritten und ich bin einfach zu müde, um mit Ihnen in einen Disput über die Schlechtigkeit der Welt einzutreten!“ Er sprang erregt auf und stellte sich ans Fenster wie zuvor, die Hände auf dem Rücken gefaltet. – „Abgesehen davon, das Elend von Frank Purcell kümmert Sie nicht?“ stieß er hervor. „Einem meiner Leute ist bestialisch seine Frau ermordet worden, während er für König und Vaterland einen Auftrag durchführte. Einen Auftrag übrigens, der nichts mit Luciter zu tun hatte. Oh ja, gewiß, mein Junge, denn Luciter ist nicht der einzige Schurke im Land. Er war uns in diesem Fall nur recht, um die Farce mit der Kutsche zu inszenieren, damit Purcell eine neue Existenz bekam – er sollte uns zur Abwechslung auch einmal nutzen. – Sie dagegen …“ Noah Whelmsley stand am Fenster und verstummte. „Ich habe Sie verstanden“, sagte ich. „Da gibt es Leute, die leisten etwas für König und Vaterland. Ich dagegen bin in diese Geschichte hineingetappt wegen ein wenig naivem HerzSchmerz und einer lächerlichen Schwärmerei.“ „Nun, nun, nun - nur nicht gleich so empfindlich!“ Whelmsley drehte sich um. Er war sehr ernst. „Purcell hat den Tod seiner Frau aus nächster Nähe miterlebt, sozusagen“, meinte er. „Er war nicht dabei, als man sie fand, aber er war bei denen, die sie von der Kutsche genommen und drüben im alten Schulhaus abgelegt haben. Hat ihn hart getroffen, er hat es schlecht weggesteckt. - Er macht mir Sorgen.“ „Er war hier?“ fragte ich. „Oh, er ist noch hier“, erklärte Whelmsley. „Ich habe ihm fürs erste Quartier gegeben – was hätten Sie denn getan?!“ Ich zögerte. „Ja, gewiß“, sagte ich vorsichtig. „Ich glaube, ich hätte ihn gern kennengelernt.“ „Ach ja?“ Whelmsley sah mich vom dunklen Fenster aus an, etwas erstaunt, wie mir schien. „Kennengelernt? – Aber das haben Sie, Mr. Holland, das haben Sie.“ Ich machte eine unsichere Geste, weil ich nicht wußte, was er damit meinte. „Nun, die neue Identität“, erinnerte mich Noah Whelmsley. „Er heißt jetzt Bo Swensson …“ 208 ..... Eine Wanduhr im Hause des Friedensrichters hatte auf fünf gezeigt, als ich es verlassen. Draußen lag noch die tiefste Nacht, längst kein Mond mehr am Himmel. Über die Kieswege westlich von Finsbury, die ich unter meinen Füßen schwach und geisterhaft schimmernd wie das Meer bei Nacht wahrnahm, und mit dem Geräusch meiner Schritte auf dem Kies im Ohr war ich meiner Wohnstätte entgegengestrebt, nachdem ich die Häuser von Holborn vor mir auftauchen sah, mit ruhigerem Schritt. Ich fühlte mich, während ich ausschritt, sonderbar durcheinander, mir war heißer am Leibe, als mir angesichts der Kühle hätte sein sollen, gleichzeitig klapperte ich vor Kälte, und die Zähne schlugen mir aufeinander. Die Gedanken, die mir im Kopfe wirbelten, kamen mir seltsam unordentlich und wirr vor. Zum Beispiel fragte ich mich, ob es sich überhaupt noch verlohne, zu Fiona de Cato hinzulaufen und sie vor dem herz-herausreißenden blassen, jungen Manne zu warnen, wo sie doch wahrscheinlich schon mit blutender, leerer Brust unter den Palmen ihres Wintergartens lag – wir hatten sie nur noch nicht gefunden. Dann jedoch wiederum sah ich sie vor mir, wie sie sich in ihrer Griechentoga dem kleinen Hause in Bethnal Green näherte, in dem Eusebia Purcells Familie zu Hause war, und mit ihr schlichen, Dolche und ein Seil in den Mänteln verborgen, das Mordmonster mit der falschen Brille, Sir Enid Luciter, Dr. Copeland und Bo Swensson. „Mehrere Frauen und Männer“, sagten die Kinder, die ängstlich hinter der halbgeöffneten Türe standen, und die Mutter hat so entsetzlich geschrien … Als ich vom Felde herunter war, schritt ich durch Straßen, in denen die Anzahl der beleuchteten Fenster zunahm, weil ews auf den Tag ging. Meine Gegend, mein Heim hatte ich, wie ich zuvor richtig eingeschätzt, nach einer guten Stunde Weges erreicht. Ich bog in die stille, mir wohlbekannte Gasse ein, schleppte mich zu jener Haustür, durch die ich nun schon einige Jahre treten durfte, ich war müde und verschwitzt und wollte eben den Schlüssel unter dem Stein am Zaune hervorziehen und taumelte wohl ein wenig, als die Tür mit einem Schlage aufgetan ward und Mrs. Hamlet vor mir erschien - aber wie sah sie aus, mit ihrer Nachtmütze und dem Schlafmantel! – ich mußte so sehr herzlich lachen darüber! Ich nahm undeutlich wahr, daß sie mir die heftigsten Vorwürfe machte, ich hätte ihr nicht Bescheid gegeben, sie habe sich schließlich die abscheulichsten Sorgen gemacht, und noch nie sei ich eine ganze Nacht fortgeblieben, wie ich nach Brandy röche, wenn das meine Mutter noch erfahren hätte, und ich hielt dagegen, daß sie mir bei Gott nur vom Leibe bleiben sollte und begann mich zu entkleiden - ich bemerkte, daß ich mich etwas waschen wolle nach dieser höllischen Nacht, bevor ich Finley Burkitt wieder unter die Augen träte. Und „oh du gutes Kind, du verkochst mir ja“, hörte ich sie lamentieren, nachdem sie meine Stirne berührt – und der Rest, offen gesprochen, ist nichts als ein vager, verwirrender Eindruck in meiner Erinnerung von Wadenwickeln, Dampfbädern, Nachthemden, die mir nicht gehörten und kalten Güssen – ich lag im Bett und schwitzte und fror. Und ich träumte. Ich träumte, ich striche durch das hohe Grass von Bunhill Fields. Die Sonne schien, obwohl es ein schwarzer, nächtlicher Himmel war. Dort drüben lag das alte Schulhaus, und ich wußte, daß ich da erwartet wurde. Aber es war eine so schöne, friedliche Stimmung, daß ich mich nicht eilen mochte. Ich konnte die verfallene Mauer am Rande des Geländes erkennen und dahinter die dunklen Stadthäuser. Eigenartig leere Fensterhöhlen, und ich mochte dort nicht 209 hinschauen. Hier dagegen war es schön und ich wollte ewig verweilen. Die Sonne schien, und der Wind bewegte das Gras. Hier und dort lagen halbversunkene Grabsteine mit verblaßten Jahreszahlen im Grase, meine Finger glitten zärtlich darüber hin. Dann erschrak ich, weil ich hinter mir ein seltsames Geräusch hörte, wie von bröckelndem Gestein, und schaute mich um. Da sah ich, daß dort die Erde ein kleines Stück eingebrochen war und ein dunkles Loch sich auftat wie ein Mund. Und während ich mich noch darüber wunderte, ob etwa ein kleines Tier dieses Loch verursacht habe, ein Fuchs oder ein Iltis, gerade da gaben mit einem Male ringsum auf großer Fläche krachend die mürben Grashügel nach, und gelber, stinkender Staub wölkte auf, in welchem man die verfaulten Särge erkannte, die kreuz und quer hervorpolterten und sich zum Teil schrecklich öffneten. Noch immer war ich eigenartig ohne Angst, ich wunderte mich lediglich furchtbar, denn in allen diesen Särgen lagen Noah Whelmsleys und Bo Swensons, und ich dachte nur, daß ich meinen Termin im Schulhaus wahrnehmen mußte und wollte loslaufen, da trat mein rechter Fuß in ein Loch, das sich soeben unter mir auftat. Und ich kam nicht wieder heraus, weil irgendetwas meinen Fuß umklammert hielt. Als ich hinschaute, sah ich, daß ich den verfaulten Kopf von Asunción Lozano zertreten hatte, wie ein Apfel war er geplatzt, und mit dem zweiten Fuß steckte ich in dem Loch in ihrem Brustkorb fest. Nun kam das Entsetzen über mich wie eine Woge. Ich versuchte zu flüchten, zu laufen, aber ich kam kaum voran. Überall trat ich in die klebrigen Körper der Toten, und dies hielt unzuträglich meine Beine fest. Die Erde war aufgeschnitten, ich stand wie am Grunde einer Schlucht. Ich sah jetzt die Schichten der Särge als Gesamtes wie ein Gebirge über mir, ein Gebirge von Schubladen übereinander und nebeneinander wie an einem übermäßigen Schrank. Erdkrumen und Staub rieselten und brökkelten von oben auf mich herab. Aus allen Schubläden winkten und hingen die Toten heraus, und jetzt waren es alles Rosetta Manderlays mit blutigen Brüsten, - im nächsten Moment Eusebia Purcells, die mich um Hilfe riefen – aber ich konnte ihre Stimmen nicht hören - dann Fiona de Catos, in blutbefleckter Toga - lächelnd. Irgendwann war ich im Schulhaus. Ich erkannte es an dem Gestank, den ich schon einmal gerochen. Irgendetwas zwang mich, den gleichen Weg wie damals zu gehen. Ich hörte die Dielen knarren und das Seufzen der Toten in ihnen. Ich hörte sie leise wehklagen, wenn ich sie trat, und es tat mir sehr leid, sie zu treten. Die Tür zur Waschküche öffnete sich vor mir wie von Geisterhand, nein, zwei Neger waren es, die sie von innen mit ausdrucklslosen Gesichtern aufzogen. Ich schwebte die Stufen hinab und wunderte mich, daß ich schweben konnte. Warum nur, Gott im Himmel, stank es so? Auf einem der Tische lag eine eingehüllte Gestalt. Aber sie war nicht tot, sie lebte noch. Sie richtete sich, als ich nähertrat, langsam, wie aus dem Schlafe erwachend, zum Sitzen. Die Tücher fielen nach und nach von ihr herab wie welkes Laub. Die Frau unter den Tüchern war gänzlich unbekleidet, wie in dem Bilde. Ich erkannte, daß es Io war, und ich hatte es immer gewußt, daß sie es war. Sie lächelte wie am Ende eines Traums, und ich wollte zu ihr hinstürzen, sie herzen und kosen. Ich war auf dem Gipfel meines Glücks. Da drehte sie mir die andere Seite des Gesichtes zu. Es war keine Färse, aber es war bereits ein Totenschädel, ihr Leib versunken und verfault. Aus ihrem Auge kroch ein kleiner Käfer … ..... 210 Irgendwann lag ich traumlos und schlief. Dann war ich halbwach und sah mich verwundert in meiner Dachstube um, die verwunschen wirkte und viel kleiner, als ich sie in der Erinnerung barg. Nachts lag ich wach und hörte die Katzen rumoren. Am vierten Tag ging das Fieber herunter. Vier Tage waren es gewesen, teilte mir Mrs. Hamlet mit. Sie klopfte jedesmal an die Tür, wenn sie eintrat und mir etwas brachte, aber ich hatte keinen Hunger. Vier Tage, dachte ich, wenn ich alleine lag, hatte ich versäumt, vier kostbare, unersetzliche Tage hatte das Fieber mir gestohlen. Vier Tage länger als zuvor war meine Io in den Händen dieses Mannes oder dieser Leute. Mrs. Hamlet berichtete mir, daß sie am ersten Morgen einen Burschen zu Finley Burkitt geschickt, der mich dort entschuldigte habe, und sie überreichte mir eine handgeschriebene Note als Antwort meines Brotherrn vom dritten Tag. Ich bedeutete meiner Wirtin hinauszugehen und brach das Schreiben auf. Ich las: „Holland! Ich sende Ihnen Wünsche zur Genesung an Ihr Krankenlager. Kurieren Sie sich aus, und dann tun Sie, was Sie tun müssen. Mißverstehen Sie nicht dieses Schreiben: Sie sind jederzeit wieder im Kontor willkommen, jedoch gewähre ich Ihnen einen Urlaub von zwei Wochen. Burkitt Postsciptum: Nach Jahren des Stillschweigens hat mir mein alter Freund, der Friedensrichter Noah Whelmsley, einen überraschenden Besuch abgestattet. Wir haben uns bei einem Glase Rotweins gut unterhalten.“ ..... Ich lag auf meinem Lager, und die Tage waren verstrichen in einer sonderbaren Zeitlosigkeit, die mir klarmachte, wie weit von einer wirklichen Genesung entfernt ich wohl immer noch mich befand. Gleichwohl verstatteten es mir die Stunden, in denen es mir besser ging, mich sehr wohl um meine Sache zu bekümmern und folglich Pläne zu schmieden für die Zeit, wenn ich erst wieder hinauskönnte an die rauhe Winterluft. Noah Whelmsley hatte es mit seinem scharfen Verstande glasklar vorbezeichnet, er hatte recht, ich würde aufbrechen zu einer Fahrt, deren Ziel westlich von London lag, ich würde vordringen – ich wußte nicht wie, aber ich würde es zweifellos tun - in das Zentrum des Bösen, das der Ausgangspunkt von all diesen Scheußlichkeiten gewesen war, in den Landsitz des Schurken Luciter, „Morass Manor“. 211 Ich entsann mich jenes Dieners vorne am Tor zur nächtlichen Allee, den ich mit einem Silberstück bestochen und den ich gefragt hatte, was er dazu sage, daß ich dort irgendwann in der Zukunft ungesehen eindringen wolle. Er halte dies nicht für unbedenklich, hatte er mir geantwortet, der unbändige Spaßvogel. Irgendwann zukünftig – der Zeitpunkt war nun nahe … Dort hatte alles angefangen, dort hatte Luciter mich bedroht, ich solle es nicht wagen, ich solle ja seine Kreise nicht noch einmal kreuzen, anderenfalls er mit Schrecklichstem gedroht hatte. - Nun, und? Was sollte das am Ende wohl Dummes heißen? Es war ja Schreckliches passiert, in der Tat passiert, es waren drei der blutigsten Verbrechen geschehen, die man sich denken konnte. Lächerlich: Womit wollte er mir danach noch drohen? Was also? Wie? Jawohl: Ich würde auf irgendeine Weise dort hinein vordringen, eindringen, mich umtun, und am Ende mit meiner Io wieder hinausgelangen - oder überhaupt nicht, einerlei wie. Und ich hatte überdies Raymond Manderlay ein Versprechen gezollt, das mir jetzt am Herzen nagte und mich in schauerliche Angst versetzte, aber ich wußte tief in meinem zornigen, immer noch fiebrigen Innern, daß ich gedachte, dieses Gelöbnis unverbrüchlich einzuhalten, oder sollte es mein Leben kosten. Der Tag würde kommen, da die Bestie mit dem Skapell von meiner Hand fallen würde, oder Gott hatte diese Welt nicht in sieben Tagen erschaffen. Ein Milchgesicht mit weißen Handschuhen – wie lächerlich auch dies! Ich brütete auf meinem Lager und besaß immerhin so viel Vernunft, mich zu beschränken und mir zu sagen, daß diese großen Pläne nichts waren für die allernächste Zeit. Ich mußte mit Kleinerem, Vorsichtigerem, Unbedeutenderem anfangen, auch wenn es mich maßlos hart ankam, meine gerechte Ungeduld zu zügeln. Aber sei es drum, der weiteste Weg begann mit einem Schritt – so sagen ja wohl die Chinesen. Denn ich war bezüglich des Vorgehens in einem Detail zu vorbehaltlicher Klarheit gekommen, immerhin, wenngleich der Begriff Klarheit dem Leser vielleicht auch gänzlich übertrieben erscheinen mag. Ich hatte mir fürs erste die Frage gestellt und beantwortet, ob es besser sei, geduckt zu verharren und auf den nächsten Einschlag des Gewitters zu warten, oder ob es eher angeraten war, den Kontakt zu den verbliebenemn Geliebten des Zeus dennoch weiter zu suchen. Die Frage, ganz unverstellt, lautete: Brachte ich durch meine Bemühungen diese armen Geschöpfe in Gefahr oder half ich ihnen, indem - womöglich längerfristig - ein Übel aus der Welt geschafft ward? Nein, es war natürlich keine Klarheit, aber es war ein Entschluß aus der Notwendigkeit heraus geboren, daß man, wie ich mir sagte, mit ängstlichem Stillehalten wie die Maus vor der Schlange gegenüber solchen Teufeln in Menschengestalt gewißlich überhaupt nichts würde ausrichten können. Eine der Geliebten zumindest, nämlich meine Io, befand sich, das war ausgemacht, seit Tagen in tödlichster Gefahr, und zwar ganz gleich, ob ich jetzt noch etwas untnahm - oder es auch unterließ. Und drei der armen Frauen, wer wollte das bestreiten, hatten sich in fürchterlicher Gefahr befunden und sie waren ihr auf grauenvolle Art erlegen. Die Frage mithin, ob neben Io die drei Verbliebenen sich eventuell in Gefahr befänden oder nicht, war im Grunde akademisch - desungeachtet im übrigen, welche haarfeine Rabulistik man anstellen wollte, daß nur ich es schließlich gewesen sei, der die Gefahr überhaupt heraufbeschworen. Nein, ich war in dem Punkte zu der glücklichen Überzeugung gelangt, daß womöglich sogar eine unziemliche Hybris darin liegen mochte, solcherlei zu vermuten – meine Person konnte es beim besten Willen nicht gewesen sein, die derart am Anfange aller Dinge stand – dessen war ich unterdessen sicher. 212 Hybris oder Bequemlichkeit? Zuweilen wird sehr deutlich, aus was für unbeständiger Materie der menschliche Geist gemacht ist. Ich wollte nicht am Tode dieser drei unschuldigen Frauen schuld sein, so erschreckend einfach war wohl die Wahrheit. Deshalb lag ich in meiner düsteren Dachklause und bog meine Gedanken so lange in die rechte Form, bis ich den Beweis meiner Unschuld erbracht hatte, einen Beweis, den ich allerdings benötigte, weil ich mich sonst bis ans Ende aller meiner irdischen Tage überhaupt nicht mehr würde bewegt oder handeln haben können. ..... Am fünften Tage nach dem Beginn des Fiebers aß ich ein Butterbrot, das Mrs. Hamlet mir bereitet, und begab mich auf einen kleinen Ausflug. Es war dies der 5. November, ein Mittwoch, und in einem überraschenden Wechsel war dies ein Vormittag mit einer kühlen, klaren, winterlichen Sonne, die die Farben sehr rein und schön erstrahlen ließ und die, als wir auf die Felder hinter Holborn kamen, einen weiten Blick bot. Ich hatte mir abermals den Luxus einer Mietdroschke geleistet - nun, offen gesagt, Luxus vielleicht weniger als vielmehr dringende Notwendigkeit, denn eine längere Fußwanderung mochte ich meinem noch recht unbeständigen Leib vernünftigerweise nicht zumuten. Ich ließ den Wagen am North Canal anhalten, stieg aus, entlohnte den Kutscher und sagte ihm, daß ich für den Rückweg eine andere Möglichkeit finden würde. Ich wollte an meinem Ziele nicht mit der Kutsche auftauchen, sondern mich unauffälliger und zu Fuße nähern. Als das Gefährt fort und sein Geräusch verklungen war, lehnte ich in der Stille unter den kahlen Bäumen am Geländer und blickte in die spiegelnden Schemen und Sonnenreflexe, die das Wasser mir heraufwarf. Mein Kopf war wie leer. Da war ich also, halbwegs genesen, und plante meine weiteren Schritte. Immer noch recht schwach in den Gliedern, eingehüllt in Mantel und Schal, trug ich inzwischen wieder meine eigenen Kleider, wenn auch den Stock des verblichenen Mr. Hamlet und hoffte so, bei allem, was ich fürders vorhatte, eine einigermaßen unauffällige Figur zu machen. Wie im einzelnen ich vorzugehen hatte, das wußte ich im übrigen überhaupt noch nicht, denn allzu viel hing von Faktoren ab, die meines Erachtens nicht vorher planbar waren. Die Sonne, wiewohl klar und hell, war zu winterlich, um mich wirklich zu wärmen, und so löste ich mich denn nach einer Viertelstunde der trägen Betrachtung von dem Kanalgeländer und schritt im Tempo eines Müßiggängers gemächlich zur New North Road hinüber. Die Straßen waren leer, niemand begegnete mir auf meinem Wege, es hätte beinahe Sonntag sein können. Umso mehr ich mich meinem Ziele näherte, desto mehr verlangsamte ich meinen Schritt. Was würde ich vorfinden? Nichts? Ein geräumtes, ein leeres Haus? Unheimlich hallende leere Flure und Treppen? Tuschelnde Nachbarn? Ein verweintes Dienstmädchen? Eine Nachricht von einem Mord vor zwei oder drei Tagen? Oder – ich fühlte, wie ob des überstandenen Fiebers unnatürlich schnell und hart mein Herz in der Brust schlug – oder würde ich doch eine Lebende finden, ein menschliches Wesen, das 213 man noch warnen konnte? Wenn letzteres der Fall war, und ich betete, dass es so sein möge, wie würde sich unser Gespräch entwickeln? Wovor würde ich sie tunlichst warnen wollen oder können? Niemandem, keiner Gruppe von Menschen, keinem jungen Mann mit falscher Brille, keinem Hasenschartigen die Tür zu öffnen? Vielleicht nicht einmal ihrem Bekannten und Feind Sir Enid Luciter? Mein Gottt, was tat ich eigentlich hier? Was vermaß ich mich zu erreichen - in welcher Weise überschätzte ich schon wieder meine Bedeutung? Nun, immerhin würde ich sie wiedersehen, zum zweiten Male sehen, und das war mehr, als mir bei manch einer der anderen gelungen war ... Ich würde ihr immerhin erzählen können, was ich inzwischen erlebt und erfahren hatte, ich würde all das Entsetzliche in der Folge des Gemäldes offenbaren können, ich würde ihr von den toten Frauen berichten. Und vielleicht ganz am Rande meines Bewußtseins hoffte und dachte ich dies, es war zweifellos sehr wenig Uneigennützigkeit dabei – vielleicht, dachte ich, würde sie sich bedanken, würde für mich ein wenig den Schleier heben und sich doch noch mit einem oder zwei Winken hinsichtlich meiner Io revanchieren. Io, die in Gefahr war, und die niemand rettete, wenn ich es nicht tat. Das Haus kam in Sicht, und im Grunde wußte ich in der nämlichen Sekunde, daß alles anders kommen würde als in meinen vermutlich noch fieberbehafteten Überlegungen, wie ich sie Dir, teurer Leser, soeben ausgebreitet habe. Denn so ist das mit Plänen und mit eitlen Gedanken, die man sich vorher macht. Man zermartert sich den Kopf, zergrübelt sich die Stirn, ist äußerst klug, und dann trumpft das Schicksal leicht auf und sagt einfach: Nein, mein Lieber, so nicht. Denn vor dem Haus stand eine Kutsche. Irgendetwas läutete in mir oder hätte jedenfalls läuten müssen, als ich die Kutsche sah, aber ich halte es erneut meinem knapp überstandenen Fieber zugute, daß mein Kopf nicht so funktionierte, wie er es – vielleicht – bei besserer Gelegenheit getan hätte. So verzögerte ich lediglich um ein weiteres meinen Schritt, und wenn meine Annäherung für einen unbeteiligten Betrachter nun endgültig den Eindruck eines verträumten Spazierganges in den Tag hinein gemacht haben mag, so schossen meine Gedanken doch in meinem Kopfe umher, indem ich mich mit der veränderten Sachlage abzufinden trachtete. Eine Kutsche. Nun ja. Gut daran war, daß Fiona de Cato ganz offensichtlich noch lebte. Wäre sie ermordet gewesen, dann hätten mehrere, ja, eine Menge, in der Tat, viele Kutschen vor dem Haus gestanden, dann hätte man die Anwesenheit von Leuten des Schlages von Wayne Leonard Kirby oder Noah Whelmsleys gespürt, dann hätten sich Zeugen dort herumgetrieben – nein, eine Kutsche bedeutete: Hier war nichts Aufregendes geschehen, Gott sei Dank, wenngleich … Andererseits zeigte die Kutsche mir, daß gerade jetzt eben jemand bei Fiona de Cato war und somit ein Gespräch meinerseits mit ihr nicht würde statthaben können. Und nachdem ich diesen eher selbstischen Gedanken getan, wurde mir siedendheiß bewußt, daß eine Kutsche auch heißen konnte, daß gerade in dem Moment ein junger Mann mit falscher Brille bei Fiona de Cato einsprach, und daß er soeben sein Skalpell aus dem Mantel zog zur gefälligen Verwendung. Mir stockte der Atem. Auf dem Bock saß eingemummt ein Kutscher. Ich dachte an den Kutscher in der grauenvollen Geschichte, die der schielende Bote, Cavendish, uns nachts im „Ye olde Bell“ aufgetischt hatte. Was ging hier vor? Ich versuchte, den Mann auf dem Bock zu mustern, doch ich sah ihn nur aus einiger Entfernung und zudem recht von hinten, ich erkannte nicht allzu viel. Immerhin sah ich etwas von seinem Haar und bildete mir ein, daß dies nicht der Kopf von Dr. Gideon Copeland sein konnte. Was sollte ich jetzt tun? Was würde sein? Ich machte die waghalsigsten Überlegungen, während ich langsamen Schrittes näherund näherkam, ob und wie ich jetzt an diesem Kutscher vorbei und ungesehen ins Haus ge214 langen konnte. Und ich fragte mich, was ich darinnen vorfinden würde, ob ich noch rechtzeitig kam oder ob sie schon entseelt und geschächtet unter den Palmen und Orchideen ihres Wintergartens lag, ob es am Ende auf einen schrecklichen, blutigen Kampf hinauslaufen würde, den ich mit einem plötzlich auftauchenden dunklen Schatten würde ausfechten müsssen, ich unbewaffnet, während in seiner Hand ein mörderisches Skalpell funkelte und blitzte. Und ehe ich noch solcherlei trübe Gedanken zuende gedacht, verhöhnte mich das Schicksal ein weiteres Mal und machte alles, was ich zuvor gedacht, mit einem einzigen Streich zunichte. Denn es öffnete sich die Haustür, der mir bekannte Diener trat vor, und dann erschien sie, die Dame des Hauses, Fiona de Cato, kostbar zum Ausgehen gekleidet, einer zweiten Sonne gleich, mit etlichem Geschmeide an den perlgrauen Handschuhen und auf dem malvenfarbenen Tuch am Hals. In ihrer Begleitung ging ein junger Mann, der sie aufmerksam hofierte, jawohl, ein junger Mann, aber ohne Brille und mit schwarzen, nicht mit weißen Handschuhen, und auch er in einem erlesenen Geschmack gekleidet. Irgendein Scherzwort flog gerade zwischen ihnen hin und her, das ich nicht verstand, aber ich hörte Fiona de Catos glockenklares Lachen. Der Kutscher stieg von seinem Bock herab, während das junge Paar beschwingt den Vorgarten durchschritt und öffnete den Schlag am Wagen, ich sah, wie zwei Stufen automatisch herunterklappten, während am Haus der Diener wieder verschwand und die Türe leise hinter sich schloß. Der junge Mann half Fiona de Cato galant in den Wagen, danach kletterte er selbst hinterher, der Kutscher schlug den Schlag hinter ihnen zu und enterte wieder auf, ich hörte sein Signal, und die Kutsche fuhr mit mahlenden Rädern auf der Straße an und entfernte sich gemächlich von mir Richtung Norden, Richtung Hampstead Heath, nicht Richtung Themse oder Westminster. Ich war, als der Diener erschienen war, wie erstarrt stehengeblieben, denn ich wollte nicht gesehen werden, und, obschon ich dort mitten auf der sonnigen Straße stand, hatten sie mich wohl in der Tat nicht gesehen, zu sehr waren sie mit sich selbst beschäftigt gewesen. Dann, als die Kutsche davongerollt und um eine entfernte Biegung meinen Augen entschwunden war, stand ich immer noch reglos an der gleichen Stelle, und fand mich wie vom Donner gerührt. Das Schicksal machte sich einen vertrackten Spaß mit mir, ganz zweifellos. Um Dir, werter Leser, meine Fassungslosigkeit, auch meinen Schrecken, ungefähr vermitteln zu können, mußt Du mir gestatten, daß ich kurz rekapituliere. Ich war seinerzeit hier erstmals aufgetaucht mit den übelsten Geschichten im Kopf, die man mir von Fiona de Cato erzählt, daß sie Spaß an den erzwungenen Orgien dort im fernen Cornwall gefunden hatte, daß sie ständig ihren Mann hintergehe, daß ein junger, aufstrebender Anwalt dabei im Spiele sei, und sie hatte mich betört und becirct, so daß ich am Ende der Zusammenkunft ihre Hände hatte küssen und mich entschuldigen wollen für meine schwarzen Gedanken. Von ihr, nebenbei, und niemandem sonst stammten die einzigen, die greulichen Kuriosa, die ich über meine Io kannte, das unaussprechlich Geschehene im Schweinekoben, „die kleine Wilde“, Dinge, die mich vorübergehend dazu genötigt hatten, gar eine Geisteskrankheit bei ihr nicht mehr auszuschließen. Fiona de Cato hatte es alles darauf angelegt, daß ich die Suche nach dem Zauberwesen abbrach, „weil sie ja doch tot sei“ – und hatte sich auf weitere Erklärungen nicht eingelassen und stattdessen rätselvoll geschwiegen. Die arme, unverstandene, kinderlose Frau, die bejammernswert an der Seite eines Mannes ohne Zärtlichkeit und Spielers litt. Die ihre pekuniären Probleme einem namhaften Londoner Anwaltsbüro übergeben hatte. 215 Oh je, und ich Tropf hatte dies alles aufgesogen und hatte es für bare Münze gehalten und in mich gesaugt, als sei es Manna. Oh, ich Tölpel, ich Tor! Fiona de Cato, die zugegebenermaßen eine gute Bekannte von Sir Enid Luciter war ... Nun denn, es war offenbar. Das eine war ein Gespinst aus herzbewegenden Lügen, das andere die lautere Wahrheit. Dies: die Erzählungen, die ich über sie gehört. Dies, grotesk, war die Frau, die ich gekommen war, vor dem Mörder zu warnen, während sie doch in Wahrheit wahrscheinlich inmitten des Zentrums des Bösen lebte. Das, was mich in Schrecken und eiskalter Erstarrung und wohl auch in Trauer dort inmitten des Sonnenlichts verharren ließ, längst, als das Mahlen der Kutsche schon verhallt war, lag indessen nicht in der Person Fiona de Catos. Es war vielmehr der junge, in der Tat sehr erfolgreich aufstrebende, frohgelaunte Anwalt an ihrer Seite gewesen, der mir einen Schock versetzt, wie man ihn gar selten erhält. Er war es in der Tat gewesen, von dem ich immer geglaubt hatte, ihn als meinen besten Freund mir bezeichnen zu dürfen: Der Mann an der Seite dieser Frau war Sebastian Frideric-Horne gewesen. ..... Mrs. Hamlet erschrak fürchterlich, als sie mich zurückkommen sah, ich sei weiß im Gesicht wie ein Laken - in letzter Zeit, erschien es mir, nahm sie sich in unzuträglichem Maße der Rolle an, meine selige Mutter zu ersetzen. Ich wehrte sie ab, gelangte auch alleine in meine Kammer, der Abend graute. Ich war entgegen meinen ursprünglichen Plänen den ganzen Weg zurück gelaufen, hatte nur da und dort am Wegrain und später am Straßenrand, an ein Geländer gelehnt, ausgeruht und im übrigen seit dem Butterbrot morgens nichts in den Magen bekommen. Mir war sterbenselend, gewiß, und einen weiteren Tag lang, den ich halb schlafend, halb unruhig im Bette verbrachte, setzte ich Mrs. Hamlet in Sorge, ich würde einen gefährlichen Rückfall meiner Krankheit erleiden. Mir war sterbenselend, aber das war weniger meiner körperlichen Befindlichkeit, der Schwäche und der mangelnden Nahrung geschuldet – ich verspürte keinen Hunger, ich hatte es im Grunde vergessen, etwas zu mir zu nehmen - als vielmehr nur der unbeschreiblichen Enttäuschung, dem Schmerz über den Verrat, den Treuebruch des Freundes. Den Tag, den ich, wie erwähnt, neuerlich im Bette zubrachte, in seinen wachen Phasen zumindest, zerquälte ich mir das Hirn, bis der Kopf mir schmerzte. Was war geschehen? Wie hatte es dazu kommen können? Was überhaupt bedeutete es, dies alles? Was waren die Konsequenzen - und ich ging im Geiste all die Punkte durch, die ich zu bedenken hatte. Viel hätte wahrlich nicht gefehlt, und ich hätte mir eine Liste geschrieben ähnlich der, in der ich über die sieben Geliebten des Zeus Buch führte. Sebastian Frideric-Horne, der Verräter meines warmen Herzens. Da war die Tatsache, daß ich ihn auf dem Fest bei Luciter getroffen. Nun gut, er hatte in der Kutsche eine gute Erklärung zur Hand gehabt, warum er da gewesen - es sei der alte Mr. 216 Sweet gewesen, der ihn hingeschickt. Aber streng betrachtet, warum sollte man ihm dies eigentlich glauben? Es konnte sein, es konnte nicht sein. Warum war er so unbeteiligt geblieben, hatte die Drohungen Luciters, von denen ich ihm empört erzählt, und das Erscheinen Dr. Gideon Copelands … ja, verlacht, nicht ernst genommen, verharmlost, in Abrede gestellt? Wollte man bösartig sein, konnte man unterstellen, daß Luciter mich bedroht hatte, mich künftig beobachten zu lassen – und dann hatte er, Luciter, als erstes folgerichtig „den Freund“ mit der Kutsche hinterhergeschickt, um mich in der nächtlichen Heide aufzulesen, zu „retten“. Nun gut, es hatte auch diesen anderen Beobachter, diesen Verfolger, Cavendish, gegeben. Und hatte ein aufstrebender junger Londoner Anwalt es wirklich nötig, Botendienste dieser Kategorie wie ein Cavendish zu absolvieren? Cavendish war mir zweifelsohne hinterhergeschickt worden, um mich auszuspionieren, aber das war Wochen später gewesen. Was war in der ersten Zeit nach dem Fest gewesen? War Seb da meiner Fährte gefolgt, nie fern von mir? Ich hatte ihn nach der nächtlichen Kutschfahrt hinein nach London nicht wiedergesehen. Ich lag rittlings auf dem Bett und starrte die Flecken an der Decke an, die gelegentlich dort eindringender Regen hinterlassen hatte. War es am Ende er gewesen, der mich aus den Schatten heraus beobachtet hatte, als ich mit Rosetta Manderlay im weißen Sand der nächtlichen Straße stand? Mich fröstelte, als ich daran dachte, wie sie meinte, jemanden haben „springen“ zu sehen. All die Geschichten von dem jungen Mann mit der falschen Brille und den weißen Handschuhen wirbelten mir wieder durch den Kopf – konnte es sein, daß Seb sich als jener verkleidet hatte, wiewohl es hieß, daß jener eher klein von Wuchs sei und Seb war gewiß nicht klein? Wie weit ging sein Betrug? Überhaupt, war es mir nicht schon damals als seltsam aufgefallen - kaum hatte ich ihm auf der nächtlichen Kutschfahrt von Io berichtet und den Wunsch blicken lassen, er möge mir auf der Suche nach ihr helfen - als, schon am nächsten Tag, die Nachricht von ihm kam, die mich auf die Spur von Rosetta Manderlay setzte - die man nun ermordet hatte. Damals das Auffinden Rosetta Manderlays: War mich nicht schon damals Verwunderung darüber angekommen, daß dies so unverzüglich hatte funktionieren können? Und überhaupt: Ich bat ihn und er „lieferte“ mir prompt die Wirtstochter. Warum hatte er nicht zum Beispiel Fiona de Cato „geliefert“, von der ja wohl kein Zweifel bestand, daß er sie bestens kannte – oder gar Io? Nun, dies war im Grunde einleuchtend: Natürlich hatte er die Komplizin und sich schützen müssen, Fiona de Cato, die, wie ich mit einem plötzlichen bösen Abgleiten meiner Gedanken feststellte, interessanterweise die einzige war, die das bisherige Geschehen wie auch meinen Besuch unbeschadet und bei bester Gesundheit überlebt. Im nächsten Augenblick tat mir die grauenvolle Idee leid, sie erschien mir freventlich, und ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit dafür in der Kirche um Vergebung zu bitten. Jedoch: die Liste bei mir im Kopfe, sie war noch nicht zu Ende. Seb, der gute, der allerbeste Seb. Da war er also „zufällig“ auf Sir Luciters anrüchiger Vernissage erschienen. Warum hatte er bei der Rede, als Gideon Copeland mich angestarrt hatte, nicht bei mir verharrt? Überhaupt, sein ständiges Auftauchen und Verschwinden an jenem Abend! Warum war er nie dagewesen, wenn ich ihn brauchte? Zum Beispiel, als mich Sir Enid Luciter im Zimmer mit den Ampeln seiner peinlichen Befragung unterzog? Und dann: Was war in ihm vorgegangen, als er Fiona de Cato als Demeter/Persephone auf der Leinwand erblickt hatte? Warum hatte er zu mir nichts darüber verlautet? Nun gut, derselbe Grund wie zuvor: Er mußte die Geliebte schützen. Er mochte überdies von dem Bilde gewußt haben, für ihn war es keine Überraschung. Was war – ich hatte diesen Gedanken vor einiger Zeit und aus gegebenem Anlaß erwogen gehabt - was war parallel dazu in Dr. Gideon Cope217 land vorgegangen, als der Asuncion Lozano, sein Kindermädchen, als Semele auf der Leinwand erblickt hatte? Zuerst er, jetzt Seb: Allmählich schürte sich bei mir der Verdacht, daß nahezu jeder der damals Anwesenden noch ganz anderes auf dem Bilde erblickt hatte, als ich mir in meiner Einfalt überhaupt hatte vorstellen können. Seb … Ich lag auf meinem Lager und trauerte um den Freund. Man kennt sich ein Leben lang, und plötzlich ist alles fortgewischt, das Gute, die Vertrautheit, die lange Zeit, und da bleibt nur noch Fremdheit und Kälte, ein fader Schemen, und man gesteht sich ein, daß man nichts über den anderen gewußt, gar nichts. Seb, Seb … im Kreise derer, die ich zu meiden hatte! Ein Heuchler, ein Anwalt des Unrechts, verschlagen, auf der falschen Seite, ein Mitwisser und teuflischer Assistent bei den Scheußlichkeiten, die bereits zum Tode dreier junger Frauen geführt hatten! Und in Kenntnis all dieser Schrecken, gepeitscht vom Horror der unerbittlich verrinnenden Zeit, schwach vor Liebe und Sehnsucht, rannte ich einem Trugbild namens Io hinterher ... Oh Gott, es mußte anderes geben in dieser unserer Existenz! Der Abend fiel, und in meiner Kammer wurde es dunkel. Ich überlegte, ob ich etwas essen wollte, aber ich verwarf den Gedanken, nochmals aufzustehen und Mrs. Hamlet um ein Brot zu bitten. So sah ich der Schwärze zu, wie sie vor meinem Fenster trübe sich niedersenkte, bis ich nichts mehr wahrnahm und in eine Finsternis starrte, wie jene sein muß im Tode. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schlief in jener Nacht, aber ich hatte tagsüber genug die Augen zugetan. Ich war nicht müde. Ich war nicht hungrig. Aber ich fühlte mich sehr allein. Das Herz klopfte mir in gräßlicher Furcht vor dem, was die Zukunft für mich bereithielt. Denn morgen würde der Kampf beginnen. 218