Axel Schwesig / Abschiedskonzert von Sir Roger Norrington am 21. / 22. 07.2011 in der Stuttgarter Liederhalle Lieber Sir Roger, meine sehr verehrten Damen und Herren, eines der bekanntesten Fotos von Sir Roger zeigt ihn im Arbeitszimmer seines Landgutes in der Grafschaft Berkshire in der Nähe von London. Man sieht einen Mann mit überkreuzten Beinen entspannt sitzend in einem Ohrensessel, den Blick konzentriert in eine Partitur gerichtet. Eine weitere Partitur liegt neben dem Sessel aufgeschlagen auf dem Dielenboden. Im Hintergrund erkennt man erst bei genauerem Hingucken einen Flügel. Die Atmosphäre des Raumes ist geprägt von Teppichen, Holz und alten Möbeln. Viel Licht kommt durch große Fenster und eine weit geöffnete Tür in den Garten verleiht dem Bild viel Luft. Und ganz wesentlich: Der Mann ist barfuß. Wir Musiker des RSO kennen diesen Raum, wir kennen auch den riesigen parkähnlichen Garten, in dem wir am kommenden Dienstag, einen Tag nach unserem Konzert in der Reihe der BBC Proms in London nun schon zum dritten Mal zu einer Garden-Lunch-Party eingeladen sind. Und wir kennen diesen barfüßigen Mann. Sich seiner Schuhe zu entledigen ist oft das erste, was er zu Beginn unserer Proben tut und was den Eindruck vermittelt: Dieser Mann ist von Kopf bis Fuß auf Musik eingestellt. Ihn beengen weder Schuhwerk noch andere Konventionen. Ebenso unkonventionell wie seine Kleidung ist auch seine Auffassung des Dirigenten. Sir Roger tritt nie als Magier des Taktstocks in Erscheinung, sondern vielmehr als Ideengeber, dessen Ideal es ist, dass sich das exakte Zusammenspiel der Musiker aus der Musik selbst heraus ergibt. Ich erinnere mich daran, wie vor Jahren während einer Tournee, auf der die dritte Sinfonie von Anton Bruckner auf dem Programm stand, am Ende einer Anspielprobe aus dem Orchester heraus der Wunsch geäußert wurde, noch mal den allerersten Anfang des Werkes im Hinblick auf rhythmische Genauigkeit zu proben. Sir Roger entsprach diesem gerne, ließ uns den Anfang dreimal spielen, dirigierte jedes Mal mit anderen Bewegungen und anderem Tempo und beendete sogleich die Probe mit der Bemerkung: „You never can be sure“. Wir können Sir Rogers Begeisterung für die Ideen der Komponisten und für seine eigene musikalische Interpretation spüren. Er ist fasziniert davon, Neues zu entdecken, und eine ganz besondere Freude bereitet es ihm, überkommene Konventionen über Bord zu werfen. Schelmisch ist oft diese Freude, doch auch weit tiefer gehend, geht es ihm doch darum, sich der Idee des Komponisten so unmittelbar wie möglich zu nähern. Axel Schwesig / Abschiedskonzert von Sir Roger Norrington am 21. / 22. 07.2011 in der Stuttgarter Liederhalle Es ist Sir Roger stets ein Anliegen, uns an diesem Annäherungsprozess teilhaben zu lassen und seine Entscheidung für ebendieses Tempo oder gerade jene Phrasierung zu begründen. Letztlich konnte er uns Musiker mit seiner Interpretation überzeugen, sodass wir ihm gerne auf diesem Weg gefolgt sind. Sehr oft betraten wir dabei gemeinsam Neuland auf uns vertrautem Terrain. Auf einmal waren Stimmen im sinfonischen Geflecht wahrnehmbar, die üblicherweise in zwar schönen, aber verschleiernden Klangwolken untergehen. Klarheit und somit Verständlichkeit zeichnen seinen Musizierstil aus. Das Sprechende in der Musik ist ihm stets äußerst wichtig. Hat das etwa auch damit zu tun, dass Sir Roger in Cambridge englische Literatur studierte? Vielleicht... Die Begeisterung für Sprache ist ihm jedenfalls stets anzumerken. Ganz spielerisch tauchen in seinen Proben zwischen den häufigen Ansagen wie beispielsweise "keine Arbeit", "nicht zu viel Kunst", "k.i.s.s." (keep it simple, stupid), Zitate von Hölderlin auf genauso wie Wortspiele mit deutschen Zungenbrechern oder etwa die musikalische Anweisung „no net huadla“. Dieser Witz, diese Heiterkeit, dieses entschiedene Verdrängen jeder Art von Langeweile verströmen ein Gefühl von Frische, Beweglichkeit und Freiheit, ein Gefühl wie im beschriebenen Raum mit der zum Garten weit geöffneten Tür. Manch einer im Publikum mag bezüglich Sir Rogers spontanen Drehbewegungen in Richtung Zuhörer verwundert sein. Wer ihn besser kennt, weiß jedoch, dass diese seinem tief verwurzelten Bedürfnis entspringen, seine Begeisterung mit anderen zu teilen und die Zuhörer am liebsten noch mit auf die Bühne zu setzen, um sie an der Musik unmittelbar teilhaben zu lassen. Sein Umgang mit uns Musikern ist sehr offen. Er respektiert uns als kompetente Partner und lässt sich stets auch von unseren Ideen und Wünschen anregen. Ich bin überzeugt, dass Sir Rogers Stil des menschlichen Umgangs sehr zu einer Demokratisierung unseres Orchesters beigetragen hat und die von vielen Gastmusikern und Gastdirigenten bezeugte offene und freundliche Atmosphäre in unserem Ensemble zu großem Teil auch sein Verdienst ist. Unlängst trafen wir uns, Sir Roger, unser Manager Felix Fischer und wir Orchestervorstände, nach einem Konzert zum Essen. Bald kam das Gespräch auf die Zukunft, die Zeit nach der Saison 2010/2011. Uns als wir über weitere gemeinsame Projekte redeten, da sprudelte es Axel Schwesig / Abschiedskonzert von Sir Roger Norrington am 21. / 22. 07.2011 in der Stuttgarter Liederhalle von allen Seiten nur so von Wünschen und Ideen, darunter übrigens auch etliche Programmideen gemeinsam mit den hochgeschätzten Mitgliedern des SWR Vokalensembles. Verraten wird davon hier jetzt nichts, nur so viel: Wir freuen uns sehr, auch in Zukunft mit Sir Roger künstlerisch verbunden zu bleiben. Als Zeichen unseres Respekts und unserer Dankbarkeit für Ihr Wirken in den vergangenen 13 Jahren als Chefdirigent des RSO Stuttgart des SWR und als Ausdruck der Vorfreude auf weitere gemeinsame musikalische Erlebnisse möchte ich als Vertreter des Orchesters Ihnen gemeinsam mit unserem Manager Felix Fischer den Titel Ehrendirigent des RSO Stuttgart des SWR verleihen.