SPEECH/00/371 Dr. Franz FISCHLER Mitglied der Europäischen Kommission zuständig Landwirtschaft,ländliche Entwicklung und Fischerei für Die gemeinsame Agrarpolitik und die WTO Agrarverhandlungen MINISTERTREFFEN DER CAIRNS-GRUPPE BANFF, ALBERTA, KANADA, 11. Oktober 2000 Herr Vorsitzender, meine Teilnahme an Ihrem heutigen Treffen ist eine neue Erfahrung für einen europäischen Kommissar für Landwirtschaft. Bin ich Daniel in der Löwengrube? Oder bin ich der Löwe in einer Grube Daniels? Wie dem auch sei, meine Hoffnung ist, dass ich und Sie wie Daniel heil aus der Grube herauskommen. Und ich habe noch größere Hoffnungen. Ich hoffe, dass dieses Treffen der Beginn eines konstruktiven Dialogs sein wird. Wir können natürlich unsere Zeit damit vertun, dass wir aufeinander eindreschen und uns mit politischen Erklärungen bei unseren Wählern profilieren. Eine Einigung können wir aber nur durch Zusammenarbeit und Erarbeitung gemeinsamer Standpunkte erreichen. Um diesen Prozess zu fördern, habe ich heute im wesentlichen zwei Standpunkte vorzutragen. Erstens: Bei unseren Verhandlungen in Genf über die Fortsetzung der Reform des Weltagrarhandels sollten wir stets im Auge behalten, dass der Prozess der äußeren Reform einhergehen muss mit der inneren Reform der Agrarpolitiken. Daher sollten die auf multilateraler Ebene vereinbarten Regeln ebenso wie die von Marrakesch die eingeschlagene schwierige Richtung der inneren Reform sowohl in den Entwicklungsländern wie in den Industrieländern weiter unterstützen. Zweitens wurde in Marrakesch anerkannt, dass es ein Fehler war, die Landwirtschaft weitgehend aus den Welthandelsregeln auszuzuklammern. Dies heißt aber nicht, dass wir nunmehr in den gegenteiligen Fehler verfallen sollten zu glauben, dass die einzig richtigen Regeln für die Landwirtschaft die für die Industrie geeigneten Regeln sind. Zu meinem ersten Standpunkt über die innere Reform möchte ich darauf hinweisen, wie sehr die Gemeinschaft im letzten Jahrzehnt ihre Agrarpolitik geändert hat. Manchmal, wenn ich Kritik über unsere Politik höre, habe ich den Eindruck, dass unsere Kritiker glauben, es habe sich nichts verändert. Aber es hat sich was verändert. Seit 1992 gab es eine grundlegende Richtungsänderung, d.h. weg von der Preisstützung und hin zu der wesentlich weniger handelsverzerrenden Einkommensstützung in Verbindung mit Produktionsbeschränkungen. Diese Richtungsänderung war bei den Kulturpflanzen besonders erfolgreich, bei denen die Preise in den letzten acht Jahren um über 45 % zurückgeführt wurden. Ein teilweiser Ausgleich wurde in Form von Hektarbeihilfen gewährt, die vom derzeitigen Ertrag völlig unabhängig sind. Ähnliche Änderungen gab es im Rindfleischsektor. Darüber hinaus wurden der Tabaksektor und der Schaffleischsektor und in geringerem Maße der Milchsektor reformiert. Das Ergebnis ist, dass die Produktionsentscheidungen der Landwirte in den reformierten Sektoren nunmehr stärker durch die Marktpreise, die sich den Weltmarktpreisen sehr viel stärker angenähert haben, bestimmt werden, als durch die Stützung, die sie erhalten, und die mit dem Ertrag nicht ansteigt. Eine Folge dieser Richtungsänderung ist, dass die Marktstützung insgesamt (einschließlich der Ausfuhrsubventionen) schrittweise von 91 % der Gesamtstützung im Jahre 1992 auf 21 % im Jahre 2006 sinken wird; die Ausfuhrerstattungen belaufen sich heute lediglich auf 9% der GAP-Ausgaben gegenüber 25 % im Jahre 1992. In diesem Zusammenhang freut uns die Feststellung der OECD, dass unsere 1999 im Rahmen der Agenda 2000 beschlossenen Reformen durch die weitere Verlagerung von der traditionellen Preisstützung auf Flächenprämien und Tierprämien und das Bemühen um die Entwicklung einer umfassenderen Politik für den ländlichen Raum die GAP-Reformen von 1992 vertiefen und erweitern werden. 2 Obwohl die Reformen im Rahmen der Agenda 2000 bei den OECD-Indikatoren für 1999 noch nicht sichtbar sind, haben andere Studien der OECD gezeigt, dass unsere direkten Zahlungen wesentlich weniger handelsverzerrend sind als unsere frühere Marktpreisstützung. Unsere Reform ist noch nicht abgeschlossen, aber wir haben uns schon recht weit in die richtige Richtung bewegt. Wir haben unsere Richtung gehalten - wozu sich unser großer Mitbewerber, die Vereinigten Staaten, nach der Reform von 1996 nicht imstande gesehen hat. Fortschreitende und in sich geschlossene Reformen sind sicherlich besser als ehrgeizige Pläne, die zusammenbrechen, sobald die Marktbedingungen - oder die politischen Bedingungen - schwierig werden. Nun zu meinem zweiten Standpunkt. Können wir für die Landwirtschaft dieselben Handelsregeln akzeptieren wie für die Industrie? Meine Antwortet lautet nein. Nein, weil die Landwirtschaft anders ist. Sie ist anders, weil die Agrarproduktion (ausgenommen einige wenige spezialisierte Sektoren) trotz aller Innovationen der jüngsten Jahre nicht in einem kontrollierten Umfeld stattfindet; sie findet nicht bei kontrollierter Geschwindigkeit statt; aber sie gestaltet unsere Landschaft, und was noch wichtiger ist, sie hat einen besonderen Platz in der menschlichen Vorstellungsund Gefühlswelt. So gering der Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtwirtschaft eines Landes oder seiner Arbeitskraft sein mag, sie bleibt ein besonderer Teil der jeweiligen nationalen Identität. Dies ist, wie ich glaube, eine universale humane Sicht der Dinge, auf Grund der Rolle, die die Landwirtschaft in der menschlichen Entwicklung gespielt hat. Natürlich wird es durchaus nicht von jedem akzeptiert, dass zwischen dem und den Regeln, die für den Welthandel gelten sollten, ein Zusammenhang besteht. Wenn aber die WTO-Mitglieder, insbesondere Sie, die Mitglider der Cairns-Gruppe, mehr Freiheit für den Handel forden, so tun Sie dies in der Erwartung, dass damit Ihre Agrarindustrien gestärkt und nicht geschwächt oder bedroht werden. So sehen Sie keinen Konflikt zwischen Ihrer Verpflichtung für den freien Handel und Ihrer Verpflichtung für die Landwirtschaft. Wir sehen einen solchen Konflikt, da wir das Konzept der öffentlichen Güter entwickelt haben; hierzu gehören unter anderem eine verbesserte Umwelt, die Biodiversität und ein wirtschaftsstarker ländlicher Raum. Dafür steht die europäische Landwirtschaft oder zumindest trägt sie zur Sicherung dieser Güter bei. Dies erklärt unser Eintreten für handelsunabhängige Belange. Sie sollten jedoch wissen, dass wir, auch wenn wir diese Belange in den Verhandlungen ansprechen müssen, dies in einer Weise tun wollen, die auf keinen Fall die Handelsbarrieren verschärfen, sondern vielmehr die Verlagerung von der Marktstützung auf weniger handelsverzerrende Maßnahmen erleichtern soll. Die Notwendigkeit, handelsunabhängige Belange zu berücksichtigen, ist selbstverständlich nicht nur ein Bestreben der Gemeinschaft. Alle Parteien waren sich bei der Verabschiedung von Artikel 20 des Übereinkommens über die Landwirtschaft in dieser Frage einig. Ein anderer wichtiger Bestandteil von Artikel 20 ist die besondere und differenzierte Behandlung der Entwicklungsländer. Es ist eine Tatsache, dass bei der Liberalisierung des Handels den Interessen der schwächeren Wirtschaften und unseres Erachtens insbesondere denen der am wenigsten entwickelten Länder Rechnung getragen werden muss. Wir glauben, dass bei der allgemeinen Liberalisierung, die den Wettbewerb erheblich verstärken wird, den am wenigsten entwickelten Ländern besonders Rechnung zu tragen ist. 3 Aus diesem Grunde hat die Kommission soeben eine völlige Liberalisierung der Einfuhren aus den am wenigsten entwickelten Ländern, insbesondere für bislang geschützte Erzeugnisse, vorgeschlagen. Wir hoffen, dass andere Industrieländer und auch die stärkeren Entwicklungsländer dieser Initiative folgen werden. Weder handelsunabhängige Bedenken noch die Notwendigkeit, den am wenigsten entwickelten Ländern besondere Behandlung einzuräumen, sollen von dem Prozess der Aushandlung einer weiteren Liberalisierung ablenken. Meine Botschaft dazu ist, dass wir nunmehr in echte Verhandlungen treten. Und zu Beginn der Verhandlungen können alle Teilnehmer aus ihrer Sicht lautstark optimale strategische Positionen beziehen. Aber die Verhandlungen können nur zum Erfolg führen, wenn alle Teilnehmer darüber nachzudenken beginnen, wie ihre wichtigsten Belange mit den wichtigsten Belangen der anderen in Einklang gebracht werden können. Die Gemeinschaft hat diese Notwendigkeit bereits anerkannt. In allen Schlüsselbereichen der Verhandlungen haben wir vermieden, dogmatische Positionen einzunehmen. So sagen wir nicht "nein" zu mehr Liberalisierung, wir sagen "ja", vorausgesetzt, dass alle Länder, einschließlich der Entwicklungsländer und auch einschließlich der Gemeinschaft, insbesondere durch eine faire Anerkennung unserer Investitionen in besondere, häufig regionale Produkte die Möglichkeit haben, daraus Nutzen zu ziehen. Wir sagen nicht "nein" zu weiteren Kürzungen interner Stützungszahlungen, wir sagen "ja", vorausgesetzt, dass wir die Beihilfen aufrechterhalten können, die zur Weiterführung unseres Reformprozesses notwendig sind und unserer Landwirtschaft die Möglichkeit geben, neben der Nahrungsmittelerzeugung weiteren Forderungen unserer Gesellschaft nachzukommen. Dies ist, wie ich vorher erwähnte, das von der OECD anerkannte Vorgehen, da es weniger handelsverzerrend als die Preisstützung ist und dem wir uns weiter verpflichtet haben. Wir sagen nicht "nein" zu weiteren Kürzungen der Ausfuhrsubventionen. Wir sagen "ja", vorausgesetzt, dass in Zukunft bei anderen Wettbewerbsverzerrungen im Außenhandel eine entsprechende Disziplin gilt. Was wir nicht akzeptieren können ist, dass Ausfuhrsubventionen das einzige Messobjekt für eine weitere Disziplin ist, während für Ausfuhrkredite weiter keine Disziplin gilt, während Staatshandels- oder monopolistisch ausgerichtete Länder einen Markt zur Unterstützung eines anderen nutzen können, während die Nahrungsmittelhilfe nicht zur Erleichterung von Leid (ein Ziel, das wir natürlich teilen), sondern zur Erschließung von Märkten und Verdrängung von Mitbewerbern genutzt wird. Sie in der Cairns-Gruppe glauben offenbar immer noch, dass weitere Kürzungen der Exportsubventionen nicht an Regeln und Disziplinen gebunden sein sollten, die dazu bestimmt sind, sonstige Formen der Verzerrung auf Weltexportmärkten zu begrenzen: Wir bleiben nicht nur bei unserem Standpunkt, sondern sind vielmehr der Auffassung, dass Ihr Standpunkt in gewisser Weise Ihrem Hauptziel, nämlich der Verringerung der Verzerrung des Welthandels, widerspricht. Herr Vorsitzender, wir haben eine flexible Haltung eingenommen, weil wir die Forderung von Artikel 20 im Hinblick auf eine fortschreitende Reform ernst nehmen. Glauben Sie aber nicht, dass diese Haltung in Europa politisch populär ist oder dass sie uns leicht gefallen sei. Wir haben sie in der Erwartung eingenommen, dass sich auch andere flexibel zeigen werden. Wenn unsere Flexibilität auf Maximalforderungen stößt, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als unsererseits Maximalpositionen einzunehmen und die Verhandlungen werden scheitern. Damit wäre es niemandem gedient. 4