Interpretation zu längeren literarischen Texten (Bahnwärter Thiel); BRP Deutsch; SS 2014 „Bahnwärter Thiel“ ist eine naturalistische Novelle von Gerhart Hauptmann. Sie handelt gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In meiner Interpretation diskutiere ich die Frage, was die Persönlichkeit des Protagonisten Thiel kennzeichnete. Dabei orientiere ich mich am Persönlichkeitsmodell der Psychoanalyse. In „Bahnwärter Thiel“ geht es um psychische Krisen und familiäre Gewalt. Thiels Frau Minna stirbt bei der Geburt des gemeinsamen Sohnes Tobias. Thiel verspricht Minna, für das Kind gut zu sorgen. Kurze Zeit später heiratet Thiel die derbe Kuhmagd Lene. Einige Zeit später bekommt auch Lene ein Kind. Thiel zieht sich immer mehr in das Bahnwärter-Häuschen zurück, wo er eine Gedenkstätte für Minna errichtet hat. Er ignoriert die Anzeichen, dass Lene Tobias misshandelt. Eines Tages kommt Lene mit den Kindern mit zum Bahnwärterhäuschen, wo sie einen Kartoffel-Acker bestellen will. Tobias kommt unter einen Zug und stirbt kurze Zeit später. Thiel tötet in der darauf folgenden Nacht in einem Wahnanfall Lene und das zweite Kind. Von seiner Grundpersönlichkeit her ist Thiel ein introvertierter, eher rigider, sehr pflichtbewusster Mensch. Thiel lebt schon lange Zeit in Schön-Schornstein, einem Dorf in der Nähe von Berlin. Regelmäßig besucht er jeden Sonntag den Gottesdienst in Neu-Zittau. Auffallend ist, dass Thiel mit keinem der Dorfbewohner regelmäßig persönlichen Kontakt hat. Am Dorfleben nimmt er – von den Kirchgängen abgesehen – nicht teil. Nach dem Tod seiner ersten Frau Minna spricht er offenbar mit niemandem über seine Lebenssituation. Auch nachdem Thiel seine zweite Frau Lene geheiratet hat, bleibt das Paar im Dorf ohne Kontakt zu anderen. Die Psychoanalyse unterteilt die Persönlichkeit in drei Instanzen. Das Über-Ich ist die Instanz, die man als Gewissen beschreiben könnte. Sie enthält die Regeln und Normen, die ein Mensch verinnerlicht hat. Dem Über-Ich ist das Es gegenübergestellt. Es enthält alle Emotionen und Triebe, die einen Menschen „antreiben“. Das Ich ist die dritte psychische Instanz. Sie muss versuchen, zwischen Es und Über-Ich zu vermitteln. Dafür benutzt das Ich so genannte Abwehrstrategien. Wenn das Ich mit dieser Aufgabe überfordert ist, bricht es zusammen. Es kommt zu einer psychischen Erkrankung, im Extremfall zur Psychose. Thiel erscheint geradezu als „Musterbeispiel“ für eine Person, die durch die Konflikte, in die sie verstrickt ist, überfordert wird. Nach außen hin wirkt Thiel psychisch stark. Er zeigt auch nach Minnas Tod keine Emotionen. Er geht seiner Arbeit pflichtbewusst nach und legt Wert auf ein korrektes äußeres Erscheinungsbild. Thiel ist also eine äußerst gewissenhafte und pflichtbewusste Person. Psychoanalytiker würden in diesem Zusammenhang von einer Persönlichkeit mit einem sehr strengen Über-Ich (Gewissen) sprechen. Seinen Beruf sehr gewissenhaft auszuüben, ist für Thiel sehr wichtig. Genau aus diesem Grund bemüht sich Thiel auch, für Tobias bestmöglich zu sorgen. Denn das hat er seiner verstorbenen Frau Minna am Sterbebett versprochen. Und weil er selbst berufliche Verpflichtungen und die Sorge um Tobias nicht gleichzeitig bewältigen kann, heiratet er kurz nach dem Tod Minnas seine zweite Frau Lene. Im Hinblick auf seine ES-Anteile (Triebe, Gefühle) ist zunächst einmal auffällig, dass Thiel nur schwer Zugang zu seinen Gefühlen findet. Er ist ein Mensch, der gelernt hat, Gefühle (Trauer, Angst, Aggression) zu verdrängen und zu unterdrücken. In der Ehe mit Lene entwickelt Thiel aber eine sexuelle Abhängigkeit. Dadurch gerät er in einen tiefen Konflikt. Die sexuelle Leidenschaft, die ihn an Lene bindet, ist gleichzeitig ein Verrat an seiner Liebe zu Minna, deren Tod er nie verkraftet hat. Thiel versucht diesen Konflikt zu lösen, indem er sexuelle Leidenschaft und emotionale Bindung aufspaltet. Die emotionale Liebe ist für Minna und Tobias „reserviert“. Die sexuelle Begierde ist auf Lene gerichtet. Beide „Welten“ hält Thiel strengstens auseinander. Interpretation zu längeren literarischen Texten (Bahnwärter Thiel); BRP Deutsch; SS 2014 Am wichtigsten für die Beschreibung der Persönlichkeit Thiels sind die Ich-Anteile. Das Ich ist im Modell der Psychoanalyse die Persönlichkeitsinstanz, die für einen Ausgleich zwischen oft widersprüchlichen Über-Ich-Normen und emotionalen Es-Empfindungen sorgen muss. Und hier ist entscheidend, dass Thiel wichtige Fähigkeiten, mit diesen Spannungen „gesund“ umzugehen, fehlen. Zunächst einmal fehlt Thiel die Fähigkeit, diese Spannungen überhaupt zu erkennen und in Worte zu fassen. Aus diesem Grund ist er weder fähig, seine psychische Überforderung selbst zu erkennen. Noch kann er nach außen hin signalisieren, dass er eigentlich Unterstützung und Hilfe benötigen würde. Dann fehlt Thiel die Fähigkeit, aggressive Energien konstruktiv zu nutzen. So müsste er Tobias vor den Übergriffen Lenes in Schutz nehmen. Dass ihm Minna im Traum erscheint und ein „blutiges Bündel“ mit sich trägt, zeigt, dass Thiel unbewusst sehr wohl sein Versagen und seine Schuld ahnt. Aber Thiel ist unfähig, adäquat zu handeln. Er schaut weg und flüchtet in Kompensationshandlungen, indem er mit den Dorfkindern spielt oder für Tobias ein Sparbuch anlegt. Dass Tobias schwer verunglückt, erschüttert das fragile psychische Gleichgewicht, um das Thiel schon seit längerer Zeit kämpft. Während er auf Nachricht von seinem schwer verletzten Sohn wartet, erleidet er einen psychotischen Anfall. Aus psychoanalytischer Sichtweise brechen die IchFunktionen in diesem Moment zusammen. Thiel ist nicht mehr in der Lage, kritisch über sein eigenes Handeln nachzudenken und sein Verhalten zu kontrollieren. Er „kippt“ in den Wahn. Von Minna sieht er sich aufgefordert, Lene endlich „in die Schranken zu weisen“. In einem ersten Gewaltdurchbruch würgt er den Sohn aus zweiter Ehe. Offenbar tötet Thiel in der Nacht darauf Lene und das zweite Kind im subjektiven Wahn, Minna so zu besänftigen und sich von seiner Schuld „reinzuwaschen“. Dass Thiel sich am Morgen nach der Tat apathisch mit der Mütze des Tobias in der Hand festnehmen lässt, belegt, dass er die Tat in einer Art „Rauschzustand“ begeht und zum Tatzeitpunkt offenbar nicht in der Lage ist, die Tragweite seines Handelns zu erkennen. Am Beispiel des Bahnwärters Thiel können wir also lernen, dass Menschen in Krisensituationen auch dann überfordert sein können, wenn sie scheinbar „funktionieren“. Wir sollten auf solche Menschen zugehen und ihnen aktiv Hilfe anbieten. (900 Wörter)