Interpretation Bahnwärter Thiel (Muster; Schülerarbeit) Textbeispiele: Interpretation Thiel Themenstellung: Verfasse eine Interpretation zu G. Hauptmanns Novelle „Bahnwärter Thiel“, die sich in argumentativer Form mit folgenden Fragen auseinandersetzt: 1. Welche Persönlichkeitsmerkmale kennzeichnen den Bahnwärter Thiel? Welche Beziehungen prägen sein Leben? 2. Ist Thiel eine typisch-naturalistische Figur? Inwiefern? Inwiefern nicht? Ausarbeitung Im „Bahnwärter Thiel“, einer naturalistischen Novelle, stellt der Autor Gerhard Hauptmann detailliert dar, wie ein nach außen hin so normaler und ruhiger Mensch wie Thiel Schritt für Schritt die Kontrolle über sein Verhalten verliert und am Ende in einem psychopathischen Rausch seine Frau und sein Kind ermordet. Hauptmann konzentriert sich in diesem Werk hauptsächlich auf die Beschreibung von Thiels labiler Persönlichkeit und auf das soziale Umfeld, das eine Tragödie wie Thiels Amoklauf geradezu provoziert. Thiel wird als ein typischer Anti-Held dargestellt, der sich alles von seiner Frau gefallen lässt und der sich von Triebkräften und von äußeren Ereignissen so beeinflussen lässt, dass das labile Gleichgewicht seiner Psyche ins Wanken gerät. Thiel wird von seiner zweiten Frau Lene in einer Art beherrscht, dass es für ihn unmöglich ist, sich ihr zu widersetzen. Ihre sexuelle Dominanz und ihre körperliche Überlegenheit machen Thiel von ihr abhängig, denn „eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen fühlte“. (S 16) Diese absolute Hörigkeit kann Thiel nicht einmal überwinden, als er Zeuge der brutalen Misshandlungen seines Sohnes Tobias durch Lene wird. Im Gegenteil, er ist wie gelähmt von der Erregung, die Lenes enorme Körpermassen bei ihm hervorrufen, und so flüchtet er schließlich ohne Tobias zu helfen. Hier wird schon sehr schön sichtbar, dass Thiels Persönlichkeit naturalistisch angelegt ist, das der Naturalismus, beeinflusst durch den Darwinismus, den Menschen als „Weiterentwicklung“ des Tieres versteht. Somit wird der Mensch von Triebkräften gelenkt, genau wie Thiel beim Anblick seiner Frau. Eine andere Theorie des Naturalismus besagt auch, dass das soziale Umfeld prägend für die Entwicklung einer Persönlichkeit ist. In Thiels Fall verstärkt das kleinbürgerliche Milieu dessen Isolation und Unfähigkeit, tiefere Beziehungen, geschweige denn Freundschaften, aufzubauen. Thiel ist ein Außenseiter im Dorf, die Leute nehmen ihn zwar zur Kenntnis, doch kaum jemand interessiert sich für seine Probleme und versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Interpretation Bahnwärter Thiel (Muster; Schülerarbeit) Natürlich gibt es Gerede im Dorf, vor allem darüber, dass Thiel seiner Frau hörig ist, aber sonst fällt er nur auf, wenn er einmal nicht zum Sonntagsgottesdienst erscheint. Aber auch von Thiel selbst kommt kein Versuch, sich anderen mitzuteilen oder Freundschaften zu knüpfen. Er ist völlig isoliert, er ist weder fähig seine Gefühle zu zeigen, noch kann er darüber reden. Im allgemeinen scheint Thiel eine ziemlich „sprachlose“ Figur zu sein, was es ihm natürlich auch verunmöglicht, über sich und seine Situation rational und mit einer gewissen Distanz nachzudenken. Daher wird er auch so sehr von inneren Trieben in seinem Verhalten beeinflusst. Er kann nicht einmal seinem Sohn Tobias zeigen, wie sehr und innig er ihn liebt. Stattdessen versucht er seine Gefühle mit einem Sparbuch zu kompensieren, das er anlegt, um Tobias eine Zukunft zu sichern. Bei all den naturalistischen Zügen, die sich an der Figur Thiels erkennen lassen, wie zum Beispiel die Dominanz des Alltäglichen im Leben des Bahnwärters, zeigen sich doch auch Aspekte, die über rein naturalistisches Erzählen hinausgehen. Die Visionen von seiner verstorbenen Frau Minna und Thiels abgöttische Verehrung für sie sind schon fast romantisch. Thiel baut sich im weit abgeschiedenen Bahnwärterhäuschen eine richtige Gegenwelt zu seiner unbefriedigenden Realität auf. In dieser Welt hat Lene mit ihrer brutalen Wesensart nichts verloren, denn das Bahnwärterhäuschen ist für ihn „heiliges Land“, weil er sich dort mit Minna besonders innig verbunden fühlt. In dieser „Minna – Welt“ treten auch seine Visionen auf, in denen Minna Thiel an seine väterlichen Pflichten zu erinnern scheint (vgl. S 22). Diese „Minnawelt“ passt nicht in ein absolut naturalistisches Werk, da sie sich nicht rational erklären lässt und Thiels Gefühle und seine Phantasie anspricht. Deshalb wäre die Behauptung, dass die Novelle „Bahnwärter Thiel“ ein naturalistisches Werk sei, nicht hundertprozentig zutreffend. Gerade die beinahe romantischen Tendenzen, die sich in Thiels Visionen und in Hauptmanns Symbolik zeigen, machen dieses Werk einzigartig. (E. M., 7b-Klasse, 2000)