1 Naturalismus 1880-1900 1. Programm Möglichst getreue Wiedergabe der Natur, geprägt durch exakte Beschreibungen (vgl. AB) Naturwissenschaften als Grundlage Hang zum „Modernen“ (beschriebe in den Kritischen Waffengängen (Hart)) Abkehr von Konventionen Gesellschaftskritik, Aufruf zu Humanität und Toleranz, Interesse am Sozialismus, aber mehr aus Solidarität mit dem Proletariat und den verbotenen Parteien 2. Gesellschaftliche Bedingungen Industrialisierung Verstädterung: 60% der Deutschen leben 1910 in Städten Soziale Gegensätze Elend der Menschen Hunger Armut Schlechte Arbeitsbedingungen Entstehung einer Arbeiterklasse Gründung von Arbeitervereinen Auseinandersetzung der Literaten mit Milieu der unteren Schichten 3. Themen Großstadtleben Hunger Kinderelend Armut Not und Elend Prostitution Alkoholsucht Brutalität Ausbeutung der Arbeiter Unglückliche Ehe – Ehebruch – uneheliche Kinder Vererbung 4. Vertreter Schlossen sich in Berlin und München zu gesellschaftspolitischen und literarischen Gruppen zusammen Heinrich und Julius Hart 2 Arno Holz Johannes Schlaf Gerhart Hauptmann 5. Literarische Vorbilder Emile Zola: Le roman experimental (Mensch durch Vererbung, Rasse, soziales Milieu determiniert, kein freier Wille – Einfluss Darwins), Germinal Henrik Ibsen: Gespenster Leo Tolstoj: Anna Karenina, Krieg und Frieden Fjodor Dostojewskij: Raskolnikov oder Schuld und Sühne, Der Idiot 6. Literarische Formen Epik o o o o o Experimentell Prosa Geprägt durch Dialekt und Alltagssprache (Stammeln, Satzbrocken) Prosa durch szenische Darstellung und direkte Reden aufgelöst Fotografisch genaue Abbildung/ Sekundenstil/ Zeitdeckung Exakte Erfassung von Mienenspiel und feinsten Bewegungen Drama o Vorläufer: Ludwig Anzengruber o Ausführliche Regieanweisungen zu Personen und Handlungsort o Sprache entspricht dem dargestellten Milieu Lyrik o o o o o o Gedichte in der Tradition der Jungdeutschen Objektivität Exakte Beschreibung Dialekt Formregeln unwichtig Rhythmus wichtiger als Reim (Holz) 3 Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel 1. Herr Hauptmann, Sie sind der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur und blicken auf ein umfangreiches Werk zurück. Welcher Erfolg war für Ihre Entwicklung als Autor entscheidend? Ich war früher kaum bekannt und es war schwer für mich, mich zu etablieren, doch ich würde sagen, dass die Uraufführung meines ersten Dramas Vor Sonnenaufgang zu meinem Aufstieg als Autor am meisten beigetragen hat. Wie lebten Sie, als Sie 1887 die Novelle „Bahnwärter Thiel“ schreiben? Ich lebte eher zurückgezogen, da meine gesundheitlichen Probleme mir zu dieser Zeit sehr zu schaffen machten. Doch das ländliche Klima stärkte mich und hier fand ich so zu sagen meine eigene naturalistische Erzählweise. Wir wohnten in der Villa Lassen und zu dieser Zeit kamen meine drei Söhne zur Welt. Gibt es Erfahrungen aus Ihrem damaligen Leben in Erkner, die in die Novelle eingegangen sind? Ich habe mich dort gut eingelebt und erkundete bald die Umgebung. Ich interessierte mich sehr für die Menschen aus dieser Region. Mich interessierten ihre Sprache, der Dialekt und das Alltagsleben. Ich habe normale Lebenssituationen und Alltage von den Bewohnern in unzähligen Notizen festgehalten. Auch die ländliche Umgebung war mir wichtig. Die Natur spielte eine große Rolle für mich. Ich war damals von finanziell von meiner Frau abhängig, da ich erst später durch meine Werke Wohlstand erlangte. Hatten Sie zu dieser Zeit Kontakte zu anderen Literaten oder literarischen Gruppen? Ja, ich hatte das Glück dem Literatenverein „Durch“ beizutreten, in dem sich auch andere Berliner Naturalisten versammelten. Dort traf ich die Gebrüder Hart, Bruno Wille, Arno Holz, Johannes Schlaf und auch Frank Wedekind, Karl Henckell, Karl Blebtreu und Wilhelm Bölsche. Dieser Dichterverein hat mich sehr inspiriert und ich konnte mich dort mit Gleichgesinnten austauschen. Wie wurde „Bahnwärter Thiel“ aufgenommen? Ich wollte etwas Modernes schreiben und das Alltagsleben „einfacher“ Leute beschreiben. Ich wollte die Darstellung der Triebe, Abhängigkeit und des Irrsinns zeigen. „Bahnwärter 4 Thiel“ wurde damals nicht besonders gut aufgenommen. Die Leute waren noch nicht bereit, auch einmal das Hässliche zu sehen. Als Sie die Novelle verfassten, waren Sie 25 Jahre alt. Hatten Sie schon als Jugendlicher den Wunsch, Schriftsteller zu werden, oder hatten Sie andere Pläne? Als Jugendlicher hatte ich den Wunsch Landwirt zu werden und fing eine Landwirtschaftslehre auf dem Rittergut meines Onkels in Schlesien an, die ich aber aufgrund von einem Lungenschaden aufgeben musste. Ich fing dann ein Bildhauerstudium in Breslau und Jena an, arbeitete später als freier Bildhauer, doch ich merkte rasch, dass es auch nicht das richtige für mich war. Schließlich wandte ich mich der Dichtkunst zu und darin habe ich meine wahre Berufung gefunden. Hatten Sie literarische Vorbilder, an denen Sie sich orientiert haben? Jeder hat Vorbilder. Ich war sehr von Goethe angetan. Auch Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal schätzte ich sehr. Auch andere Naturalisten zu meiner Zeit inspirierten mich, wie zum Beispiel Leo Tolstoi, Arno Holz und Henrik Ibsen. In jungen Jahren beeindruckte mich auch der Friedrichshagener Dichterkreis und später auch Rilke. Von den schlesischen Dichtern war die Freundschaft mit Hermann Stehr am dauerhaftesten und auch er hat mich inspiriert. 2. In der Novelle „Bahnwärter Thiel“ von Gerhart Hauptmann geht es um die Lebensgeschichte eines pflichtbewussten, fleißigen Bahnwärters namens Thiel, der schon seit zehn Jahren bei Neu-Zittau die Schranken regelt. Vor fünf Jahren lernt er eine junge, dünne Frau namens Minna kennen, in die er sich verliebt und später heiratet. Doch Minna stirbt bei der Geburt ihres Sohnes Tobias. Thiel verspricht Minna sich gut um Tobias zu kümmern und gut für ihn zu sorgen. Der Tod von Minna nimmt Thiel sehr mit und er verkraftet den ihren Tod sogar bis zum Ende nicht. Schon nach einem Jahr heiratet Thiel erneut, um eine Ersatzmutter und eine Wirtschafterin für Tobias und ihn zu haben. Lene, die das genaue Gegenteil von Minna ist, übernimmt gleich die Rolle der Herrin im Haus. Sie unterdrückt Thiel regelrecht und dieser hat so große Angst vor ihr, dass er Streit und Konfrontationen mit ihr vermeidet. Wegen der Dominanz Lenes, flüchtet Thiel an seinen Arbeitsort, das Bahnwärterhäuschen beim Wald. Dort ist Thiel ganz alleine, weit weg von seiner tyrannischen Frau und flieht in eine Art Phantasiewelt zu seiner Frau Minna. Durch Scheingespräche und Anbetungen seiner verstorbenen Frau entzieht sich Thiel von der Außenwelt und kann für kurze Zeit seinen schrecklichen Alltag mit seiner zweiten Frau vergessen. Thiel verbringt viel Zeit mit seinem Sohn Tobias, zu dem er ein sehr inniges Verhältnis hat. Er ist nicht nur ein Vater, sondern auch ein guter Freund und ein Vorbild für ihn. Durch Tobias wird er nämlich auch an Minna erinnert und denkt an die schöne Zeit mit ihr zurück. Als Lene schwanger wird und auch einen Sohn bekommt, behandelt sie Tobias noch schlechter und sie misshandelt ihn sogar. Thiel bemerkt das auch, aber er hat einfach nicht den Mut sich gegen Lene aufzulehnen und ist dagegen machtlos. 5 Thiels Ackerpacht wird gekündigt und der Bahnmeister schenkt ihm aber ein kleines Stück Land in der Nähe des Wärterhäuschens, das Lene bearbeiten soll. Am nächsten Tag gehen sie gemeinsam hin und Tobias geht zu den Bahngleisen um zu spielen. Doch leider wird Tobias dabei von einem Zug verfasst und stirbt kurze Zeit später. Nach diesem Ereignis bricht die Welt Thiels völlig zusammen. Aus lauter Wut und Trauer beschließt er, Lene und ihren Sohn umzubringen, um den Tod seines Sohnes zu rächen. Am nächsten Morgen findet man Lene und das Baby tot und blutüberströmt in ihrem Haus. Den Bahnwärter Thiel finden sie auf den Gleisen sitzend, mit dem Pudelmützchen von Tobias in seinen Händen haltend. Er wird darauf mitgenommen und nach einem kurzen Aufenthalt in einem Untersuchungsgefängnis wird in eine Irrenabteilung überstellt. 3. Minna jung, zart, dünn, hohlwangig, feines Gesicht Lene dick, stark, grobes Gesicht, Kuhmagd harte, herrschsüchtige Gemütsart, Streitsucht, brutale Leidenschaftlichkeit, Macht, Dominanz Mutter von Tobias Beziehung Thiel / Minna Heirat aus Liebe wahre Liebe, Zuneigung, echte Gefühle „Ersatzmutter“ von Tobias, aber keine Beachtung, Misshandlung Beziehung Thiel / Lene Heirat nur wegen Liebe zu Tobias, „Zweckgemeinschaft“, damit es Tobias gut geht steht ihm näher obwohl sie tot ist schöne Erinnerungen an gemeinsames Zusammenleben materielle und sexuelle Abhängigkeit, Auslebung der rohen Triebe Wärterhäuschen Kapelle, Anbetung und Vergötterung Minnas empfindet Ekel; Flucht und Verdrängung aus der Realität schenkt ihr wenig Beachtung, hört nicht zu Gleichgültigkeit Visionen, sah die Tote leibhaftig vor sich, Erscheinungen, Wahnvorstellungen geschockt, wie sie Tobias behandelt, keine mütterlichen Gefühle ruft ihren Namen, aus lauter Verzweiflung und Einsamkeit Angst, Kraft, die er nicht bezwingen kann, fühlt sich ihr nicht gewachsen, ist ihr ausgeliefert 6 kündigt Minna seine Tat an gibt ihr die Schuld an Tobias Tod, Rache Tobias war die einzige reale Verbindung zu Minna, Erinnerungen werden wach erkennt Ausweglosigkeit und Unzufriedenheit kann Lene nicht verlassen, weil er ihr versprochen hat, dass er sich gut um Tobias kümmern wird blinde Wut, auch eine Art Befreiung: ermordet Lene und ihren Sohn 4. Am Anfang der Novelle wird Thiel als ein sehr pflichtbewusster Mann dargestellt, der seinen Beruf sehr ernst nimmt. Er ist selten krank „Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen;“ (Seite 3). Thiel führt ein normales, recht unspannendes Leben, das nur selten durch Abwechslungen geprägt ist. Eher selten passiert etwas Aufregendes. „Die Ereignisse, welche im übrigen den regelmäßigen Ablauf der Dienstzeit Thiels außer den beiden Unglücksfällen unterbrochen hatten, waren unschwer zu überblicken.“ (Seite 8) Auch Thiels Umwelt weist keine Abwechslungen auf, nur „Das Wetter und der Wechsel der Jahreszeiten brachten in ihrer periodischen Wiederkehr fast die einzige Abwechslung in diese Einöde.“ (Seite 7 & 8) Durch den Tod seiner ersten Frau Minna zeigt Thiel nach außen hin keine Veränderungen. „An dem Wärter hatte man, wie die Leute versicherten, kaum eine Veränderung wahrgenommen.“ (Seite 3) Doch innerlich und später auch äußerlich verändert sich Thiel immer mehr. Thiel zieht sich immer mehr in Gelassenheit und Gleichgültigkeit zurück. Er vermeidet jegliche Art von Konfrontation, sowohl seiner zweiten Frau und seiner Umwelt gegenüber. „Sie durchzuwalken aber war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der Mann.“; „Die Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem aufgewogen erhielt.“ (Seite 5) Doch immer mehr zieht sich Thiel in seiner Verzweiflung in eine Phantasiewelt zurück, in der er sich ungestört der Anbetung seiner verstorbenen Frau widmen kann. Er hat immer häufiger auftretende Träume, Erinnerungen und Visionen, die er nicht mehr von der Realität unterscheiden kann. (Die Vision auf Seite 23) Seine Wahrnehmung der Realität wird immer konfuser und verdrängt sogar die Misshandlung seines Sohnes. Er möchte seine tatsächliche Situation einfach nicht wahr haben. „Einen Augenblick drohte es ihn zu überwältigen (...) Es ließ nach, und dumpfe Mattigkeit blieb zurück.“ (Seite 14) Der Tod von Tobias, die einzige Reelle Verbindung zu seiner verstorbenen Frau Minna treibt Thiel endgültig in den Wahnsinn. (Seite 33 und 34) Er verliert die Beherrschung, dreht nun völlig durch und möchte Rache „Weibchen-ja-und da will ich sie ... und da will ich sie auch schlagen-braun und blau-auch schlagen-und da will ich mit dem Beil-siehst du?-Küchenbeil-mit dem Küchenbeil will ich sie schlagen, und da wird sie verrecken.“ (Seite 34) Thiel kann den Tod seines Sohnes nicht verkraften, am Ende der Novelle sitzt er auf den Gleisen, dort wo Tobias gestorben ist und „Er hielt das braune Pudelmützchen im Arm und liebkoste es ununterbrochen wie etwas, das Leben hat.“ (Seite 40) 7 Thiel hat jegliche Lebensfreude und Lebenswillen verloren. Sein furchtbares Schicksal bringt ihn schlussendlich ins Untersuchungsgefängnis und anschließen wird er in die Irrenabteilung überstellt. 5. Sprachliche Bilder/Vergleiche Beschreibungen Die […] Geleise […] glichen […] einer ungeheuren, eisernen Netzmasche […]. Optisch: Auf den Drähten, die sich wie [...] fortrankten, Die Strecke schnitt[…] in den […] Forst hinein. Die Sonne, welche soeben unter dem Rande [...], goß Ströme von Purpur über den Forst. und nun stieg die Glut langsam [...] mit einem rötlichen Schimmer streifend. Eine Wolke aus Staub und Qualm [...] Ungetüm war vorüber. Zum Punkte eingeschrumpft [...] über dem Waldwinkel zusammen. Die Säulenarkaden der Kiefernstämme [...] und glühten wie Eisen. Auch die Geleise [...], aber sie erloschen zuerst. Akustisch: Aus den Telegraphenstangen [...] tönten summende Akkorde. klebten in dichten Reihen Scharen zwitschernder Vögel. Durch die Geleise ging ein Vibrieren und Summen, [...]Reitergeschwaders nicht unähnlich war. Ein Keuchen und Brausen [...] durch die Luft. Dann plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, Der Spaten schnitt knirschend in das Erdreich.