Podiumsbeitrag zur Pressekonferenz am 30.1.2013: Dr. Klaus Vavrik, Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit Zur Lage der Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich 2013 und zum Jahresthema Kinderschutz: Sorgt Österreich gut für seine Kinder? Weshalb und wovor brauchen Kinder Schutz? Wenn von Kinderschutz oder Gewalt an Kindern gesprochen wird, denkt man sofort an schwere körperliche Misshandlung, psychische Grausamkeit oder an sexuelle Übergriffe. Kinder werden aber nicht nur Opfer von solch direkten, unmittelbaren Formen von Gewalt. Sie werden als spezifische Bevölkerungsgruppe oft auch Opfer von Bedingungen und gesellschaftlichen Strukturen, die ihnen schaden und ihre Lebens- und Entwicklungschancen sowie ihre Gesundheit beeinträchtigen. Diese versteckte, „strukturelle Gewalt“ finden wir auf ganz vielen Ebenen des Alltags wieder. Eine dieser Ebenen hat Hans Czermak, dessen 100. Geburtstag wir dieses Jahr gedenken, schon vor 30 Jahren aufgezeigt. Als Kinderarzt hat er die verheerende Wirkung einer körperlich strafenden oder demütigenden Erziehung erkannt. Durch sein Engagement hat er ein zumindest formales gesellschaftliches Umdenken und die Verabschiedung der Gewaltverbotsgesetze erreicht. Seine Arbeit hat das Verhalten der Österreicher zweifellos beeinflusst. Die Gewaltprävalenz sinkt langsam aber stetig.i Trotzdem geben auch heute noch 55% der 16- bis 20-jährigen jungen Männer und Frauen an, körperliche Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend erlebt zu haben. Auch heute noch bekennen sich 50% der Eltern dazu, „leichte“ Formen der Gewalt (»leichte Ohrfeige«) als Erziehungsmaßnahmen anzuwenden, 16% bekennen sich zu »schweren“ Körperstrafen (»den Po versohlen«).Nur 30% der Eltern ist das Gewaltverbot in der Erziehung überhaupt bekannt!ii Psychische Gewalt wie Demütigung, Beschimpfung, Ängstigen oder Liebesentzug ist noch weitaus häufiger, aber nur sehr schwer in Zahlen zu messen. Hat sich wirklich so wenig zum Positiven verändert in den letzten 30 Jahren? Was braucht es, dass Kinder eine Welt vorfinden wie etwa in Schweden, wo der Anteil gewalttätiger Erziehungsstile in der Bevölkerung gerade eine Viertel gegenüber Österreich ausmacht (14% „leichte“, 4% „schwere“ Körperstrafen). Es braucht deutlich mehr Bewusstseinsbildung, Aufklärungs- und Informationsarbeit und ein deutlicheres gesellschaftliches Bekenntnis, dass erzieherische Gewalt ein Unrecht gegenüber Kindern und Jugendlichen ist und tatsächlich eine Gesetzesverletzung darstellt. Was hat Kinderschutz mit Gesundheit zu tun? 98 Prozent aller Kinder werden physisch und psychisch gesund geboren. Ein paar Jahre später haben wir dann aber einen hohen Prozentsatz von Kindern, die mehr oder weniger psychisch gestört, im Szialverhalten schwierig oder behandlungsbedürftig sind. Was ist da inzwischen passiert? Kinder brauchen ebenso wie Nahrung und Luft auch Liebe und Geborgenheit, um überleben zu können. Das ist tief in unseren archaischen Überlebens-Programmen verankert. Sowohl Bedrohung wie etwa durch Gewalterziehung, als auch fehlende Sicherheit oder mangelnde Fürsorge erzeugen in einem kleinen Kind tiefe Angst und enormen existentiellen Stress. Dieser Stress hinterlässt seine Vavrik / Seite 1 von 4 Spuren in dem noch unreifen und daher allen positiven wie negativen Erfahrungen gegenüber völlig offenen Gehirn. Dieses reagiert später dann oft reflexartig überschießend auf alltägliche Belastungen. Dass kindliche Seelen sehr verletzlich sind, ist in dieser allgemeinen Aussage zwar vielen bewusst, wie enorm die Auswirkungen aber auch auf das neurobiologische System sind, das wird wissenschaftlich gerade immer klarer erkannt. Das Gehirn strukturiert sich entlang seiner gemachten Erfahrungen. Sowohl Misshandlungen als auch unsichere Bindung oder Vernachlässigung hinterlassen tiefe neuro-psychologische Narben in unserem Steuerungsorgan. Diese Narben beeinträchtigen die weitere Stressregulation und Persönlichkeitsentwicklung schwer und sind für Fehlentwicklungen und viele spätere psychischen wie körperlichen Erkrankungen verantwortlich. Gesellschaftliche Veränderungen und deren Folgen Österreich ist das drittreichste Land der EU, und dort wo der Wohlstand am höchsten ist, würde man glauben, ist auch die Gesundheit der Kinder und die Betreuung und Versorgung am besten. Die Realität ist aber leider eine völlig andere. Der 2012 vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) präsentierte Bericht über »Gesundheit und Gesundheitsverhalten von österreichischen Schülern und Schülerinnen« zeigt die hohe Gesundheitsbelastung der Jugend in Österreich auf. Ungünstige Ernährungsgewohnheiten, Risikoverhalten, Suchtmittelgebrauch, Gewalterfahrung und chronische Erkrankungen prägen das Bild in höherem Ausmaß, als in den meisten anderen europäischen Staaten. Nicht oft genug kann man die alarmierenden Zahlen nennen: Lt. Studien von OECD und UNICEF liegt Österreich in den Bereichen Gesundheit und Risikoverhalten von Kindern und Jugendlichen an der letzten Stelle aller teilnehmenden europäischen Staaten Österreich hat die höchste Raucher- (27%) und Gewalterfahrungsrate (25%) Europas bei 15Jährigen Ca. 35% der 15-Jährigen trinken zumindest 1x wöchentlich oder öfter Alkohol Ca. 20% der Kinder- und Jugendlichen leiden an Übergewicht oder Essstörung 17% haben eine vom Arzt diagnostizierte chronische Erkrankung oder Behinderung Über 50% der 17-jährigen Mädchen nehmen regelmäßig Medikamente gegen Beschwerdeniii Dies sind überwiegend keine „schicksalhaften“ Erkrankungen, sondern Folgen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Was es dringend zu lösen gilt, ist, dass der heutige gesellschaftliche Wandel nicht auf Kosten und zu Lasten der Kinder und Jugendlichen geht. Große Teile des wirtschaftlichen Erfolgs sind auf einer rein konsumstimulierenden Strategie aufgebaut, welche nur mehr sehr fraglich zum Nutzen der Menschen ist und, um der Geschäfte willen, Schaden an und für Kinder oft billigend in Kauf nimmt. Wenn Discotheken um neun Uhr zunächst nur für Mädchen öffnen und freien Alkohol ausschenken, um dann um elf Uhr die Burschen einzulassen, ist das Kalkül unschwer zu erraten. Wenn hohe Schwangerschaftsraten mit weit überdurchschnittlichen Mehrlings- und Frühgeburtsraten und häufig nachfolgender Behinderung, »erkauft« werden, dann hat man bei der künstlichen Befruchtung die wichtigste Betroffenengruppe, nämlich die dabei entstehenden Kinder als eigenständige Wesen und Träger eigener Rechte vergessen und dem Profit geopfert. Wenn angesehene Fachleute publizieren, dass sie bei Vorschulkindern bis zu 30% »soziogene« Sprachentwicklungsstörungen finden (das sind Störungen, welche aus zu wenig Sprachanregung etwa durch hohen und frühen Fernseh- und Medienkonsum resultieren), dann ist das ein dramatisches Alarmzeichen und lässt die Vavrik / Seite 2 von 4 Jubelstimmung über die Verkaufszahlen von Fernsehgeräten, Play-Stations und Kinder-DVDs in einem anderen Licht erscheinen. Auch hier sind die Zahlen nach wie vor alarmierend: Im Durchschnitt verbringen Österreichs 15-Jährige ca. 5,8 Stunden an Schultagen und 8,1 Stunden an schulfreien Tagen mit Fernsehen, Computerarbeiten und Computerspielen. Diese Liste an Beispielen könnte man nun noch lange mit den steigenden Zahlen von Hyperaktivität, Übergewicht, Spielsucht, Bewegungsarmut, u.a. fortsetzen. Die steigenden Kosten für den dadurch zunehmenden Therapiebedarf vorwurfsvoll dem Gesundheitswesen anzulasten und dort zu deckeln ist kurzsichtig und falsch. Wenn man Kosten sparen möchte, muss man bei den Verursachern ansetzen. Es braucht eine gesamtgesellschaftliche Veränderung und Verantwortung! Wir brauchen eine verantwortungsvolle Industrie, die nicht nur das Geschäft mit der jungen Zielgruppe im Auge hat, sondern auch deren Wohlergehen. Wir brauchen Eltern, die ihren Kindern anfangs mit viel persönlicher Zuwendung und Verlässlichkeit begegnen und ihnen später Zuversicht und Perspektive mit auf den Weg geben können. Und wir brauchen eine Gesellschaft, die den Rahmen so gestaltet, dass diese Dinge möglich sind. Dort wo junge Menschen ihre Potentiale entfalten können, entsteht automatisch Gesundheit und sozialer Zusammenhalt; beides enorm wichtige Zukunftsaspekte einer funktionierenden Gesellschaft. Ein spannendes Ergebnis oben genannter Untersuchung etwa war, dass eine positiv erlebte Familiensituation die stärkste Determinante für eine geringere Beschwerdelast und eine höhere Lebenszufriedenheit bis hin zu gesünderer Ernährung und weniger Suchtmittelgebrauch, war. »Kinder sind unsere Zukunft« sagt ein gängiger Spruch. »Aber wir sind ihre Gegenwart« muss man ergänzen! Es ist eine Welt, die wir Erwachsene so gestaltet haben, wie sie ist. Wir dürfen die nächste Generation jetzt nicht mit der Problembewältigung alleine lassen. Es braucht ein neues, sozial verantwortliches und zukunftsorientiertes Wohlstandziel. Das »Möglichst viel von Allem« hat keine Zukunft mehr. Es braucht eine Politik und einen Lebensstil, die nicht mehr Ressourcen verbrauchen, als sie wieder generieren können, die nicht Schuldenberge und eine ökonomisch und ökologisch abgewirtschaftete Welt hinterlässt. Auch das ist Kinderschutz! Der Schutz vor Fehlentwicklungen einer Gesellschaft. Zur Lage der Kinder- und Jugendgesundheit in Österreich 2013 Ganz besonders zynisch wird es, wenn wir diesen jungen Menschen - später suchterkrankt, behindert nach Frühgeburt oder spracharm mit aggressivem Verhalten oder Schulschwierigkeiten – dann auch nicht die Behandlung zukommen lassen, die sie benötigen. Kinder und Jugendliche machen ca. 20% der Bevölkerung aus, erhalten aber nur 6% der Gesundheitsleistungen. Warum müssen bis zu 80.000 iv Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsbeeinträchtigung oder chronischer Erkrankung auf eine ihnen zustehende Therapie warten oder ihre Eltern hohe Selbstbehalte zahlen? Warum gibt es ganze Bundesländer, die keine Ergo- oder Physiotherapie, keine Logopädie, keine Psychotherapie oder Kinderpsychiatrie auf Krankenschein in einer Praxis anbieten? Warum gibt es immer noch kein Rehabilitationszentrum für diese Altersgruppe? Warum müssen viele Krippen- und Kindergartenkinder unter unzumutbaren Bedingungen mit viel zu wenig und minderqualifiziertem Betreuungspersonal ihre Tage fristen, wo weder frühe Bindung noch Bildung stattfinden kann? Warum wird beim Streit um die Obsorge-Gesetze fast ausschließlich über Frauenrechte und Vavrik / Seite 3 von 4 Väterrechte diskutiert und nicht zentral um das Kindeswohl? Dieses wird zumeist bloß für eine der beiden Seiten instrumentalisiert und als Argument benutzt. Es geht oftmals ganz grundsätzlich darum, aus dem Blick der Kinder auf die Dinge zu schauen! Ein großer Teil der heutigen Risikofaktoren und Gefährdungen für die Gesundheit und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist in hohem Ausmaß gesellschaftlich bedingt. Es ist höchst an der Zeit, dass die Gesellschaft auch die Verantwortung für deren Folgen trägt! Nach wie vor: fehlen solide Daten und ein Monitoring, welches Veränderungen und Entwicklungen in der Kinder- und Jugendgesundheit österreichweit aussagekräftig abbilden kann. wird zu wenig in Gesundheitsförderung und Prävention investiert. Positiv hervorzuheben sind die aktuellen Aktivitäten, ein System der „Frühen Hilfen“ für Familien in besonderen Belastungen aufzubauen. fehlen systematisch eingerichtete interdisziplinäre Netzwerkarbeit und verpflichtende Qualitätsnormen in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. bräuchte es zur Realisierung dieser Anliegen auch eine Stärkung der elterlichen Ressourcen, denn die haben eine Schlüsselfunktion in der Entwicklung von Lebensstil und Gesundheit ihrer Kinder, und eine ressortübergreifende Gesundheitspolitik vor allem gemeinsam mit Bildung und Jugendwohlfahrt. Mit 1,4 Kindern pro Frau sind die Bevölkerungsentwicklungszahlen in Österreich derzeit degressiv. Kinder und Jugendliche sind - so könnte man provokant formulieren –Teil einer „aussterbenden und gefährdeten Rasse“. In Anbetracht dessen müssten sie uns doch einiges mehr wert sein. All diese Gründe haben vor 5 Jahren zur Gründung der „Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit“ geführt. Unsere drei wesentlichsten Zielsetzungen sind: eine Plattform für berufsübergreifende Zusammenarbeit schaffen das Bewusstsein über den Wert der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit und Politik stärken eine Verbesserung der präventiven, kurativen und rehabilitativen Angebote für Kinder und Jugendliche erreichen 35.000 ExpertInnen geben Kindern und Jugendlichen eine Stimme! Wir sind auf einem guten Weg, aber wir brauchen auch Ihre Hilfe, damit das Thema gehört und wahrgenommen wird! Das Thema ist kein geringeres als die Zukunft und das „Sozialkapital“ unserer Gesellschaft! i Quelle: „Familie –kein Platz für Gewalt!(?) 20 Jahre gesetzliches Gewaltverbot in Österreich“, BMWFJ. Elektronisch verfügbar und auf www.kinderjugendgesundheit.at ii Quelle: „Kindheitsgewalterfahrungen. Formen und Ausmaß“, O. Kapella, Österreichische Prävalenzstudie 2011 iii Quelle: „Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Österreichischen Schülern und Schülerinnen“, Ergebnisse des WHO-HBSC-Survey 2010, BMG iv Quelle: „Beträchtliche therapeutische Unterversorgung in Österreich“, R. Püspök, in: Pädiatrie & Pädologie 1/2011, Springer Verlag Alle hier erwähnten Quellen sind auf www.kinderjugendgesundheit.at verfügbar. Vavrik / Seite 4 von 4