Spuren inszenieren - Schweizerische Gesellschaft für Integrative

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Spuren inszenieren. Fährtensuche mit kreativen Medien.
Ulf Bolland, Anne-Dominique Hubert
„Unter meinen Schritten liegen die Wege vieler Sommer.
Im Brot, das ich esse, breiten sich Weizenfelder aus....“ Werner Lutz
„Der Mensch......
nie das eigene Auge sehend
nur im Traum
nur von weit
nur im Auge des andern.“
Hilde Domin
Rote Woll-Fäden durchziehen ein quadratisches Feld auf einem grauen Betonboden; sie
laufen voneinander weg, aufeinander zu, manche auch eine Weile parallel, im Kreis,
jeder mit Anfang und Ende, irgendwo. Es erinnert an Werke der Gegenwartskunst, aber
es ist eine Momentaufnahme im Verlauf einer Gruppe, die dabei ist, eine Installation, die
sie in mehreren Stunden miteinander entwickelt hat, zu dekonstruieren. Es sind Reste
persönlicher Themen in einem mehrstündigen Prozess (1). Alle anderen Objekte, die die
Teilnehmerinnen vorher Schritt für Schritt nach Anleitungen ausgewählt und in dem
festgelegten Spiel-Raum ausgelegt bzw. aufgestellt hatten, sind schon wieder entfernt.
Geblieben ist dieses letzte Bild, eine Spur, die durch Wegnehmen entstanden ist. Für
alle, die dabei waren, ist diese Szene noch unsichtbar dicht gefüllt ist mit allem, was
vorher da war und geschah. Am Schluß rollt dann jede Teilnehmerin die roten Fäden,
die sie ausgelegt hatte wieder ein, um damit ein Papierobjekt, das sie ganz am Anfang
des Gruppengeschehens gemacht hatte, zu einem neuen Ganzen für sich zu gestalten.
Ende einer Spur oder Anfang?
Alle Lebewesen folgen oder meiden instinktiv Spuren, die für ihr Überleben existentiell
sind. Fährten verstehen zu können als Bewegungen von anderen (Freund, Feind,
Beute), in deren Absichten man sich einfühlen (2) und deren Schritte man voraussehen
und zurückdenken kann, ist dagegen etwas spezifisch Menschliches. Die ersten Zeichen,
die unsere Vorfahren denkend begreifen konnten, waren die Lebensäußerungen
anderer. Jede Spur enthielt für sie ein verborgenes Wesen, das sich im Verlauf selbst
enthüllte und seine Herkunft erzählte, durch das, was es hinterließ. Es wurde in der
Imagination berührbar für den archaischen Menschen, er sah und hörte, „spürte“ es (3).
Es war eine sinnliche Praxis, die von Generation zu Generation weitergegeben und so
verfeinert wurde. „Auch die Tiere hatten ihren wohlvertrauten Gang... Im Rhythmus
ihrer Bewegungen lernte er sie kennen. Die früheste Schrift, die er lesen lernte, war die
der Spuren. Es war eine Art rhythmischer Notenschrift, die es immer gab;.....und der
Mensch, der sie las, verband mit ihr das Geräusch der Entstehung“ (4). Datensammlung,
Abstraktion und Interpretation, Hypothesenbildung und Entwicklung von Theorien sind
von Anfang an Elemente dieser uralten Techniken des Spürens. Markierung,
Kennzeichnung, Speicherung und symbolische Bemächtigung mittels der bewusst
erzeugten Spur zeugen von den Anfängen technischer Intelligenz und dem
erwachendem Selbst-Bewusstsein des prähistorischen Menschen. Die „urbane“ Kultur
beginnt in mythischer Zeit mit der Pflugspur, die das Territorium der Stadt (lat.: urbs)
-2von Wildnis und Naturraum abgrenzt und in Anspruch nimmt (5). Das Kind, das gerade
die ersten Buchstaben kritzeln kann, malt seinen Namen an die Wand. Was Spuren
hinterlässt, ist vorhanden, existiert also. Im Spüren und Spuren wurzelt kulturelle
Entwicklung unseres Denkens bis hin zu dem, was wir heute unter wissenschaftlichem
Arbeiten verstehen (6).
Spuren zu finden ist zuweilen mühsam, denn manches vergeht schon im Moment der
Entstehung und ist kaum wahrnehmbar. Je älter sie sind, desto mehr werden Spuren von
der Zeit überlagert, verwittert und gewandelt. Von heute aus zu begreifen, daß ein Fund
auf einer ostafrikanischen Hochebene nicht nur ein Stein-Splitter ist, sondern auch ein
prähistorisches Werkzeug, oder rückwärts zu verstehen, was Markierungen bedeuten,
die Menschen vor Jahrtausenden in den Höhlen hinterlassen haben, braucht viel Gespür
und Wissen. Als Rest einer Anwesenheit ist eine Spur unverständlich wie ein
unbekanntes Bild, das vieles enthält, was sich gegenseitig durchdringt und überlagert
(7). Die Fährte, die jemand oder etwas hinterlässt, spricht nicht von selbst, man muß sie
sehen und sie sinnvoll, d.h. in ursprünglicher Bedeutung des Wortes richtungweisend
interpretieren können. Das Bild mit den roten Wollfäden ist mehrdeutig, es könnte ein
spielerisches Moment sein aus einem Kindergarten, ein Bühnenbild, eine Art Landkarte
oder eben auch eine künstlerische Installation. Diejenigen, die den Workshop miterlebt
hatten, erinnerte es an Szenen zu Beginn von Therapien: viele Spuren an einer
Oberfläche, dahinter unsichtbar verdichtet: Lebensgeschichten.
Psychotherapeutische Arbeit hat manches gemeinsam mit Spurenlesen (8) Niemand
kommt spurlos zur Welt. Das Leben prägt und formt in und an uns, wie die Falten im
Gesicht, die verarbeiteten Hände, die Narben am Leib und in der Seele. Unsere
Vergangenheit ist gegenwärtig in der Leibgestalt, der Haltung, der Bewegung, im Denken
und Fühlen, in unserer Sprache, unseren Träumen also allem, was wir sind und tun. Wir
sind aber nicht nur Träger von Eindrücken, sondern wir äußern uns auch und machen
damit permanent Lebensspuren in, an, um und durch uns die Hinweise geben können
auf das woher und das wohin.
Das beginnt bereits mit der Kontaktaufnahme, etwa als Geräusch auf dem
Anrufbeantworter und im „ersten Eindruck“ (9). Da kommt ein Klient zu früh, einer
klingelt Sturm, einer findet den Weg nicht, eine setzt sich sofort auf den Stuhl der
Therapeutin, eine spricht kein Wort (10). Schon darin kann ein Muster angelegt sein,
sich ein Pfad andeuten, mit Umwegen, Abwegen etc. Was davon zufällig ist und was
wesentlich, braucht den erfahrenen Blick. Es ist vielleicht nur Unvertrautes im
Gewohnten, etwas das auffällt, als Figur vor einem Grund (11). Zum Angebot des
Klienten gehört in der Regel eine Erzählung, die eine erste Orientierung geben kann.
Eine Lebensgeschichte zu haben, ist für den Menschen unverzichtbar, denn er muss sich
ständig selbst deuten, um zu wissen, wer er ist, wo und wann. Was da allerdings „durch
die reflektierende und konstruktivistische Tätigkeit unserer Gehirne in die Welt“ kommt
(12), ist nicht einfach wahr und umgekehrt ebenso wenig unwahr, sondern Teil einer
vielfältigen Wahrheit und aus der Sicht psychotherapeutischer Suche eine (wichtige)
Spur unter anderen. „Jeder erfindet irgendwann eine Geschichte, die er für sein Leben
hält“ schrieb Max Frisch dazu. Jeder braucht eine, sie ist „das Rückgrat gelebter
Identität“ (13), aber Sprachspuren kann man nicht einfach folgen, sie führen leicht in
die Irre. Man muss sie lesen lernen, zwischen den Zeilen sozusagen. Was hörbar ist,
-3verstellt nicht selten den Blick. Manchmal geht es gerade um das Ungesagte, um das
was fehlt oder sich nur andeutet (14).
In unserer Gruppenarbeit mit kreativen Medien ist Sprechen wichtig, aber die
„erzählbare Geschichte“ ist nachgeordnet, weil sie erst durch Gestaltungen entsteht, wo
sie keimen, wachsen und reifen kann (15). Was in der Erzählung zur Sprache kommt, ist
schon prä-verbal vorhanden (verkörpert), es erschließt sich aus dem Handeln und den
Fährten, die damit gelegt werden. Die Spuren werden nicht nur entdeckt, sondern
inszeniert und hervorgebracht, wie in der Kunst oder im Kinderspiel. „Kunst gibt nicht
das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ hat Paul Klee einmal gesagt. Im
künstlerischen Tun werden Spuren aufgenommen, gelegt und wahrnehmbar gemacht,
die den Schaffenden wie den Betrachter konfrontieren mit Fragen seiner Existenz mit
Anderen in der Welt.
Kunst braucht Spiel-Räume, damit etwas entstehen und sich zeigen kann. Am Anfang
der Kunst und des kulturellen Lebens überhaupt ist das Spiel als natürliches Medium
kindlicher Selbst-darstellung und –erfahrung, als Beginn symbolischer Kommunikation
zwischen innerer und äußerer Realität. Viele Erwachsene haben den Zugang zum freien
Spiel nur noch in definierten Ausnahmesituationen wie “närrischen Zeiten“ (16), aber
ihre Handlungssprache ist aus dem Spiel der Kinder, die sie waren, hervorgegangen
und bleibt ihm implizit verhaftet, auch wenn es ganz ernst wird (17). Sichere Identität
im Zusammenleben gründet in der Erfahrung, dass Realitätserleben individuell
verschieden und situationsabhängig ist, sowie der Fähigkeit, mit der Realität zu spielen,
um sie immer immer wieder intersubjektiv zu konstruieren (18). Psychotherapie ist
daher auch eine „hochdifferenzierte Form des Spiels“ (19).
Unser gruppentherapeutischer Ansatz ist ein spielerischer – angeregt von der Kunst
(20) der Kindertherapie (21) und gegründet in einem Menschenbild, das den Menschen
als schöpferisches Wesen versteht (22). Wir stellen Räume zur Verfügung, in denen
verschiedene Realitäten entdeckt, hergestellt, inszeniert, gespielt und integriert werden
können. Die Sicherheit dieser kreativen Räume, die man auch als Atelier- oder
Bühnenräume sehen könnte, die Art des Umgangs der Spielenden miteinander, wird
garantiert durch Regeln, die wir vorgeben und auf deren Einhaltung wir achten. Der
Rahmen ermöglicht das Spiel, begrenzt und schützt es. Die Teilnehmer sind involviert
in einen praktischen Zusammenhang und geben die Kontrolle über das Geschehen
teilweise für eine Weile ab. Die Regression die damit angeregt wird, ist Voraussetzung
für Progression, aber dieses Potential erfordert achtsame Begleitung, damit es nicht zu
malignen Entwicklungen kommt. Der regressive Sog des freien Spiels in solchen
Möglichkeitsräumen wird leicht unterschätzt. Vieles ist unsichtbar mit im Spiel. „Ein
leiblich durchmessener Raum ist kein bloßer Zwischenraum“; er hat auch „eine zeitliche
Tiefe, in der sich Geschichte und Geschichten ablagern (23). Je nachdem, wer ihn belebt,
ist dieser Raum durchzogen von Kraftfeldern, Atmosphären und unsichtbaren Szenen,
die Aktionen der Mitspielenden auslösen und prägen, gleichsam ohne ihr Wissen, oder
allenfalls mitbewusst. Was wir eingeben, wie und wann, hat ebenfalls Ladung und
Aufforderungscharakter, am Beispiel der Schnur versuchen wir das unten zu
verdeutlichen. Das Spiel entwickelt sich dann intersubjektiv und leibhaftig in diesem
Feld, so wie das M. Merlau-Ponty schon für das Fußballspiel beschrieben hat. (24)
Unser Spiel-Feld birgt potentiell die Beziehungs-Gefüge, die Handlungspotentiale, die
Verhaltensmuster aller Mitspielenden. Jeder verkörpert eine Lebensgeschichte mit
Szenen etc. Was davon reaktiviert wird, was sich zeigt, wie es eingewoben wird, ist
-4zunächst unbestimmt-offen. In gewisser Weise geht es darum, dass sich die
Einzelnen und die Gruppe als Ganze bedeutsame Aspekte und Kontexte dieser
verborgenen Welten handelnd erschließen.
Manches verdichtet sich im Verlauf zu sinnfälligen Gestalten und zeigt etwas von dem,
was sich noch nicht sagen lässt.(25) Das betrifft das Gewesene ebenso wie das
Gegenwärtige und das Zukünftige. Die Als-ob-Qualität des Spiel (mit unterschiedlichen
Realitäten) ermöglicht, sich davon zu distanzieren oder einzelne Aspekte anzunehmen
und weiterzuverfolgen. Wir geben eine Struktur, die diesen Prozess trägt und gestalten
den Spielraum im Hinblick auf das, was sich dort ereignen kann inhaltsindifferent, d.h.
wir machen möglichst neutrale Vorgaben. Damit wird der Raum offen für vielfältiges
Geschehen mit kreativen Medien und intermedialen Quergängen (26). Spurenlesen und
Spurenmachen verbinden sich im Wechsel von Eindruck und Ausdruck . Im Spiel
entstehen neue Situationen, die es verändern, weitere Impulse geben oder
Perspektiven reduzieren (z.B. dadurch dass ein Ort schon besetzt ist, dass jemand
leiblich, oder durch ein Objekt zu nahe kommt etc.)
Die Möglichkeiten dieser Fährtensuche sind vielfältig, der Einsatz der Medien erfolgt
jedoch nicht wahllos. Die Materialität der Medien z.B. hat unterschiedlich anmutende
und stimulierende Eigenschaften. Ein Stein regt zu etwas anderem an, als ein
Seidentuch, Fingerfarben oder eine Schnur, auf deren spezielle Qualität und Symbolik
wir weiter unten noch ausführlich eingehen. Medien wirken unterschiedlich in der
Beziehung, als Übergangsobjekte, als Intermediärobjekte und in Verbindung
miteinander.
Das, was weitgehend sprachlos geschieht, erfordert Wissen um das Medium Sprache,
(warum, wie, wann und was zur Sprache bringen oder eben nicht). Übergänge in
Sprache sind unverzichtbare Elemente in der Arbeit mit kreativen Medien, auch aus der
Logik der kindlichen Entwicklung, die vom Symbolspiel zur Sprache fortschreitet (27).
Das eigene Handeln kann nur mittels der Sprache gespeichert und mit anderen
kommuniziert werden. Sie ermöglicht, aus einer exzentrischen Position in Vergangenes
zurückzugehen, es neu zu beleben, in der Vorstellung zu intensivieren, in die Zukunft zu
entwerfen und ist damit Basis für Selbstbewusstsein und Intersubjektivität.
Ein Blick zurück.
Die Arbeit mit den roten Wollfäden, die wir am Anfang zitiert haben, steht im Kontext
einer Reihe von Seminaren, die wir seit 1989 durchgeführt haben. Wir hatten zumeist
ein oder zwei Wochen Zeit, und konnten so im laufe der Jahre mit einer großen Zahl von
Teilnehmern intensiv die Praxis des Spurenlegens und –verfolgens durch
Gestaltwandlungen hindurch erforschen. Das geschah vor allem über Geh- und WegErfahrungen, die wir schon 2000 in einer größeren Arbeit zusammengefasst haben (28).
Das Motiv der Spur hat sich als fruchtbares Konzept erwiesen. Wir haben mit
verschiedensten Medien gearbeitet und wurden immer wieder überrascht. Am Beispiel
eines Workshops aus den Anfängen dieser Arbeit möchten wir noch einmal im Detail
zeigen, wie schon eine relativ einfache Aufgabe mit einem alltäglich vertrauten Medium
zu einer Herausforderung wird, die tief in die Biographie der Beteiligten führen kann.
Wir zitieren dabei weitgehend einen Text, der 1995 veröffentlicht wurde (29).
Es handelt sich um eine Arbeit mit persönlichen Markierungen von Orten in einem
Gruppenprozess. Wir wollten Möglichkeiten geben, sich in der Auseinandersetzung mit
-5den anderen räumlich und zeitlich zu entfalten mittels einer Schnur, die eine jeweils
eigene Spur im Raum markiert. Es sollte viel Freiheit sein für die Entwicklung
persönlicher Gestalten und Erfahrungen unterschiedlicher Tiefe, angefangen vom
spielerischen Probieren bis hin zu einer Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit in
Raum und Zeit, ohne dass das ausdrücklich so benannt war:
Als Medium der Gestaltung bekommt jeder Teilnehmer eine Schnur aus einem Fundus
verschiedenfarbiger Schnüre, die jeweils etwa 10 Meter lang und zu einem Knäuel
aufgerollt waren. Am Ende jeder Schnur befindet sich ein Schild mit der Aufschrift
„endlich“, das verdeckt ist und erst in abgerolltem Zustand entdeckt und gelesen werden
kann. Die Arbeit beginnt mit Selbstwahrnehmung im Kreise der anderen: der eigene
Stand und die Verbindung zum Boden, Qualitäten wie Enge/Weite etc. (30), die Atmung,
Stimmungen und Gefühle. Innere Bewegungen werden so wahrgenommen und
verstärkt, noch ohne Möglichkeit zur Äußerung. Die Aufmerksamkeit dehnt sich
allmählich in den Raum und pendelt zwischen Innenraum /Außenraum bis in die Weite.
Die Teilnehmer kommen damit langsam in Bewegung. Sie gehen im eigenen Tempo,
nehmen die Frage auf „Woher komme ich“ und gehen ihr nach, wobei sie weiterhin auf
Leibgefühle, Stimmungen und Phantasien achten. Es folgt eine Weile des Ausprobierens
verschiedener Schritte und Gangarten. Ein gemeinsames Gehen ist immer auch ein
soziales Ereignis. Verschiedene Menschen mit ungleichen zeit-räumlichen Mustern
treffen aufeinander, sie müssen sich mit anderen koordinieren und synchronisieren
(31) Das heisst, sie müssen sich einlassen auf die Bewegungen der anderen und sich
anpassen, also für sich und zusammen mit den anderen einen Weg finden.
Aus der Wahrnehmung des inneren Bewegtseins im Experimentieren entwickeln sich so
unterschiedliche Bewegungsformen und -gestalten.
Diese einleitende Phase, in der sich die Teilnehmer spielerisch dem Thema nähern,
klingt damit aus, dass jeder einen Platz findet (hier und jetzt) , dort zur Ruhe kommt und
die Erfahrung nachklingen lässt.
Jeder ist auch einmal bewusst eine Spur im Raum gegangen. Alle sind jetzt in erhöhter
Aufmerksamkeit für sich und die anderen, für die unterschiedlichen Qualitäten im
inneren Prozess und im Geschehen der Gruppe. Der Raum ist begangen und vertrauter
geworden. Jeder hat seinen persönlichen Ort im erlebten Raum gefunden,
einen Bezugspunkt, der im weiteren Verlauf zum Ausgangspunkt für die eigene Spur im
Raum wird. Diese persönlichen Plätze werden markiert.
Alle sind nun am persönlichen Platz, am Anfang ihres Wegs, aufgerüstet mit Schnur und
Klebeband. Sie werden noch mal eingestimmt (welche Bewegung ist in mir, wohin
drängt oder zieht es mich, vor/zurück, rechts/links, oben/ unten). Die innere Bewegung
wird mit kleinen Schritten ausprobiert. Das Bedürfnis, etwas zu tun, wächst. Endlich...
können sie beginnen, eine bleibende Spur im Raum zu machen. Dies geschieht
absichtsvoll aus der Achtsamkeit für Befindlichkeit, Stimmung, Gefühle, innere Bilder
etc. Die inneren Impulse werden in Bewegung umgesetzt und in der Spur festgelegt
dadurch, dass die Schnur nach jedem Schritt festgeklebt wird (werden soll) und so eine
Verbindung schafft von Ort zu Ort.
In der Auseinandersetzung mit der Aufgabe entwickelt sich dann eine eigene Dynamik.
Eine Schnur bietet viele Möglichkeiten, wie binden, abmessen, ausloten, ausgrenzen,
lenken, halten, zügeln, ziehen, schmücken und so fort. Sie regt an, verändert zu werden,
auf- oder abgerollt zu werden. Sie bietet an, sich auszurollen und auszulegen, den Raum
-6in Windungen zu durchqueren, in Geraden zu zerteilen, Hin- und Rückwege sowie
Umwege zu markieren. Sie fordert auf, zu umrunden, abzuzweigen, zu kreuzen, sich
anzunähern, fortzuschreiten, zu überschreiten, zu unterlaufen. Sie verspricht Hin- und
Rückführung auf unbekannten Wegen. Weitere Qualitäten entfalten sich unterwegs, sie
induziert ständig Kontakte mit den Schnüren der Anderen, die auf dem Wege liegen oder
im Wege sind, die den eigenen Weg begrenzen oder gar vorwegnehmen. In der
zunehmenden Vernetzung der Schnüre wahrt sie durch Farbe und Beschaffenheit die
Eigenart des Individuums, das mit ihr unterwegs ist, sie garantiert somit Kontinuität
und Identität in Vielfalt und Konkurrenz. Der ganze Raum wird schnell zum Feld der
Erfahrung: es gibt Luftspuren aus durchhängenden Fäden, Spuren an der Decke, Spuren
die Riesenstrecken in meterlangen Schritten durchqueren und welche, die infolge
Überspannung gerissen sind. Es wird spürbar, wie unbewusste Impulse und die
Präsenz der Anderen von Anfang an mitgestalten. Es entsteht ein ,Intermediärer Raum‘
(32), in den in gleicher Weise innere Realität und äußeres Leben aller einfließen, in dem
sich einzelnen Teilnehmer einen Weg suchen und dabei mit anderen vernetzen und
kommunizieren.
Aus Sicht der Gruppe geht es sofort auch um Kontakt, Kooperation und Koexistenz,
ohne das wir das benannt hätten. Sie sind in einem Unterwegs, in dem sich die
verschiedenen „Eigen-Raum-Zeiten“ zu einem Gruppen-Zeit-Raum verbinden.
Verhaltensregeln, Nähe und Distanz, Grenzen usw. müssen dabei erprobt und nonverbal
ausgehandelt werden. Manche der Teilnehmer werden dadurch sehr angeregt, andere
kommen schon „ganz früh“, auch wörtlich verstanden, an existentielle Fragen von Sein
oder Nicht-Sein. Manche Schnüre markieren Territorien, andere entziehen sich eher,
verschwinden in engen Ritzen oder hinter Möbeln, werden unsichtbar und tauchen
wieder auf. Zeit erscheint in der Entwicklung der Schnüre, sie wird gestreckt, gezogen,
gezerrt, festgehalten, losgelassen, übersprungen, durchmessen, gerafft, ausgedehnt. Zeit
ist anwesend als vergangene, gegenwärtige, zukünftige, sie wird sichtbar im Verlauf.
Die Schnur legt auch fest. Durch das Klebeband, das sie an frei gewählten Stationen
fixiert, wird sie verbindlich: hier und da und dort, davor und jetzt und danach. Sie füllt
den Raum und engt ihn ein, sogar den Luftraum, wenn sie ausgespannt wird. Dabei
entsteht eine zunehmende Spannung zwischen der Freiheit, sich zu entfalten im offenen
Raum und die Vorgabe, sich auf Orte festzulegen, die auch zeitlich angeordnet sind. Je
länger die eigene Spur wird, desto reduzierter werden die verbleibenden eigenen
Optionen. Der freie Raum immer knapper, durch die Vielzahl der Spuren wird es eng
und enger und die eigene Schnur wird immer kürzer. Unausweichlich schrumpfen die
Möglichkeiten zu experimentieren und Ziele zu erreichen, Die Erfahrung von
Begrenzung verdichtet sich. Am Ende der Schnur wird das Schild sichtbar mit der
versteckten Botschaft: „endlich“. Es geht nicht mehr weiter. Manche werden davon völlig
überrascht, sie sind ganz im schöpferischen Dialog mit sich, haben Zeit und Raum
vergessen. Der Faden ist hoch in der Luft, kurz vor dem Ziel, das für sie unerreichbar
geworden ist; andere Fäden sind am Ende meterweit von verschiedenen Punkten
entfernt, die sie unbedingt noch erreichen sollten. Einzelne haben das Ende selbst
bestimmt und/oder vermieden und den Faden nicht ganz abgerollt; manche reagieren
ärgerlich, andere erstaunt, traurig oder sind glücklich. Die Perspektiven wandeln sich
im Tun. Die Schnurgestalt erscheint wie von selbst als auch Lebensgestalt, sie wird zu
Lebensspur, zum Lebensweg mit Anfang und Ende.
-7Die Schnur/der Faden ist ein alltägliches Medium mit tiefer Symbolik, die sich
unmittelbar aus ihrem Gebrauchswert im menschlichen Alltag ableitet. Sie ist so einfach
und vielfältig dass sie schon von kleinen Kindern spielerisch gebraucht wird, um
wichtige Lebensthemen zum Ausdruck zu bringen (33). Als Werkzeug ist sie so uralt,
dass sich ihr Weg irgendwo in der Frühgeschichte der Menschheit verliert, sie begleitet
den Menschen vermutlich schon länger als das Feuer. Als Medium eröffnet sie damit
leicht Zugänge zu weiten Räumen des symbolischen Erlebens, vom persönlichen bis in
die Tiefen des kollektiven Unbewussten. Für manche sind tiefere Bedeutungen ohnehin
sofort präsent, der Mythos vom Faden der Ariadne, vom Schicksalsfaden (den die Parzen
spinnen), das Bild vom seidenen Faden (an dem alles hängt), vom roten Faden oder die
Besinnung auf die Nabelschnur.
In diesem Workshop ist wenig oder kein Raum ist für vertiefende Arbeit, die von den
offensichtlichen Spuren zu bedeutsamen Fährten in der jeweiligen Biographie führen
könnte. Die Anregung, den Spuren nochmal spielerisch nachzugehen und damit zu
experimentieren, wird jedoch mit Freude und Erleichterung angenommen. Dabei
kommt auch etwas anderes in den Blick: das große Netz von Fadenspuren, das den
ganzen Raum bedeckt und durchwebt, ein Nebeneinander, Durcheinander, aber auch ein
Miteinander. Es ist für die meisten eine gute Erfahrung von Koexistenz. Die Teilnehmer
bekommen hinreichend Zeit, etwas von diesen Erfahrungen aufzuschreiben. Mit dem
Namen wird das Erlebte gespeichert. Die Benennung schafft Verbindungen, gibt
Orientierung und macht verfügbar. Das Wort erleichtert, die Spur zu verlassen, ohne sie
dadurch zu verlieren. Jeder kann seine Gefühle zum Ausdruck bringen in ein paar
Worten, einem Gedicht. Ein neuer Sinn scheint auf.
Die Schnüre werden eingerollt. Nachdem alle Spuren beseitigt sind, werden sie in der
Vorstellung wieder belebt und in einem anderen Medium noch einmal aufgenommen.
Jeder bekommt ein weißes Blatt Papier und ein Stück schwarze Zeichenkohle, um aus
der Erinnerung noch einmal die Spur zu malen. Das beinhaltet auch eine Reduktion vom
großen dreidimensionalen Spielraum in ein kleines Format, zudem gibt es nur noch
zwei Dimensionen und keine Farben. In diesem Wechsel ist eine weitere Verdichtung
des Themas Endlichkeit (Altern) angelegt. Mit den Fäden ist auch das Netz der
Beziehungen verschwunden. Jede sitzt für sich allein am persönlichen Ort. Die neuen
Spuren erzählen von Einsamkeit und erinnern an Abschied, Trennung, Sterben und Tod.
Eine Atmosphäre von Schwere und Verlassenheit erfüllt den Raum.
In der Runde wird die allgemeine Schwere noch spürbarer und in unterschiedlicher
Weise angesprochen. Manche sind sehr beschäftigt mit „endlich sein“, allein sein am
Ende des Lebens. Für manche ist es auch eine unmittelbar beglückende Erfahrung. Im
Gespräch löst sich die Schwere etwas auf. Das Erlebte wird in einer kleinen
Prozessanalyse besprochen mit Hinweisen für ein weiter gefasstes Verständnis der
Spur. Damit alle den Workshop hinreichend geordnet abschließen können, gehen wir
zum Schluss noch einmal in eine Gestaltung, die auf die guten Erfahrungen fokussiert.
Jede folgt der Frage: „Wie könnte es weitergehen in der Spur, die ich hier begonnen
habe, wenn ich noch mehr Farben zur Verfügung hätte“, um sich dann mit bunten
Kreiden ein Bild malen zu lassen. Am Ende ist also auch Trost, Hoffnung und Zukunft.
-8Zum Schluß:
Diese Spuren-Arbeit von 1994, auf die wir uns im zweiten Teil unserer Überlegungen
beziehen, zeigt das Potential von derartigen Inszenierungen und Installationen, das
allerdings nur mit Wissen und Überlegung genutzt werden kann (34). Es braucht dazu
den Boden und das Klima der Gruppe, aber manches davon kann auch fruchtbar werden
in therapeutischer Einzelarbeit und sei es nur als Erfahrung, die aus dem Hintergrund
der TherapeutIn spielerisch einfließt (35).
Die Wirkung dieses kurzen Workshops war besonders eindrücklich und nachhaltig in
der Resonanz. Nicht alles würden wir wieder genau gleich machen (36). Wichtig scheint
uns von heute aus gesehen: wie im wirklichen Leben werden die Teilnehmer
buchstäblich verstrickt in eine offene Geschichte, deren Ausgang sie nicht kennen. Sie
erschaffen ihre Spur, verfolgen sie zugleich, kommen sich dabei zunehmend auf die Spur
und entwickeln mit ihrer Vorstellungskraft das Gespür für sich selbst in einem Prozess,
der Identität stiftet und zugleich in frage stellt, weil die Lebenserzählung nie
abgeschlossen ist und immer weiter führt bis zum Tod. In der Aufgabe ist ‚ganz einfach’
vieles enthalten und(!) leibhaftig/erlebbar, was eine Spur ausmacht: in ihr ist
Abwesendes anwesend, das zurückliegt, gegenwärtig ist und vorauszeigt.
Arbeit mit kreativen Medien verstehen wir nicht nur als projektives Geschehen zur
Materialbeschaffung für weiterführende therapeutische Arbeit. Unser Anliegen ist, auch
aus eigener künstlerischer Erfahrung, Raum zu schaffen für „heilende Kräfte“ (37) damit
sie sich entfalten können, unterwegs mit Anderen im schöpferischen Tun. Aus dieser
Perspektive setzen wir uns auch mit Künstlern der Gegenwart auseinander, die unsere
Arbeit anregen. Dementsprechend sind unsere Seminare prozessorientiert angelegt als
Spielraum für Begegnung, Kommunikation, Umgang, Experiment, in dem sich dann aus
kreativer Praxis und Koexistenz individuelle und kollektive Erzählungen entwickeln, die
zu Selbst-Deutungen anregen. Dabei kann... sich das „Gespür“ verfeinern für Qualitäten
(etwa Zeit-Raum) und das Verständnis für Eigenes und Fremdes vertiefen, woraus
vielleicht auch Impulse kommen zu veränderter Lebensführung.
Anmerkungen
(1) Es handelt sich um den Workshop „Es muß nicht immer Jaxon-Kreide sein“ im
Rahmen der Bildungswerkstatt des SVG im Mai 2010.
(2) vergl. auch M. Tomasello 2006, S.26f.
(3) Das Gespür ist Nah- und Fernsinn zugleich, in dem sich Sinnlichkeit (Witterung) und
Einsicht in die Bedeutung von Abstraktem erkennend verbinden. „Im Gespür verbindet
sich....der Sinn für das lokal Sensorische mit demjenigen, der sich orientiert, der
Überblick schafft.“ G. Boehm 2007 S.147 ff.
(4) Elias Canetti 1960, 28f.
(5) vergl. C. von Korvin-Krasinski 1986, S.304 über das alt-römische Ritual der
Gründung einer „urbs“ (abgeleitet von „urvare“ = Furchen ziehen, umgrenzen)
(6) Es „spricht einiges dafür, die Methode des Spurenlesens als Grundzug unseres
Erkenntnisvermögens zu betrachten“ G.Grube in S. Krämer 2007, S.249
-9(7) Als Beispiel ein Bild aus einer Jäger- und Sammlerkultur, in der Spurensuche noch
alltäglich ist. Das fertige Bild („Wie Buschnahrung wächst“) erzählt Geschichten, die
dem Auge des Betrachters verborgen bleiben weil sie im Malprozess überlagert werden.
„...In mehreren Schichten liegen Punkte in diesem Bild übereinander, das den nach dem
Regen wieder neu austreibenden Pflanzen gewidmet ist. Das als Malgrund verwendete
Brett ist in drei Lagen mit rotem Ocker präpariert......Der Künstler malte zuerst in
Schwarz alle ausgetrocknetenFlüsse und Bäche und deutete Sickerwasserstellen mit
konzentrischen Kreisen an. Gestreifte Rechtecke bezeichnen die von den Frauen
flachgetretenen Plätze, an denen Männer.......die Tänze der Wachstumszeremonie
aufführen. Anschliessend wurde das Bild zwei Monate lang beiseite gestellt. Mit dem
Beginn der Regenzeit entstand die zweite Schicht. Tjupurrula zeichnete mit Punkten die
Wasserlöcher und Flüsse ein, dabei verwendete er immer noch den Kamelhaarpinsel.
Als der Regen von neuem einsetzte, nutzte der Künstler Grashalme für die letzte, dritte
Schicht. Drei Wochen lang erbeitete er jeden Tag....und trug....dünne Farbschichten
auf....Diese zarten Striche spiegeln die Veränderung der Wüste wieder - nach dem
Regen, ist sie vom neuen Leben der Pflanzen .....erfüllt....Viele dieser Gewächse sind sehr
kurzlebig.....“ in: „Wie liest man fremde Bilder?“ U. Krempel, 1993 S.39f.
(8) A. Lorenzer 1985) zieht Parallelen zwischen den ‚Erkundungsweisen‘ von Detektiv
und Psychoanalytiker. Sein Konzept des ,szenischen Verstehens (ders. 1970) kann man
auch als Spurenlese verstehen.
(9) H. Argelander (1987) hat sich mit Phänomenen der initialen therapeutischen
Begegnung beschäftigt und daraus sein Konzept des ,Erstinterviews‘ entwickelt, dessen
Kern die ,schöpferisch gestaltete Szene‘ ist, eine Schlüsselinformation, die der Patient
unbewusst gibt, bzw. inszeniert.
(10) Beispiel: Eine Frau (52 J., niedergelassene Ärztin) weint nur ängstlich und
verzweifelt, eine Anamnese ist nicht möglich. Fast zwei Jahre weiß ich so gut nichts von
ihr, nur dass sie kommen will und große Angst hat davor. Wir kommunizieren
vorwiegend über Taschentücher, Decken, die ich ihr gebe, manchmal auch über
vorsichtige Begegnung der Hände. Oft steht sie zitternd an der Wand, eingehüllt.
Irgendwann erfindet sie ein Spiel. Sie macht mit den Fingern kleine Spuren auf einer
sandigen Fläche, die ich auf ihren Wunsch angelegt habe. Ich soll ab und zu ganz
vorsichtig Farbpigmente dazu geben, wie zarte Puderspuren. Nach Wochen abstrakter
Zeichen, beginnt sie Worte in den Sand zu malen, z.B. „Leben“. Sie braucht dafür jeweils
viel Zeit, manchmal Minuten für einen Buchstaben und muß sich sehr anstrengen.
Langsam macht sie auch Mini-Installationen mit Objekten, die sie z.T. mitbringt und
Zetteln, auf denen Worte oder Sätze stehen. Nach Monaten beginnt sie zu reden, wobei
sie sich gern auf einem Pedalo durch den Raum bewegt, hin und her und dabei mit Lust
eine tiefe Spur in den Teppich fährt. Irgendwann erzählt sie mir aus dem Schutz einer
Decke, dass sie über Jahre als Mädchen im Beichtstuhl missbraucht wurde (U.B.).
(11) ähnliches sagt Ludewik Fleck (1980) über das wissenschaftliche (Spuren-) Sehen:
„Der erfahrene Blick, das serologische Fühlen ist viel wichtiger als das Berechnen“. Nur
der Fachmann, der „eingeweiht“ ist in die Methoden und das vorgängige Wissen einer
wissenschaftlichen Disziplin kann überhaupt die gesuchte „Gestalt sehen“ und ihren
Sinn erfassen.
(12) W. Singer 2002, S.86
-10(13) „Während ein Lebenslauf sich aus objektiv verifizierbaren Lebensdaten
zusammensetzt, beruht eine Lebensgeschichte auf interpretierten Erinnerungen, die
sich zu einer erinnerbaren und erzählbaren Gestalt zusammenfügen. Solche
Gestaltgebung nennen wir Sinn; sie ist das Rückgrat gelebter Identität“ A. Assmann
2003, S.257
(14) Beispiel: Ein Mann ( 42 J., Lehrer) erzählt im Erstgespräch von seiner schönen
Kindheit, das elterliche Geschäft lief gut, es sei alles bestens gewesen. Er hatte sogar als
kleiner Junge, mit 3 Jahren, schon ein Pferd, auf dem er ganz allein für sich und ohne
Sattel geritten sei. Der Ausdruck “ganz allein“ bleibt mir hängen, die Szene beschäftigt
mich, ich kann mir Vater und Mutter nicht vorstellen. Meine Frage: „Wo waren Ihre
Eltern eigentlich wenn sie geritten sind?“ überrascht ihn so, dass er die Fassung verliert
und heftig zu weinen beginnt (U.B.)
(15) „Die Geschichten selbst aber, in ihrer lebendigen Wirklichkeit, sind keine „Dinge“
und müssen erst verdinglicht, d.h. transformiert werden, bevor sie in den
gegenständlichen Bestand der Welt eingehen können....Obwohl also erzählbare
Geschichten die eigentlichen „Produkte“ des Handelns und Sprechens sind, und wiewohl
der Geschichtscharakter dieser „Produkte“ dem geschuldet ist, dass handeln und
sprechend die Menschen sich als Personen enthüllen....mangelt der Geschichte gleichsam
ihr Verfasser. Jemand hat sie begonnen, hat sie handelnd dargestellt, aber niemand hat
sie ersonnen“ Hannah Arendt 2003 S.227 ff. „Die wirkliche Geschichte, in die uns das
Leben verstrickt und der wir nicht entkommen, weist weder auf einen sichtbaren noch
unsichtbaren Verfasser hin, weil sie überhaupt noch nicht verfasst ist.“ aaO. S.233).
Narratives Wissen ist demnach eine reflexive Explikation der pränarrativen Qualität
unreflektierter Erfahrung; es ist ein Ausbuchstabieren von Geschichte, welche die
Erfahrung verkörpert“ D.E. Polkinghorne 1998, S.23
(16) Fastnacht, Fußballweltmeisterschaften....usw.
(17) „Theoretisch gesagt: das Spiel des Kindes ist die infantile Form der menschlichen
Fähigkeit, Modellsituationen zu schaffen, um darin Erfahrungen zu verarbeiten und die
Realität durch Planung und Experiment zu beherrschen“ E. Erikson 1971, S.216
(18) vergl. P.Fonagy et.al. 2004, S.258 ff. oder T.Bolm 2009 S.30
(19) „...mit anderen Worten halte ich das Spiel für das Universale; es ist Ausdruck von
Gesundheit: denn Spielen ermöglicht Reifung und damit Gesundheit; es führt zu
Gruppenbeziehungen, es kann eine Form der Kommunikation in der Psychotherapie
sein; und schliesslich hat sich Psychoanalyse als eine hochdifferenzierte Art des
Spielens...entwickelt“ Winnicott, 1985, S. 52
(20) Die Kunst der Gegenwart, wozu wir auch die „undisziplinierte Kunst“ der
Außenseiter zählen (Art Brut/Outsiderart) hat uns wichtige Impulse gegeben für diese
therapeutische Arbeit jenseits der Sprache. Wir nennen hier nur unsystematisch einige:
Richard Long, Ana Mendieta, Christian Boltanski, Arnulf Rainer, Louis Soutter, Annette
Messager , Anselm Kiefer, Sigrid Sigurdson , Rose Nöcker , Toni Ursler, Ilija Kabakov,
Bill Viola, Kiki Smith, Louise Bourgeois, Mona Hatoum , Stellark, Orlan, Hanna Höch,
Joseph Beuys, Marina Abramovic, Sophie Calle, Antoni Tapies , Gabriel Orozco, Fischli
und Weiss, Wolfgang Laib, Giuseppe Penone, Judith Scott, Agnes Richter, Emma Hauck,
Katharina Detzel, August Walla, Adolf Wölfli, Facteur Cheval , Oswald Tschirtner , Henry
Darger, Markus Meurer .
-11(21) es gibt z.B. viele Parallelen zum deutungsfreien Vorgehen im therapeutischen
Kinderspiel nach H. Zulliger 1952, 1966, 1970 von dem ich (U.B.) während meiner
Tätigkeit als psychoanalytisch orientierter Spieltherapeut viel übernommen habe, was
dann viel später in eigene kunsttherapeutische Konzepte eingegangen ist. „Ohne unsere
erwachsenen Denkkategorien würde die Welt....zum Irrenhaus oder doch zum irrealen
Traumhaus. Wir ahnen dunkel die Gefahr und wehren uns dagegen. Dies ist der Grund,
weswegen uns das Eindringen ins Denken der Kinder unheimlich berührt. Wenn wir
uns aber beruflich bemühen, das Kind“ (zu verstehen), „dann sind wir ja genötigt, uns in
seiner Denkweise heimisch zu machen. Um dies zu erreichen, müssen wir gleichsam in
unsere eigenen Denkanfänge regredieren. Anders geht es nicht.... Zulliger 1966, S.48)
(22) siehe zur Anthropologie des Schöpferischen den wegweisenden Aufsatz von
I. Orth und H. Petzold in: Petzold/Sieper Hrsg. 1993
(23) B. Waldenfels 2009, S.76
(24) cit. E.Schürmann 2008 S.66f.
(25) Beispiel aus einer Einzeltherapie: Eine Frau (40 J. Journalistin), aus einem
wohlhabenden Elternhaus, „wo es an nichts fehlte“, vielseitig begabt, fühlt sich blockiert
und entscheidungsunfähig angesichts ihrer Möglichkeiten und Ideen. Aus ihrer
Geschichte weiß ich von Phasen großer Einsamkeit über die sie noch wenig sagen kann.
Ich kippe all die vielen kleinen Figuren und Objekte, die in verschiedenen Behältnissen
gelagert sind, auf den großen weißen Teppich im Therapieraum und fordere sie auf, das
so in diesem Feld zu platzieren, dass es für sie eine gute Ordnung ist. Sie ist überrascht,
zögert eine Weile und dann beginnt mit wachsender Freude zu erkunden und
spielerisch zu ordnen. Ich sitze etwas entfernt, aber jederzeit ansprechbar. Sie schaut am
Anfang viel zu mir und taucht dann immer mehr ganz ein ins Tun. Im Verlauf der Zeit
(etwa 45 Minuten) formt sie allmählich aus vielen Einzelstücken etwas, was sie
irgendwie tief beruhigt, obwohl sie erstmal nicht versteht, warum. Später sagt sie, es
habe zu tun mit meiner Präsenz in diesem Geschehen. Im weiteren Verlauf entdeckt sie
in der Gestalt, die entstanden ist, eine tanzende Frau, mit der wir weiter arbeiten über
Bewegung, Verleiblichung, innere Dialoge etc. Aus dem, was sie ordnend in Szene
gesetzt hat und zur Darstellung bringt, entwickelt sich eine Geschichte, die sie erzählen
kann (A.D.H)
(26) siehe dazu Petzold, H./ Orth, I. 1990
(27) „Die Einfachregulierung in sensomotorischen Figuren des Körperverhaltens wird
also mit der Spracheinführung überwunden; es kommt zu einer Doppelregistrierung des
Verhaltens in sinnlicher Erfahrung und sprachmotorischer Registratur....“ A. Lorenzer/
Görlich, B. 1981, S.94f. vergl. auch R. Oerter 1993
(28) ). Im Norweger- Gestaltkibbuz 1990 des Fritz Perls Instituts (FPI/EAG) haben wir
begonnen, die TeilnehmerInnen immer wieder jeden Tag als Gruppe morgens einen
bestimmten Weg gehen lassen und dabei erlebt, wie dieser gemeinsame Weg nur über
das Tun, durch die Wiederholung und wechselnden Aufgaben, wie von selbst für alle zu
einem zentralen Gruppenritual wurde und wie von selbst zur Lebengeschichte führte.
siehe U. Bolland, A.D. Hubert, überarbeitet 2003 In allen Intensiv- und
Kompaktseminaren, die wir seitdem geleitet haben, haben wir die Weg-Erfahrung
induziert und in fortlaufenden Gestaltungen begleitet, z.B. mit Papierobjekten, die
Standorte und Station markieren oder Schnüren, die Verläufen nachgelegt werden und
seit 1999 auch mit Fuss-Spuren-Bildern vergl. aaO.
(29) wir zitieren einen Beitrag von U.Bolland, Zürich, 1995, Tagungsdokumentation der
Zürcher Gestalttage des SVG: „Endlich. Eine Spur in einem Zeitraum“
-12(30) zum „innerleiblichen Spüren“ vergl. H.Schmitz 1986
(31) L. Ciompi beschäftigt sich ausführlich mit räumlich-zeitlichen Mustern der
Menschen und ihrer Synchronisation, er spricht dabei von Eigen-Raum-Zeiten 1988
(32) vergl. Winnicott 1985, S.52
(33) Ein schönes Beispiel gibt S. Freud selbst in seinen Beobachtungen des ersten
selbstgeschaffenen Spiels eines Kindes, das alle Gegenstände, die erreichbar waren, weit
von sich wegschleuderte. Freud kam zu der Auffassung, dass das Kind, das nie weinte,
wenn die Mutter wegging, mit allen seinen Sachen „Fortsein“ spielte: „Ich merkte
schließlich, dass das ein Spiel sei und dass das Kind alle seine Sachen nur dazu benützte,
mit ihnen „Fortsein“ zu spielen. Eines Tages machte ich dann eine Beobachtung, die
meine Auffassung bestätigte. Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden
umwickelt war.....Es warf die am Faden gehaltene Spule mit grossem Geschick über den
Rand seines Bettchens, so dass sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles
o-o-o-o-o und zog die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren
Erscheinen jetzt mit einem freudigen „da“. Das war also das komplette Spiel,
verschwinden und wiederkommen...“ (Freud GW 13 S.12f.)
(34) Beispiel: Wenn man die Qualitäten eines Mediums nicht erkennt, ruft man
möglicherweise Geister, die man nur schwer wieder loswird. Als ich zum ersten Mal in
einem Seminar, auch noch gleich zu Beginn, mit schwarzer Kohle Spuren auf weißem
Papier machen ließ, wurde ich völlig überrascht von den schweren, düsteren
Atmosphären, die sich über die Gruppe legten (U.B.)
(35) Beispiel: Eine Frau (43J. Bibliothekarin), die schon eine Weile kommt, erzählt mir
von einem Problem und irgendwie fehlt etwas dabei. Ohne das anzusprechen, drehe ich
mich leicht im Stuhl so, dass ich sie gerade noch aus den Augenwinkeln sehen kann; sie
lächelt: „möchten Sie hören, was ich noch nicht erzählt habe?“ Mein Wegschauen ist ein
Spiel des indirekten Hinschauens, das sich mit dieser Klientin aus Situationen sehr
schmerzlicher, peinvoller Sprachlosigkeit entwickelt hat. Ich öffne damit (mit ihrem
Einverständnis) den Raum zwischen uns für das Ungesehene, das Unerhörte und das
Ungesagte (Unsagbare) - was dabei geschieht, wirkt heilend vor und jenseits der
Sprache, als Spiel (etwa in dem Sinne von „ich höre was, was du nicht sagst“), nicht als
technische Intervention (U.B.).
(36) Aus heutiger Sicht erscheint es uns sinnvoller, nicht den ganzen Gruppen-Raum
als potentiellen Raum, als Spiel-Raum und Bühne zur Verfügung zu stellen, weil damit
die Grenze zwischen der Realität und dem spielerischen Als-ob verschwindet. Wenn
man das dennoch tut, muß man genau wissen, warum. In späteren Workshops haben
wir oft mit abgegrenzten Räumen gearbeitet, mit einer Art Bühne, in die man
hineingehen kann, die man aber auch wieder verlassen kann, um sie von außen zu
betrachten. Die starke Involvierung der Teilnehmer im Workshop 1994 war vermutlich
auch darauf zurückzuführen, dass sie wenig Möglichkeit hatten, räumlich in Distanz zu
gehen. Außerdem haben wir danach auf das Schild mit dem Wort „endlich“ am Ende der
Schnur verzichtet, um mehr offenen Raum zu geben für das, was sich zeigen will.
(37) Es ist in gewisser Weise eine spieltherapeutische Arbeit mit Erwachsenen, in
Anlehnung an H. Zulligers „Heilende Kräfte im kindlichen Spiel“ 1970
-13Literatur:
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Ulf Bolland / Anne-Dominique Hubert
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CH-4056 Basel
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