1 Die „jüdische Frau“ und bange Fragen auf der russischen Bühne 2 „Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von der meinen“, sagte Brecht Jahre 3 vor Krieg und Faschismus. Noch größere Schande offenbarte, was ihm Margarete Steffin in 4 seinem Exil aus dem Alltag deutschen Lebens zutrug. Er schuf daraus 1934 die Szenenfolge 5 „Furcht und Elend des Dritten Reiches“. Brecht distanzierte sich nicht von seinem Volk. So 6 war es auch seine Schande, nicht aber die, der aus Rußland zugewanderten Künstler des 7 Theaters „Russische Bühne“. Dennoch machen sie diese Schande in der zu einem 8 abendfüllenden Monolog gewandelten Szene „Die jüdische Frau“ zu ihrer Sache. Es ist die 9 gleiche Verantwortung: Heute gehören sie zu uns und wollen ebenso eindringlich vor neuer 10 Schande und Schuld warnen. 11 Das tun in der russischen Fassung Irina Bessarab und in der deutschen Elena Panibratova mit 12 tiefer künstlerischer Intensität. Es geht um das Befinden einer Frau, die die Woge des 13 Schicksals von der Herrlichkeit in den tiefsten sozialen Abgrund stürzt. Als Jüdin spürt sie die 14 zunehmende Verachtung am eigenen Leibe, während sich alle Freunde und Bekannten, mithin 15 selbst der geliebte Mann, aus Furcht und eigener Bequemlichkeit weigern, dies wahrnehmen 16 zu wollen. Im dänischen Exil war Brecht noch voller Hoffnung, daß die gebildeten Stände 17 sich nicht von „Halbwilden“ vorschreiben lassen, welche Partner geliebt werden dürfen und 18 welche nicht, oder sich gar das Volk ausschicken läßt, die Welt zu erobern. Er hatte mit 19 diesen Szenen vor, den Faschismus tödlich zu treffen. Wir wissen wie die Künstler auch, daß 20 Brecht bitter irrte. Dabei hatte er die mächtigsten Mittel eingesetzt, die ihm zur Verfügung 21 standen. Zur Pariser Uraufführung ließ er mit Helene Weigel eigens eine der besten deutschen 22 Schauspielerinnen aus dem dänischen Exil anreisen, damit sie die jüdische Frau spiele. Alle 23 Heuchelei entlarvt der Pelzmantel im Gepäck der flüchtenden Frau. Er ist Beweis, daß es 24 nicht um eine kurze Vergnügungsreise, sondern um die Vernichtung einer Existenz geht. Auf 25 der Russischen Bühne in der Kurfürstenstraße 123 klingt das Stück gleichermaßen 26 eindringlich mit der „Legende vom toten Soldaten“ aus, ein deutlicher Verweis auf den Document1 1 27 Fortgang der damaligen Geschichte mit bitterer Aktualität: Erneut kann ein einfacher Blick 28 die von Heuchelei verkleisterte Wahrnehmung der Realität entlarven: Die Landkarte zeigt, 29 welches politische Gebilde in den vergangenen 25 Jahren seine Grenzen um Tausende 30 Kilometer vorgeschoben hat. Sollen wieder für den Gewinn der Ukraine Soldaten 31 marschieren...? 32 Frank Wecker Document1 2