Reseda «Radi» von Wolfgang Borchert In der zu interpretierenden Kurzgeschichte „Radi“, die von dem deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit Wolfgang Borchert geschrieben und in seiner Erzählsammlung „An diesem Dienstag“ im Jahre 1947 veröffentlicht wurde, geht es um die verlorene Generation des Zweiten Weltkrieges, um Identitätsund Rehabilitierungsprobleme der jungen Männer nach dem Krieg. Wolfgang Borchert, geboren am 20. Mai 1921 in Hamburg; gestorben - am 20. November 1947 in Basel, ist ein bemerkenswerter Autor der Trümmerliteratur. Probleme der Nachkriegszeit spiegeln sich in seinen Werken wider, weil der Autor selbst als Soldat am Krieg teilgenommen und dessen negative Konsequenzen erfahren hat. „Radi“ ist, meiner Meinung nach, ein interessantes und bildhaftes Beispiel dafür. Diese Kurzgeschichte ist mit ihrer einfachen und realistischen Darstellung von Problemen des Krieges und der Nachkriegszeit ein typischer Vertreter der Trümmerliteratur. Der Erzähler schildert, wie er in einem Winter der Nachkriegszeit träumt, dass sein guter Schulbekannter Radi kommt, der mit ihm über seinen Tod in Russland und seine Gefühle in der Fremde spricht. Radi ist in einem fremden Land begraben und fühlt sich allein und verloren. Er bittet den Erzähler ihn zu seinem Grab in Russland zu begleiten, sich an ihn zu erinnern und die von ihm so genannte Widerlichkeit der fremden Erde zu erleben. Der Erzähler beruhigt Radis Seele mit der Behauptung, dass die Erde überall gleich ist. „Radi“ ist eine Kurzgeschichte, weil sie einen unvermittelten Anfang und ein offenes Ende hat, sodass der Leser sofort ins Geschehen vertieft ist. Es gibt nur zwei Figuren: Radi, der Protagonist, der als Verkörperung von Problemen der Nachkriegszeit erscheint, und der namenlose Erzähler, über dessen Person man kaum etwas erfährt. Der genaue Handlungsort ist unbekannt. Die Geschichte hat einen konkreten Zeitrahmen – sie dauert eine Nacht und endet am frühen Morgen. Die Geschichte wird aus der personalen Erzählperspektive geschrieben. Das bedeutet, dass die Handlung subjektiv dargestellt wird. Man kann die entspannte Atmosphäre und die Ungezwungenheit des Dialogs zwischen den Freunden spüren. Diesen Effekt erreicht der Autor mit Hilfe von einer einfachen Sprache und Syntax. Es gibt viele unvollständige und nicht erweiterte Sätze, bis hin zu Ellipsen und Isolierungen („Ja, gleich im ersten Winter“, „Alles steinhart“, Mit mir?“ usw.). Interessant ist, dass die Geschichte die Form eines Traums hat, in welchem dem Ich-Erzähler sein Schulfreund Radi erscheint. Die Geschehnisse im Traum sind in der Form eines Dialoges dargestellt. Dadurch kann Radis Persönlichkeit mit ihren Ängsten und Zweifeln besser vom Leser erschlossen werden. Der Text lässt sich in zwei Abschnitte nach dem Handlungsortprinzip gliedern. Im ersten Teil spielt die Handlung im Zuhause des Ich-Erzählers. Im zweiten Teil wird der Dialog in Russland weitergeführt. Die Geschichte endet mit einem implizit vorgestellten Bild des Friedens: der Ich-Erzähler wacht früh morgens nach dem Schlafen auf und spürt den Geruch der Erde – kein Geruch von Dampf oder Ruß – es ist der Geruch des Friedens. Es gibt einen Moment des Übergangs nach Russland, der sich durch einen abrupten Wechsel von der Beschreibung der sensorischen Wahrnehmung (das Angreifen der Hand) zum Handlungsort auszeichnet („Wir standen zwischen ein paar Erlen“) und durch eine Antithese der Zeitangaben markiert ist („heute Nacht“ – „Es war morgens um halb sechs“). Dies unterstreicht die Idee der Handlung im Traum. Obwohl der Handlungsort sehr schnell wechselt, vergeht die Zeit innerhalb dieser zwei Teile sehr langsam. Im Zuhause des Ich-Erzählers findet ein ruhiger, leiser Dialog zwischen zwei Schulfreunden statt, der lange dauert. Das merkt der Zuhörer beim Vorlesen der Geschichte: Radi macht Pausen zwischen den Sätzen, denkt nach und schweigt. Diese Pausen entstehen dank Replikwiederholungen („Und gelacht. – Und gelacht“), Parallelismen („Und die Steine stöhnen manchmal.<…> Alles so fremd“)) und der Beschreibung des Verhaltens von Radi („Radi saß auf meiner Bettkante und schwieg“, „Radi saß auf meiner Bettkante und rieb seine Handflächen an seinem Knie“, „Er sah auf seine Knie“). Das alles beschreibt implizit Radis seelischen Zustand, seine Unsicherheit und Verlorenheit. Die Zeit in dem zweiten Abschnitt kommt dem Leser auch andauernd vor. Diesen Effekt erreicht der Autor mit der detaillierten Beschreibung des Geschehens („Dann hob er mit den Fingerspitzen etwas von der dunklen Erde hoch und roch daran. Er hielt mir die Erde hin. Ich atmete tief an die Erde“), der Gefühle (mit Hilfe des Vergleichs: „Wie seine Hand war sie [die Erde]…“, der Aufzählung „Sie roch kühl, lose und leicht“ und Isolierung mit Anaphern „Ganz kühl. Ganz lose. Ganz leicht.“) und des Verhaltens (mit Hilfe der Wiederholung „Radi saß und roch und er vergaß mich und er roch und roch und roch“). Alle diese speziellen Mittel ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auf konkrete Details und wecken seine sensorische Wahrnehmung. Dazu dienen solche Epitheta wie „kühl, lose, leicht“ und das mehrmals wiederholte Verb „riechen“. So ist der Leser gerade in die Geschichte einbezogen und kann sich unmittelbar in Radi einfühlen. Dank der genauen Beschreibung des Äußeren von Radi kann man einfach nachvollziehen, dass er ein junger Mann ist, möglicherweise noch ein Schüler, als er im Krieg gestorben ist. So hat er im Text die Merkmale eines Jugendlichen: ein weiches, breites, volles Gesicht, ein paar blonde Bartspitzen auf dem Kinn; eine noch unreife Gangart („Füße komisch setzen“). Das wird auch deutlich an seinen Redethemen (z.B. Mädchen) und am Sprachstil, der umgangssprachlich, einfach und locker ist. Radis Augen sind „ängstlich und unsicher“, und er bittet seinen Freund, den Ich-Erzähler, darum, nicht über ihn zu lachen und wiederholt das ständig, weil das Geschehen ihm sehr wichtig ist. Aus diesen Angaben erfährt man, dass Radi eine ängstliche, unsichere Person ist, die alles sehr ernst nimmt. Diese Eigenschaften, die eine Folge des Krieges sind und danach sozusagen seelisch töten können, symbolisieren die menschliche Zerbrochenheit durch die Erfahrung des Krieges. Darüber hinaus gibt es viel Symbolik im Text, die mit dem Tod verbunden ist. Das Skelett assoziiert man mit dem Tod. Der Geist des toten Freundes ist „kühl wie Schnee“. Erlen wachsen in düsteren Moorlandschaften und symbolisieren deswegen in manchen Kulturen das Sterben und den Tod. Die Erde erscheint Radi als etwas sehr Negatives und bedeutet für ihn nur das Grab und das Ende des Lebens. In diesen vielsagenden Symbolen und in der Persönlichkeit von Radi sind große Probleme der Nachkriegszeit verborgen. Das Thema des Massensterbens der jungen Generation im Krieg oder ihres verdorbenen Lebens wird im Text aufgegriffen. Plötzlich kam der Krieg und nahm Radis junges Leben wie auch die Leben tausend anderer Jungen und Männer. Im Winter 1941 stirbt er in der Ferne, weit weg von seiner Heimat. Das spiegelt sich im Schicksal von Wolfgang Borchert wieder, er war jung und der Krieg hat ihm alles genommen: die Möglichkeit im Theater zu spielen, ein normales gesundes Leben zu führen, eine Familie zu gründen. Doch er hinterließ den kommenden Generationen seine literarischen Werke, die das wahre Wesen des Krieges entlarven. Die Sinnlosigkeit der nationalsozialistischen Politik zeigt sich im Skelett, in welchem Radi sich nicht erkennen kann, und die Erde, die überall gleich riecht („So riecht alle Erde“) entlarvt die Nazi-Ideologie. Menschen aller kulturellen und nationalen Gruppen haben ein Recht auf das Leben und unsere Erde kann jeder überall betreten. Das Skelett aller Menschen ist gleich, aber die Persönlichkeiten sind unterschiedlich. Und eine Persönlichkeit muss man schätzen und respektieren. Im Text wird auch das Problem des Identitätsverlustes thematisiert. Ich denke, dass Radi auch eine Metapher für junge Soldaten sein kann, die den Krieg überlebten, die besiegt wurden und die nach dem Ende des Krieges eine Krise erleben. Sie haben einen furchtbaren schwierigen Kampf hinter sich und sind innerlich leer, von ihnen ist nur „ein menschliches Skelett“ geblieben und ihr „Stahlhelm…ist ganz verrostet und voll Moos“. Sie sind abgehetzt, verletzt, behindert – verloren. Man fühlt „sich so furchtbar fremd“. Diesen Zustand unterstreichen Radis Verwirrung und Angst vor der Realität mehrere seine Fragen an den Erzähler („Kannst du das verstehen? Sag doch selbst, kann ich das hier sein? Findest du das nicht furchtbar fremd?“) sowie die sich widersprechenden Gedanken („Es ist doch nichts Bekanntes an mir. Man kennt mich doch gar nicht mehr. Aber ich bin es. Ich muss es ja sein. Aber ich kann es nicht verstehen. Es ist so furchtbar fremd.“) Fremdsein und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit in einem fremden Land – im Land des Feindes, wo man keinen Freund oder Bekannten hat – ist eine schwere und schmerzliche Erfahrung, besonders für einen jungen Mann, für einen Schüler. Die Entfremdung von Radi und sein Heimweh und seine Einsamkeit ist durch die Sprache sehr klar ausgedrückt. Das Epitheton „fremd“ gilt als Leitmotiv mit Verstärkung „furchtbar“, „so“ und kommt zusammen mit „steinhart“ und „widerlich“. Die Fremdheit der Naturwird mithilfe von Personifikationen („die Steine stöhnen“, „die Wälder schreien“, „die Schnee schreit“) und expressiv wirkenden elliptischen Sätzen ausgedrückt. Die Episode mit dem Riechen der Erde könnte man als Metapher des langen Prozesses der Rehabilitation nach dem Krieg bezeichnen. Die Dauer wird durch die systematischen Wiederholungen erreicht: „Radi saß und roch und er vergaß mich und er roch und roch und roch. Und er sagte das Wort fremd immer weniger. Immer leiser sagte er es. Er roch und roch und roch“. Und besonders in diesem Kontext spielt der Ich-Erzähler eine wichtige Rolle – er ist ein Freund, ein guter Bekannter, ein Familienmitglied, der seinen Radi akzeptiert, unterstützt und ihn auf den rechten Weg bringt. Meiner Meinung nach sind die Probleme und Themen, die in der Kurzgeschichte angesprochen werden, heute noch aktuell, vor allem dort, wo sich ähnliche schreckliche Geschehnisse abspielen. Auf Probleme wie in Borcherts Geschichte können junge Männer und ihre Familien zum Beispiel in Syrien oder in der Ukraine stoßen, was in unserer Gesellschaft, in der Zeit der Globalisierung, mit Toleranzideen und Umweltschutztrends sehr paradox und ungeheuerlich erscheint. Die Kurzgeschichte „Radi“ hat mich mit ihrem Reichtum an Metaphern und Symbolik, ihrem schwierigen Inhalt und der problematischen Persönlichkeit des Protagonisten beeindruckt. Deswegen habe ich mich für die Analyse dieser Kurzgeschichte entschieden. Ich finde, dass diese Geschichte sehr bildhafte, klare und sehr aussagekräftige Argumente gegen den Krieg liefert. Damit steht sie meines Erachtens in einer Reihe mit Borcherts „Das ist unser Manifest“ und „Dann gibt es nur eins!“. Diese Geschichte soll die Gesellschaft daran erinnern, dass diese fürchterlichen Folgen des Krieges aus der Entscheidung jeder einzelnen Person resultieren, die in den Krieg gezogen ist. Meiner Meinung nach, meint Borchert letzten Endes: Menschen, die voll Zweifel sind, muss man helfen und den richtigen Weg zeigen, der zum Frieden führt.