Römischer Soziologe – Sozialer Bischof: Joannes Aengenent als

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Römischer Soziologe – Sozialer Bischof: Joannes Aengenent als Ideologe und Organisator der
sozialkatholischen Bewegung (in den Niederlanden) 1873-1935.
In der Geschichte des niederländischen Sozialkatholismus nimmt Joannes Aengenent eine eher
untergeordnete Stellung ein. Zwar kommt der Soziologe und Bischof (der Diözese Haarlem) - wie er
üblicherweise bezeichnet wird - oft vor, aber er bleibt im Schatten seines Freundes Piet Aalberse (der
erste Arbeitsminister) und anderer Größen in der Sozialgeschichte wie Alfons Ariëns und Henricus
Poels. Dazu kommt, dass Aalberse und Aengenent als Vertreter der rein katholischen und kirchlichepiskopalen Richtung in der Sozialbewegung keinen guten Ruf bekommen haben. Dies alles führte
dazu, dass die Werke und die Stellung von Aengenent nicht ausreichend gewürdigt wurden. Eine
erste Analyse zeigte nämlich, dass Aengenent viel mehr in seiner Zeit als Professor am
Priesterseminar Warmond publiziert hatte, als bisher wahrgenommen wurde: fast alle Themen der
sozialen Frage seiner Zeit hat er besprochen. Bis jetzt nicht erforschte Archive zeigten außerdem,
dass die von den Historikern eingenommene Positionen nuanciert werden mussten. Interessant ist
auch die Frage, wie er als Bischof diese soziologischen Positionen eingesetzt hat. Die Hauptfrage
dieser Arbeit lautet deshalb: angesichts der Vielfalt an Themen und Tätigkeiten von Aengenent, was
war sein Leitmotiv?
Da Aengenent keine Memoiren oder Tagebücher hinterlassen hat, war es nicht möglich rein
biografisch zu arbeiten. Zwar konnte aus den Archiven und der Sekundärliteratur viele Teile seines
Lebens rekonstruiert werden, aber seine eigenen Positionen blieben hinter seinen Publikationen
verborgen. Deswegen beruht die Arbeit hauptsächlich thematisch auf seine Publikationen als
Soziologieprofessor. Der theoretische Rahmen der Arbeit bietet die Entwicklungsphase des
Katholizismus in den Niederlanden. Nach 1853 wurden die Katholiken und die Kirche in den
Niederlanden zwar rechtlich gleichgestellt, aber sozial blieben sie hinter den liberalen und
protestantischen Eliten. Dies führte zum geschlossenen katholischen Milieu in der Zeit ab 1870, in
dem aus eigener Kraft an der Gleichstellung gearbeitet wurde. Dies hat Aengenent in seiner Kindheit
sicherlich geprägt. Ab der Jahrhundertwende war die Gleichstellung zum Teil erreicht; auch
zahlenmäßig waren die Katholiken zu einer nicht zu unterschätzenden Kraft in der Gesellschaft
geworden. In dieser Zeit wurden auch die Folgen der Modernisierung und Industrialisierung der
Gesellschaft deutlich, unter denen vor allem die Katholiken als Minderheit zu leiden hatten. Sie
wurden deshalb auch explizit aufgefordert, ihre eigenen Probleme zu lösen und am Aufbau des
Wohlfahrtsstaates mitzuarbeiten. Es ist die These dieser Arbeit, dass Aengenent in diesem Rahmen
gesehen und geschätzt werden muss, als jemand, der einerseits versucht hat, die Errungenschaften
des Emanzipationskatholizismus zu bewahren und auszubauen, andererseits aber diese
Errungenschaften in der breiten Gesellschaft seiner Zeit zugunsten dieser Gesellschaft einzubringen.
Das erste Kapitel ist vor allem biografisch. Aengenent wurde in ärmlichen Verhältnissen in Rotterdam
geboren und wuchs in gleichen Umständen in Delft auf. Er studierte zuerst am Kleinseminar (dem
bischöflichen Gymnasium) Hageveld und anschließend am Priesterseminar Warmond. Seine
Leistungen zeigen, dass er immer zu den Besten seines Jahrgangs gehörte. 1897 wurde er zum
Priester geweiht. Er war kurz Kaplan in Roelofarendsveen, bis er 1898 zum Lehrer (Französisch) auf
Hageveld ernannt wurde. In dieser Zeit fing er an, seine ersten soziologischen Werke zu publizieren,
über den Sozialismus und die kapitalistische Gesellschaft. 1904 wurde er Professor an Warmond
zuerst für Philosophie und später Soziologie. Zu dieser Zeit war Warmond wohl die wichtigste
Lehranstalt der Niederlande. Eine schwierige Zeit war allerdings der Modernismusstreit, in dem
einige seiner Kollegen ihr Amt niederlegen mussten. Auch Aengenent wurde modernistischer Ideen
verdächtigt, aber er konnte sich halten, wohl weil der Erzbischof von Utrecht sein Engagement in der
Katholisch-Sozialen Aktion (KSA, ab 1904, zusammen mit Aalberse) sehr wichtig fand. In dieser Zeit
wurden auch seine durchaus erfolgreichen Handbücher zu Philosophie, Soziologie und Psychologie
publiziert. Außerdem fängt er an sich organisatorisch zu engagieren, u.a. bei der KSA, den
Katholikentagen und der katholischen Presse; 1926 wurde er in den Hohen Arbeitsrat berufen, einem
Beratungsgremium der Regierung.
Ab dem dritten Kapitel ist die Arbeit eher thematisch eingeteilt. Zuerst wird die Soziologie von
Aengenent beschrieben. Die Soziologie als Studium der sozialen Frage kam infolge der Enzyklika
Rerum Novarum und der Neothomismus auf, der die wissenschaftliche Erforschung der Welt ernst
nahm. Diese christliche Sozialwissenschaft – und damit die Werke von Aengenent – bekommen in
der Geschichtsschreibung der Soziologie aber wenig Aufmerksamkeit. Neben seinen Artikeln und
Handbüchern schrieb er zwischen 1908 und 1924 123 soziologische Übersichten, Literaturberichte
über aktuelle sozialen Fragen. In Diskussionen mit Kollegen positioniert er sich als römischkatholischer Soziologe, der sich explizit an den sozialen Lehrschreiben der Kirche orientieren möchte.
Im vierten Kapitel wird seine Rolle im niederländischen Gewerkschaftsstreit dargestellt. Die These in
diesem Kapitel ist, dass es Aengenent nicht nur um die Frage katholisch-interkonfessionell ging,
sondern um die Wirkung der katholischen Verbände in und für die Gesellschaft als Ganzes. Dabei
stützte er sich auf den Solidarismus von Heinrich Pesch. Die Archive zeigen außerdem, dass die
Position von Aalberse und Aengenent viel gemäßigter war als bisher dargestellt, aber dass sie vom
Erzbischof und Episkopat beauftragt wurden, die katholische Position gegen die interkonfessionelle
von Poels und Ariëns durchzusetzen. In dem Beschluss von 1916, in dem die ständischen
Organisationen den Fachorganisationen vorgezogen wurden, mussten sie außerdem eine Niederlage
akzeptieren. Die Arbeiterstände waren für Aengenent eine Art, die Solidarität in der Gesellschaft
wiederherzustellen; angefangen bei den eigenen Organisationen, sollte die Gesellschaft auf der Basis
der katholischen Gesellschaftslehre neu eingerichtet werden, ökumenische Zusammenarbeit wurde
dabei nicht ausgeschlossen.
Im fünften Kapitel werden seine Schriften zur Arbeitsfrage besprochen. Aengenent war Befürworter
eines gerechten Mindestlohnes, von dem die Arbeiter auch nach Pensionierung oder bei Krankheit
leben konnten; Maßnahmen wie den achtstündigen Arbeitstag begrüßte er. In der
Betriebsorganisation unterstützte er das Mitbestimmungsrecht und die Einrichtung von
Betriebsräten, damit war Sozialisierung wie die Sozialisten sie befürworteten für ihn überflüssig
geworden. Im sechsten Kapitel geht es um die sozialen Fragen, die durch die Emanzipation der
Frauen hervorgerufen wurden. Die Frauenbewegung, von der er einer der Gründerväter ist, sollte
Frauen zwar schulen, damit sie mit den Männern mitreden und sie bei ihren öffentlichen Aktivitäten
beraten konnten, aber eine eigene öffentliche Aktivität, vor allem das Wahlrecht, untersagte er den
Frauen. Auch hat er über Sozialgesetzgebung für Arbeiterfrauen geschrieben. Als Bischof wurde er in
die Fürsorge für deutsche (katholische) Dienstmädchen einbezogen, die in den Großstädten seines
Bistums tätig waren.
Im siebten Kapitel wird seine Psychologie beschrieben. Aengenent bestritt das individualistische,
subjektive Menschenbild in der modernen Psychologie und vor allem in der Freud‘schen
Psychoanalyse, das vor allem von der eigenen Wahrheit aus geht. Auch die Anwendung dieser
Ansichten auf religiöse Phänomene hält er für falsch und unzutreffend, sie verringerten die
Wirksamkeit von Gott. Die Anwendung in der Praxis der Schule und des Gesundheitswesens hält er
für sehr bedenklich. Im achten Kapitel sind seine Publikationen über Fragen von Krieg und Frieden
beschrieben. Die Niederlande blieben im ersten Weltkrieg zwar neutral, aber der Schock war nicht
weniger groß. In einigen mehr theologischen Beiträgen verwirft er den Krieg als nicht gottgewollt,
sondern von Menschen gemacht, die ihren eigenen Interessen nachgehen. Er diskutiert mit
Publizisten, die meinen, das internationale Recht treffe nicht zu, weil Deutschland als europäischer
Kulturstaat das Recht hat, seine Interessen durchzusetzen. Er ruft die Katholiken auf, sich aktiv in der
Friedensbewegung engagieren, was er selbst auch tut. Es ist für ihn klar - anschließend an die
Rundschreiben der Päpste -, dass der Krieg eine Folge der moralischen Entgleisung der Europäischen
Gesellschaften ist, was ihn in seinen soziologischen Stellungnahmen bestätigt.
Am 29. Juni 1928 wird seine Ernennung zum Bischof als Nachfolger des verstorbenen Mgr. Callier
bekanntgegeben. Über die Weihe durch den apostolischen Nuntius gab es noch eine Diskussion mit
dem Erzbischof, der fand, dass ihm dieses Recht vorbehalten sei. Sein Motto wurde Justitia et Pax
und in seinem ersten Brief zitierte er aus dem Johannesevangelium: Kinder, habt einander lieb,
wobei er die Nichtkatholiken einschloss. In seinem Episkopat (Kapitel neun) gibt es einige
nennenswerte Akzente. Er reorganisierte die Jugendarbeit und wollte sie aus den Pfarreien in die
Gesellschaft bringen, dabei auch modernere Arbeitsmethoden anwenden (vor allem Beispiel des
Grals). Die Katholikentage im Bistum machte er für den einfachen Mann zugänglicher. In der Presse
blieb die Frage nach der nationalen katholischen Zeitung aber ungelöst; auf vielen anderen Gebieten
stärkte Aengenent die eigene Position des Bistums Haarlems in der Bischofkonferenz. In der
Ausbildung förderte er ein höheres, wissenschaftliches Niveau und verlängerte das
Philosophiestudium. Er war ein entschiedener Kämpfer gegen den Nationalsozialismus in der
Bischofskonferenz, der sich auch unter den deutschen Dienstmädchen zeigte. Er förderte die Orden
und Kongregationen und die Pilgerstätten in seinem Bistum, weil er damit an die mittelalterliche
Geschichte anknüpfen wollte. Schließlich wurden unter seinem Episkopat viele Kirchen gebaut, auch
um der wachsenden Bevölkerung gerecht zu werden. Dies führte allerdings zu einer finanziellen Krise
des Bistums. Er zeigte sich als ein stiller Befürworter der liturgischen Bewegung, auch weil diese eine
geistliche Erneuerung zugunsten der christlich-sozialen Aktion erreichen wollte. Im letzten Kapitel
wird seine kurze Krankheit, sein Sterben (am 3. September 1935) und seine Beerdigung beschrieben.
Zusammenfassend kann über die Position von Aengenent gesagt werden, dass er für eine Erneuerung
der Kirche und der Gläubigen (einschließlich den Priestern) stand und von dort aus eine Erneuerung
der Gesellschaft anstrebte. Aus dem Katholizismus heraus sollten die gesellschaftlichen Probleme
gelöst und so die Gesellschaft zu ihrem Ziel gebracht werden. Organisatorisch war er bei der KSA, bei
den Katholikentagen und später in der Bischofskonferenz dauernd im Zentrum der katholischen
Sozialbewegung und war damit eine wichtige Übergangsfigur zwischen dem geschlossen katholischen
Milieu und dem offenen Katholizismus der Nachkriegszeit.
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