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Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht
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1 Kapitel 1
2
3 Am Anfang war das Wort. So heißt es zumindest in der Bibel.
4 Ich bin nicht religiös- in keinster Weise, aber ich weiß
5 nicht wie ich anfangen soll. Und wenn dieser Anfang gut
6 genug für den Beginn des Johannesevangeliums war, ist er
7 auch gut genug für das hier.
8 Das hier ist sowas wie meine Geschichte. Und weshalb ich sie
9 aufschreibe, muss ich erst selbst noch herausfinden.
10 Sicherlich nicht, um sie zu veröffentlichen und sicherlich
11 nicht, um das zu verarbeiten, was passiert ist. Aber
12 irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich es ihr schuldig bin13 und mir bin ich es auch schuldig.
14 Den Glauben an Gott habe ich schon lange verloren. Ich bin
15 mir nicht mal sicher, ob ich ihn davor jemals gefunden
16 hatte. Jedenfalls habe ich aufgehört an eine höhere Macht zu
17 glauben- sei es Gott oder Zeus oder das Karma-, als mein Dad
18 meinen großen Bruder tot prügelte, als meine Mom mich aus
19 der Wohnung warf und zuletzt- zuletzt, als ich das wohl
20 bedeutendste meines Lebens verloren habe.
21 Ich lebe draußen auf der Straße. Seit zwei Jahren- seit
22 meinem fünfzehnten Geburtstag, um genau zu sein. Es war
23 jetzt nicht so, dass meine Mutter sagte: „Happy Birthday
24 Healy und jetzt mach dich vom Acker.“, aber so ziemlich
25 ähnlich.
26 Sie konnte es sich nicht leisten mich durchzufüttern, meinte
27 sie. Meiner Meinung nach gibt sie mir noch immer die Schuld
28 an Kurts Tod.
29 Das ist jedoch eine andere Geschichte.
30 Womöglich denkst du jetzt wie schwer und hart es für einen
1
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1 Jugendlichen ist obdachlos zu sein- und da hast du recht.
2 Doch auf eine gewisse Weise ist es auch das ehrlichste auf
3 der Welt. Bist du obdachlos erlebst du das nackte und
4 wahrhaftige Leben. Du gibst ihm keine Chance dich zu
5 verarschen. Du lebst nicht in einer Blase, die dir
6 vorspielt, alles sei in Ordnung. Es gibt kein schönes
7 Vorstadthaus, das die Geheimnisse der Bewohner verbirgt.
8 Nichts scheint zu sein.
9 Alles ist wie es ist.
10 Die Straße ist keine Illusion.
11 Einfacher ist es jedoch nicht. Ich bin weder der harte Kerl,
12 der sich durchschlägt und sein Ding durchzieht, noch das
13 arme unschuldige Mädchen, das Mitleid erregt. Passanten
14 geben mir kein Geld, sie schauen mich nicht einmal an. Es
15 ist als ob ich gar nicht existiere. Für Fußgänger sind die
16 dunklen Nischen der Innenstadt, Hauseingänge oder die
17 dreckigen Plätze unter eine Brücke nur verschwommene Zonen,
18 die sie mit ihren Tunnelblicken nicht wahrnehmen können. Und
19 das können sie nicht, weil sie die Wahrheit nicht ertragen.
20 Weil sie lieber an ihr Fertighaus, ihre Fertigfamilie und
21 ihr Fertigleben festhalten. Dass davon nichts echt ist,
22 wissen sie gar nicht.
23 Aber ich schlafe nicht auf der Straße. Ich schlafe in Autos.
24 Kurts Vermächtnis ist das Auto knacken und es lebt in mir
25 weiter. Abends nach dem Feierabendverkehr suche ich mir eins
26 aus- freie Auswahl für Kriminelle- und öffne die Autotür mit
27 ein bisschen Geschick. Ich öffne sie mit Kurts Zaubertrick.
28 Dann schlafe ich auf der Rückbank- und am nächsten Tag, in
29 der Morgendämmerung, bin ich schon weg.
30 Anfangs war es ziemlich schwer, da wusste ich nicht wie das
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1 Leben ohne Dach funktioniert. Ich wusste nicht, ob ich
2 betteln oder klauen sollte- oder ob ich mich bei einer
3 Anlaufstelle für Penner melden sollte. Ich wusste auch nicht
4 wo die Suppenküche in Oklahoma City zu finden war. Oder ob
5 ich mir als Statement einen Schäferhund Mischling zulegen
6 sollte. Aber dann besann ich mich zurück auf dünnen Jim.
7 Dünner Jim ist ein Stück aus langem, biegbarem Metall mit
8 einem Haken am Ende. Jim ist ein unverzichtbarer Helfer, um
9 Autotüren aufzubekommen. Hebelt man die Autotür leicht an
10 der Stelle zur Seite wo sie
auf den Türpfosten trifft, kann
11 man leichtfertig Jim ins Innere des Autos einführen und den
12 vertikalen Knopf nach oben ziehen und zack- hat man Zugang
13 ins Innere und die Aussicht auf ein warmes Schläfchen. Das
14 funktioniert jedoch nicht bei allen Autos- definitiv nicht
15 bei den neuen Luxusmodellen, die gegen Autodiebe geschützt
16 sind. Aber ich habe auch gar nicht die Absicht die
17 Fertigautos der Fertigmenschen zu knacken. Außerdem wäre das
18 auch viel zu auffällig. Lieber wähle ich einen rostigen
19 Kleinwagen aus, am besten mit verbeulter Stoßstange.
20 Ich weiß ich hätte zum Jugendamt gehen können. Aber aus
21 welchem Grund auch immer, erschien mir diese Idee total
22 abwegig. Bestenfalls hätten sie meiner Mutter das Sorgerecht
23 entzogen und ich wäre in irgendeinem baufälligen Heim für
24 beschränkte Jugendliche gelandet. Ich bin mir ziemlich
25 sicher, dass das das größere Übel gewesen wäre. Und auf der
26 Straße fühle ich mich frei. Wenn ich nach oben gucke, sehe
27 ich keine Decke von der der Putz bröselt, sondern den
28 Sternenhimmel- und das hat was von Erleuchtung. Man fühlt
29 sich plötzlich klein und unbedeutend. Man ist nur noch ein
30 winziger Teil des großen Ganzen. So winzig, dass das
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1 Universum mich wahrscheinlich nicht mal wahrnimmt. Die
2 Grenze zwischen Existenz und Nichts verschwimmt und alles
3 was übrig bleibt ist ein melancholisches Bauchgefühl und ein
4 Kloß im Hals.
5 Ich besitze nicht viel. Das ist auch gut so, denn es wäre
6 verdammt problematisch mit einem Dutzend Umzugskartons im
7 Auto zu pennen. Meine Habseligkeiten beschränken sich auf
8 eine akustische Gitarre, der eine Seite fehlt und auf den
9 Namen Johnny Doe getauft wurde und einen abgewetzten
10 Rucksack mit einem gerissenen Träger und temporären Inhalt.
11 Das einzige was wohl permanent dort drinnen vorzufinden ist,
12 ist ein abgegriffenes Notizbuch, das Nevermind Album und ein
13 Foto von Kurt und mir. Die Gitarre hat mir Kurt vor einigen
14 Jahren vom Schrottplatz mitgebracht. Ich bin kein besonders
15 guter Musiker und mein Inventar an Songs beschränkt sich auf
16 ein paar Riffs vom ausgelutschten Stairway To Heaven, der
17 Refrain von Territorial Pissings und Wish You Were Here.
18 Aber Musik ist sowas wie eine Konstante in meinem Dasein und
19 das, was mich den Bullshit des Lebens für einen kurzen
20 Augenblick vergessen lässt.
21 Kurt hat immer gesagt: „Es gibt keine Überdosis an Musik.“
22 Kurt war mein Held.
23 Als ich noch ein kleiner Pimpf war, hing ich an ihm dran wie
24 ein nerviges Mädchen, das nicht genug von ihrem Freund
25 kriegt. Und Kurt konnte wahnsinnig toll singen. Seine Stimme
26 war tief und harmonisch. Wenn man ihm zugehört hat, hat man
27 sich angekommen gefühlt. Kurts Stimme hat sich angefühlt wie
28 die Sonne auf der Haut nach drei Tagen Regenwetter oder der
29 weiche Blick einer liebenden Mutter.
30 Jetzt hört keiner seine Stimme mehr.
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1 Als er so alt war wie ich jetzt schlug mein Vater ihn
2 krankenhausreif zusammen. Eine gebrochene Rippe hat sich in
3 seine Lunge gebohrt. Als wir ihn letztendlich in die
4 Notaufnahme fuhren, war es schon zu spät.
5 Ersticken ist ein grausamer Tod. Der Körper lechzt
6 verzweifelt nach Luft. Doch alles was man einatmet ist
7 steigende Panik.
8 Mein Dad sitzt heute im Oklahoma State Penitentiary. Fünf
9 Jahre für fahrlässige Tötung. Ich wünschte sie würden ihn
10 dort versauern lassen.
11 In den nächsten Monaten entlassen sie ihn frühzeitig wegen
12 guter Führung. Würde ich an Gott glauben, würde ich dafür
13 beten, dass er in eine Schlägerei verwickelt wird und mit
14 einer zugespitzten Zahnbürste erstochen- oder dafür, dass er
15 sich in der Gruppendusche nach der Seife bückt.
16 Ich war niemals verantwortlich für Kurts Tod. Mein Dad kam
17 nach einer seiner Saufeskapaden betrunken nach Hause. Und
18 mir reichte es. Ich warf ihn all die Dinge an den Kopf, die
19 ich all die Jahre zurück gehalten hatte. Ich warf ihn an dem
20 Kopf wie er uns im Stich gelassen hatte und lieber Geld
21 verspielte, als welches heranzuschaffen. Ich warf ihm vor,
22 dass er nicht mein Vater ist, nur weil er mein biologischer
23 Erzeuger ist und ich warf ihm all die vielen Male vor, als
24 er Kurt, meine Mom oder mich ins Gesicht ohrfeigte, um
25 seinen Ärger auszulassen.
26 Ich warf ihn an den Kopf, ich wünschte er wäre tot.
27 Das war der Punkt, der ihn zur Weißglut brachte. Es kümmerte
28 ihn nicht, dass er mir egal war, dass er seine Pflichten als
29 Vater nicht erfüllte. Aber was er nicht ertrug, war das. Das
30 war es, was sein übermäßiges Ego nicht aushalten konnte. Und
5
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1 deshalb ging er auf mich los. Einen dreizehnjährigen. Und
2 bevor er mir mehr anhaben konnte, als ein blaues Auge ging
3 Kurt dazwischen. Kurt hatte mich gerettet- aber zu welchem
4 Preis. Ich bin mir nicht mal sicher, ob mein Dad bemerkte,
5 dass er nun Kurt anstatt mich schlug. Er war in Trance. In
6 einem Rausch, angetrieben von all der angestauten Wut, die
7 er zulange hatte zurück halten müssen. Angetrieben von
8 Alkohol. Angetrieben von Hass auf die Verantwortung, die er
9 eingegangen war, als er meine Mom schwängerte.
10 Er schlug. Und schlug. Und schlug.
11 Er schlug noch, als Kurt sich nicht mehr regte. Ich kann
12 mich mehr daran erinnern, wann er aufhörte. In meiner
13 Erinnerung hat er nie damit aufgehört.
14
15 Kapitel 2
16
17 Aber ich möchte nicht über die Sache mit meiner Familie
18 schreiben. Das hier ist die Geschichte über etwas anderes
19 und alles begann, als ich auf der Rückbank eines alten Volvo
20 saß.
21
22 Ich mache mir keine Mühen im Sitz zu versinken- die Sonne
23 ist schon fast untergegangen und das Auto steht abseits von
24 der nächsten Laterne. Johnny liegt in meinem Schoß und ich
25 greife wie schon tausende Male die Akkorde von Wish You Were
26 Here. Das Intro von Pink Floyd hat sich so stark in mein
27 Hirn gebrannt, dass meine Finger automatisch die Griffe
28 finden.
29
30 “So, so you think you can tell
6
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1 Heaven from Hell
2 Blue skies from pain
3 Can you tell a green field
4 From a cold steel rail?
5 A smile from a veil?
6 Do you think you can tell?”
7
8 Meine Stimme ist nicht mit Kurts zu vergleichen. Sie ist
9 viel dünner und weniger kraftvoll. Kurts Stimme ist der
10 Mount Everest, meine ist der Hügel vor dem Sportplatz. Ich
11 weiß noch wie es klang, wenn er diese Strophe sang. Gefüllt
12 mit so viel Schmerz und Leid, dass einem das Herz nur durchs
13 Zuhören blutete. Kurts Musik war echter, als es die Straße
14 je sein könnte. Er hätte von Einhörner-reitenden Aliens, die
15 Russland erobern singen können und man hätte es ihm
16 abgenommen.
17 Da ich nicht weiß wie der Song weiter geht, lege ich Johnny
18 Doe beiseite und rolle mich auf der Rückbank ein. Es ist
19 zwar schon Frühling, doch die Abende und Nächte sind kalt
20 und ich kann die Heizung im Auto nicht anschalten ohne den
21 Motor zu starten. Ich ziehe die Kapuze meines Pullis über
22 den Kopf und verstecke meine Hände in den Ärmeln, rolle mich
23 noch etwas enger zusammen. Ich will nicht wissen wie kalt es
24 ohne diese Blechbüchse wäre. Langsam gleitet der Schlaf über
25 mich her und nimmt mich mit in seine temporären Abgründe des
26 Nichts. Nimmt mich mit in seine zeitlich-beschränkte
27 Erlösung des Nicht-Träumens und Nicht-Denkens. Erlöst mich
28 für ein paar Stunden von dieser beschissenen Welt.
29
30 Ich schrecke hoch, als es plötzlich gegen die Scheibe
7
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1 klopft. Zuerst ist meine Sicht noch betrübt, doch dann
2 erkenne ich das Gesicht vor mir. Die glasigen Augen hinter
3 der Hornbrille schauen mich überrascht an.
4 „Healy Lytton?“
5 Wer mich da so anglotzt ist Mr. Bilsted, mein
6 Englischlehrer.
7 Scheiße.
8 Ich bin niemand, der es an die große Glocke hängt, obdachlos
9 zu sein oder ein Kleinkrimineller. Und ich habe keine Ahnung
10 wie ich aus dieser Situation rauskommen soll. Mein erster
11 Impuls ist aufzuspringen und zu rennen. Aber daraus wird
12 nichts. Ich sitze in der Falle.
13 Vielleicht glaubt er mir, dass es sich um meinen Wagen
14 handelt. Dass ich wie jeder normale pubertierende Teenager
15 mit meinen Eltern Zoff hatte und deshalb die Nacht im Auto
16 verbringe.
17 „Was machst du in meinem Volvo?“
18 Es stimmt nicht, dass alles noch beschissener kommt, wenn
19 man meint: „Wenigstens kann es jetzt nicht schlimmer
20 werden.“ Wie in den Spielfilmen, in denen es dann auf einmal
21 anfängt zu pissen, als müsse Gott sich um fünf Tonnen
22 Apfelsaft erleichtern. Meistens wird es dann schlimmer, wenn
23 man sich einen Plan zu Recht gelegt hat. Wenn man denkt, man
24 hat einen Ausweg aus der Scheiße gefunden.
25 Ich steige aus, mir bleibt ja nichts anderes übrig.
26 Ich kratze mich an meinem Hinterkopf und schaue auf den
27 Boden. Verlagere mein Gleichgewicht vom einen Bein aufs
28 andere, finde trotzdem keinen sicheren Stand.
29 „Ist alles in Ordnung bei dir?“
30 Der Bilsted guckt mir besorgt in die Augen, meint es ernst.
8
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1 „Wirklich? Ich bin in ihr Auto eingebrochen und sie fragen
2 mich, ob bei mir alles in Ordnung ist? Fragen sie das auch
3 Osama Bin Laden, wenn seine Crew nochmal in einen unserer
4 Wolkenkratzer fliegt?“
5 „Osama Bin Laden ist tot. Und ich denke, es gibt da schon
6 noch einen Unterschied zwischen meinem Schüler und einem
7 Terroristen.“
8 „Tut mir Leid.“
9 „Was tut dir leid? Der Einbruch oder deine sarkastische
10 Bemerkung darauf?“
11 „Beides, Mann.“
12 „Passt schon. Hast du Hunger?“
13 Ich werde aus dem Kerl einfach nicht schlau. Aber es ist
14 bestimmt schon nach Mitternacht und mein Magen kreischt nach
15 was Essbarem. Wir gehen zu Steak ‘n Shake, weil es direkt um
16 die Ecke zu finden ist. Bilsted zahlt für mich und ich
17 bestelle einen Cheeseburger, Nacho Fries und Buffalo Chicken
18 Finger. Mein Englisch-Guru bestellt sich eine große Cola.
19 Mist, ich hab‘ das Getränk vergessen.
20 Als die Bedienung namens Mindy (auf ihrem Namensschild hängt
21 Ketchup über dem „M“, vielleicht heißt sie auch Cindy), uns
22 unsere Bestellung auf einem Tablett überreicht, setzen wir
23 uns in eine der Nischen und ich beginne zu essen. Ich weiß
24 es ist ziemlich unhöflich drei Hauptgerichte zu bestellen
25 und den Besitzer des Autos, in das man gerade eingebrochen
26 ist, bezahlen zu lassen. Aber ich habe schon seit einer
27 gefühlten Ewigkeit nichts Richtiges mehr gegessen. Weder die
28 Schulcafeteria, noch die Suppenküche kann mit einer billigen
29 Fast-Food-Kette mithalten.
30 Bilsted schiebt mir die Cola hin: „Du hast vergessen, was zu
9
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1 trinken zu bestellen.“
2 Ich schaue ihn wohl ein wenig ungläubig an, denn er fügt
3 hinzu: „Nimm schon. Die Cola reißt es auch nicht raus.“
4 Und bevor er sich es anders überlegt, nehme ich einen großen
5 Schluck, möchte mich bedanken, doch alles was raus kommt ist
6 ein Rülpser. Jetzt bin ich wohl endgültig unten durch bei
7 ihm.
8 „Warum hast du in meinem Auto geschlafen?“
9 Die Frage alle Fragen.
10 Unvermeidlich, ich weiß schon.
11 „Ich mag den Kick, den man beim Autoknacken verspürt. Lebe
12 gefährlich, aber lebe berauscht.“
13 „Versuch erst gar nicht mich hinters Licht zu führen, Healy,
14 raus mit der Wahrheit.“
15 „Wenn ich Ihnen die Wahrheit erzähle, rufen sie
16 wahrscheinlich nur das Jugendamt.“
17 „Das werd‘ ich nicht machen, wenn du es nicht willst.“
18
19 Also erzähle ich es ihm. Ich lasse zwar die Geschichte von
20 meinem Vater und von Kurt weg, aber den ganzen Rest erfährt
21 er.
22
23 Als ich mit meinem Bericht fertig bin, nehme ich einen
24 letzten Schluck Cola und starre dann auf den Boden des
25 Pappbechers, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll.
26 Zum Glück übernimmt Bilsted das für mich.
27 „Ich mache mir Sorgen um dich, Healy.“
28 Ich starre noch immer auf den Boden des Bechers, als ob ich
29 Gottes Offenbarung dort finden würde.
30 „Einen Sozialarbeiter mit einzubeziehen wäre sicherlich eine
10
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1 Option, aber du bist schon fast erwachsen. Ich denke eine
2 andere Lösung wäre sinnvoller.“
3 „Und die wäre?“
4 „Du brauchst wieder etwas Perspektive in deinem Leben. Ich
5 versuche schon seit langem eine Selbsthilfegruppe in der
6 Schule einzurichten. Für Jugendliche wie du. Aber ich
7 brauche noch einen Leiter. Jemand, der weiß, was diese Kids
8 durchmachen müssen.“
9 Ohne lange nachzudenken, lehne ich ab. Ich werde doch keinen
10 Seelenklempner für verkorkste Außenseiter spielen.
11 „Nein. Wirklich, da fragen sie den falschen.“
12 „Das war kein Angebot, Healy. Entweder du übernimmst diese
13 Aufgabe oder ich muss die Polizei von deinem Einbruch
14 informieren.“
15 Erpressung, also. Ich hätte Mr. Bilsted nicht für so
16 abgebrüht gehalten.
17 „Überleg es dir und komm dann morgen nach dem Unterricht auf
18 mich zu.“
19 Bilsted wischt sich seinen Mund mit einer Serviette ab,
20 obwohl weder etwas getrunken, noch gegessen hat, steht
21 daraufhin auf und verlässt den Schnellimbiss. Ich sitze hier
22 und starre auf die letzten drei Chicken Finger.
23 Dann reiße ich mich zusammen und gehe auch. Es ist längst
24 nach Mitternacht und in Bilsteds Auto zu übernachten kann
25 ich mir jetzt wohl abschminken. Trotzdem mache ich mich auf
26 den Weg zu dem Parkplatz in der Hoffnung, dass Bilsted mein
27 Zeug an den Bordstein gestellt hat. Als ich um die Ecke
28 komme, stehen meine Gitarre und mein Rucksack tatsächlich an
29 einem Laternenpfahl, angestrahlt von dem künstlichen Licht,
30 das in
unregelmäßigen Abständen flackert. Obwohl mir
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1 Bilsted gerade einen Ausweg angeboten hat, sehe ich keine
2 Zukunft für mich. Im echten Leben schaffen es Leute wie ich
3 nicht. Der American Dream ist nur für Menschen gemacht, die
4 sich ein Bett leisten können, in welchem sie träumen können.
5 Ich lehne mich gegen die Wand des nächstgelegenen
6 Hauseingangs, ziehe mir einen zweiten Pulli über den Kopf,
7 den ich in meinem Rucksack finde und schließe die Augen. Es
8 sind nur noch ein paar Stunden bis zum Sonnenaufgang. Das
9 passt schon.
10
11 Kapitel 3
12
13 Könnte gut sein, dass Bilsted blufft. Aber ich kann mir
14 keine Bluffs leisten sowie ich mir keine Jordans leisten
15 kann und deswegen komme ich am Ende der Stunde auf ihn zu
16 und nehme sein Angebot an.
17 „Das freut mich Healy. Wir wissen wohl, was wir sind, aber
18 nicht, was wir werden können.“
19 „Was?“
20 „Shakespeare. Aus Hamlet.“
21 „Aha.“
22 Natürlich musste der Englischlehrer im Pullunder und mit
23 Hornbrille jetzt ein Zitat aufsagen.
24 „Du meldest dich dann Freitag nach dem Lunch im Klassenraum
25 über der Aula. Und vergiss nicht den Essay über die
26 russische Revolution nachzureichen. Ms. Storch hat mir
27 mitgeteilt, dass du den Abgabetermin schon wieder verpasst
28 hast.“
29 „In Ordnung.“ Ich ziehe die Worte betont lang, kratze mich
30 an meiner linken Augenbraue und finde meinen Weg aus dem
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1 Klassenraum. Der Essay hat mir gerade noch gefehlt. Seit
2 wann nehmen wir denn Russland durch? Ich dachte ich hätte US
3 History belegt…
4 In der fünften Stunde sind die Korridore immer besonders
5 voll, da die meisten Schüler jetzt ihre Mittagspause haben.
6 Ich gehöre zu ihnen. Ich überhole zwei Mädchen aus der
7 Frischfleisch-Sektion im Schneckentempo und sprinte die
8 Treppe hinunter zur Cafeteria und reihe mich in die Schlange
9 zu meiner Lieblingsküchenhilfe ein. Ich bestelle ein viel zu
10 kleines Pizzastück und eine Milchtüte. Regina packt einen
11 Apfel dazu, den sie nicht berechnet. Ich fische fünf Dollar
12 aus meiner Hosentasche, die ich noch von einem Aushilfsjob
13 auf einer Baustelle habe und nicke ihr dankbar zu. Dann
14 verschwinde ich.
15 Ich setze mich an den Tisch im Freien, wo Tony schon mit dem
16 Essen begonnen hat. Tony ist jemand, den ich wohl noch am
17 ehesten als einen Freund bezeichnen würde. Er ist der Typ
18 Mensch, der vollkommen zugedröhnt eine Diskussion über die
19 Gefahren von Gras gewinnen würde. Er schiebt mir die Hälfte
20 seiner Pommes rüber. Sie sind etwas weich, aber sie machen
21 satt.
22 „Sag mal, seit wann ist Russland Teil der USA?“
23 „Wenn du Verschwörungstheoretikern glaubst, seit dem
24 Golfkrieg.“
25 „Nein, ernsthaft. Ich dachte wir hätten US History belegt.“
26 „Nicht so ganz. Ms. Storch unterrichtet AP World History.“
27 Ich schlucke einen Bissen Pizza hinunter und gebe ein
28 Grunzen von mir.
29 „Hast wohl vom Essay erfahren.“ Tony grinst.
30 „Ich muss auch noch so eine beschissene Gruppe für
13
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1 unbemittelte Jugendliche leiten.“
2 „Meinst du das ernst oder verarschst du mich?“
3 „Nein, ganz ehrlich. Freitag in den sechsten Stunde.“
4 „Vielleicht schau‘ ich mal vorbei.“
5 Jetzt lachen wir beide.
6 Tony und ich sind Freunde seit dem letzten Schuljahr. Wie es
7 zu unserer Freundschaft kam, ist keine besonders spannende
8 oder außergewöhnliche Geschichte. Wenn man es so betrachtet
9 ist sie sogar ziemlich langweilig. In unserem Junior-Jahr
10 waren wir beide im gleichen Spanisch-Kurs. Wir saßen beide
11 nebeneinander in der letzten Reihe und wichen den suchenden
12 Blicken von Ms. Sanchez aus, wenn sie jemanden aufrufen
13 wollte. Spanisch war die Stunde vor dem Lunch und so kam es
14 dazu, dass wir zusammen in die Cafeteria gingen und uns
15 unser Mittagessen holten- und die nächsten Male eben auch.
16 Neben Mr. Bilsted ist Tony der einzige Mensch, der von
17 meinen kleinkriminellen Aktivitäten weiß. Warum ich ihm
18 davon erzählt habe? Vielleicht einfach aus dem Grund, dass
19 er die einzige Person ist mit der ich sprechen kann. Mein
20 Leben auf der Straße ist ziemlich einsam und in der Schule
21 falle ich auch nicht sonderlich auf. Eigentlich werde ich
22 erst gar nicht wahrgenommen. Die Schüler in den Korridoren
23 gleichen in dieser Hinsicht den Passanten auf der Straße:
24 Volle Kraft voraus mit Tunnelblick.
25 Bloß keine Information zu viel aufnehmen.
26 Es ist schon eigenartig wie man sich in einer Schule voller
27 Menschen so schrecklich allein fühlen kann.
28 Außerdem stellt Tony keine Fragen. Das ist eine verdammt
29 seltene Eigenschaft heutzutage. Heutzutage muss man sich für
30 jeden noch so banalen Scheiß rechtfertigen. Und ein „Weil
14
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1 ich darauf Lust habe“ wird schon längst nicht mehr
2 akzeptiert, wenn die Frage „Warum tust du das?“ lautet. Ich
3 will hiermit nicht sagen, dass es falsch ist, Dinge in Frage
4 zu stellen. Aber manchmal sollte der Mensch einfach seinen
5 Mund halten. Als ich Tony meine Geschichte erzählt habe, hat
6 er nicht versucht, mir irgendwelche Möchtegern Ratschläge zu
7 erteilen oder einen auf Pseudo-mitfühlend gemacht. Alles was
8 er gesagt hat, war: „Das Leben fickt uns alle mal.“
9 Tony ist ein wirklich cooler Dude.
10 Und ich bin verdammt dankbar für seine Coolness.
11 Nach dem Lunch habe ich noch zwei Schulstunden: Biologie und
12 Mathe. Währen ich in Bio dieses Jahr wahrscheinlich
13 durchfallen werde, bin ich in Mathe ein Ass. Mathe ist
14 einfach. Es gibt Regeln und es gibt eindeutige Ergebnisse.
15 Man braucht kein Sprachgefühl wie in Spanisch und man muss
16 auch keine abwegigen Interpretationen von Romeo und Julia
17 verschriftlichen.
18 Als die Schulglocke endlich das Ende der Schulstunde
19 verkündet, bin ich der Erste, der den Raum verlässt. Da ich
20 noch den Essay schreiben muss, mache ich mich auf den Weg in
21 die Bibliothek. Ich bin ziemlich selten hier, sodass mir die
22 Stille ins Gesicht schlägt, als ich den Raum betrete. Ich
23 bin den Geräuschpegel des Schulgeländes schon so gewöhnt,
24 dass das Schweigen hier schon fast verdächtig wirkt. Stille
25 ist ebenso selten wie Menschen, die ihren Mund halten können
26 und deswegen ein Grund sie mit vollen Zügen zu genießen.
27 Viele Menschen fangen sich an unwohl zu fühlen, wenn es
28 länger leise ist. Viele sehen in Stille nichts als etwas
29 Eigenartiges und Beklemmendes. Tatsächlich ist Stille jedoch
30 wunderschön. Und viele Menschen scheinen ein Problem mit
15
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1 Schönheit zu haben.
2 In der Abteilung über die Weltgeschichte sitzt nur ein
3 Mädchen, das sich in eine Ecke gekauert hat und in einen
4 Atlas vertieft ist; ich schenke ihr keine weitere Beachtung.
5 Ich ziehe einen dicken Schmöker über die Geschichte
6 Russlands heraus und setze mich an einen der Holz7 Schreibtische. Es scheint als hätte schon so ziemlich jeder
8 Schüler seine Spuren auf dem Tisch hinterlassen. Das helle
9 Holz ist unter all den Initialen und Verewigungen kaum mehr
10 zu erkennen. Ich fahre mit meinem Finger über einen
11 eingeritzten Spruch:
12 „silence is so accurate.“
13 Da draußen gibt es also doch noch eine Seele, die so denkt
14 wie ich. Ich schmunzele.
15 Dann beginne ich in dem dicken Wälzer einen Artikel über die
16 russische Revolution zu suchen. Zu meinem Pech gibt es
17 darüber einen ganzen Haufen.
18 Auswirkungen, Ursachen, Verlauf, Folgen, …
19 Alles was ich brauche ist eine knappe Zusammenfassung, die
20 ich umformulieren kann. Da anscheinend keine gibt, bleibt
21 mir wohl oder übel nichts anderes übrig, als mich durch die
22 Texte zu quälen und Stickpunkte heraus zu schreiben, um sie
23 später in einem Fließtext zu verbinden. Ich muss meinen
24 Essay auf die gute alte Art schreiben, keine Chance mich
25 durch zu schummeln.
26
27 Die Sonne ist schon untergegangen, als ich den letzten Satz
28 zu Ende schreibe. Endlich fertig zu sein ist eine größere
29 Erleichterung als mir bewusst ist. Anspannung fällt von
30 meinen Schultern und ich kann leichter atmen. Ich weiß, dass
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1 mein Essay gut ist, weil ich mich reingekniet habe, weil ich
2 zur Abwechslung ehrlich gearbeitet habe und nicht versucht
3 habe der Verantwortung durch zu rutschen.
4 Tatsächlich ist das „sich-durchs-Leben-durch-schummeln“ die
5 letzten Jahre meine Devise gewesen. Von Tag zu Tag zu leben.
6 Ich habe mich durch meine Abschlussarbeit in Spanisch
7 geschummelt, indem ich Ms. Sanchez verarscht habe. Am
8 Abgabetermin habe ich einfach nichts eingereicht und als Ms.
9 Sanchez uns unsere Arbeiten eine Woche später benotet
10 zurückgab, habe ich gefragt, wo denn meine sei. Ms. Sanchez
11 war so peinlich berührt von dem Gedanken, einfach meinen
12 Aufsatz verloren zu haben, dass sie mir aus Schuldgefühlen
13 eine ziemlich gute Note gab.
14 Und als ich mich für einen Aushilfsjob in der Küche eines
15 Imbisstrucks beworben habe, bin drum herum gekommen, meine
16 Papiere zeigen zu müssen. Auf die Frage nach meiner
17 Arbeitserlaubnis und meinem Ausweis, habe ich einfach empört
18 gefragt, ob man mich für einen illegalen Einwanderer halten
19 würde. Die Antwort des Besitzers darauf war: „Ich bin doch
20 kein Rassist“ und „kannst du Montag anfangen?“
21 Um durch zu kommen, sind Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit
22 nicht zwingend erforderlich.
23 Dreist sein, ist alles, Mann.
24 Die Menschen sind oftmals so konfliktscheu, dass sie lieber
25 eine billige Lüge glauben, als Gefahr zu laufen von jemand
26 höheren angeschrien zu werden.
27 Und wenn ich mir diese Eigenschaft von Menschen zu Nutze
28 mache, bin ich weder abgebrüht, noch durchtrieben.
29 Ich bin einfach schlau.
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1 Kapitel 4
2 Im Regen-Tanz-Szene
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4 Ich sitze im Biologie-Unterricht von Mr. Dunham. Und der
5 Bio-Unterricht von Mr. Dunham ist todlangweilig.
6 Wortwörtlich. Manchmal erwische ich mich, wie ich meinen
7 Puls fühle.
8 Ich höre nur mit halbem Ohr zu, wie er von der Fortpflanzung
9 des Pantoffeltierchens redet und starre auf die Uhr. Der
10 Sekundenzeiger tickt so regelmäßig wie mein Herzschlag und
11 mit dem Trommeln des Regens auf die Fenster entsteht eine
12 Sinfonie der Stetigkeit.
13 Auf einmal fange ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung ein.
14 An der Tür zum Klassenraum steht Skyler und lächelt mich
15 durch das Glasfenster an. Ich kneife meine Augen zusammen,
16 um sicherzugehen, dass es sich hierbei um keine
17 Halluzination aus Langeweile handelt.
18 Doch, da steht tatsächlich Skyler und formt mit ihrem Mund
19 die Worte: „Komm raus!“
20 Noch verwirrt von der plötzlichen Wendung stehe ich einfach
21 auf und möchte rausmarschieren. Doch damit störe ich nur Mr.
22 Dunhams Ein-Mann-Show.
23 „Healy, was tust du da?“
24 „Ähm, ich müsste mal aufs Klo.“
25 „Es klingelt doch gleich.“
26 „Es klingelt in einer halben Stunde.“
27 „Was ich hier erzähle ist sehr wichtig. Es ist
28 klausurrelevant.“
29 „Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber wenn sie mich
30 jetzt nicht gehen lassen, mache ich mir in die Hose.“
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1 „Ach, mach doch, was du willst.“
2 Mr. Dunham händigt mir den Toilettenpass aus und lässt mich
3 gehen.
4 Skyler steht nicht mehr vor der Tür, sondern hat sich um die
5 nächste Ecke verzogen. Als ich auf sie zulaufe, wird ihr
6 Lächeln noch breiter.
7 Eine Haarsträhne fällt in ihr Gesicht.
8 „Du hast mich gerettet!“, begrüße ich sie.
9 „Immer wieder gerne.“, antwortet sie, „schon bemerkt? Es
10 schüttet wie aus Eimern!“
11 Mit diesen Worten ergreift sie meine Hand und zieht mich
12 hinter ihr her. Zuerst läuft sie nur schnell, doch dann
13 fängt sie an zu rennen. Wir rennen durch die Korridore,
14 vorbei an den Spinden und an den Klassenzimmern. Vorbei an
15 den Plakaten, die für das Schultheaterstück werben und
16 vorbei an den Vitrinen mit den eingestaubten Pokalen. Sie
17 lässt meine Hand nicht los, bis wir außer Atem auf dem
18 Schulgelände unter freien Himmel stehen. Ich lege den Kopf
19 in den Nacken und strecke meine Zunge raus. Schmecke die
20 Regentropfen und den Wind, rieche die frischgewaschene Erde,
21 bereinigt von jedem Bullshit.
22 Ich habe vergessen wie sich Regen auf der Haut anfühlt- und
23 wieder daran erinnert zu werden, ist als ob man zum ersten
24 Mal Schnee erleben würde.
25 „Ich liebe Regen.“, sage ich.
26 „Lass uns tanzen!“
27 Ich starre etwas ungläubig aus der Wäsche, bin verwirrt.
28 „Scheiß drauf, wenn wir keine Musik haben!“ Und ohne meine
29 Antwort abzuwarten, legt sie los. Was sie da macht ist nicht
30 wirklich tanzen. Sie stampft in die Pfützen und spritzt
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1 Wasser nach mir. Schmeißt die Arme in die Höhe und lacht
2 laut. Man könnte es als kindlich bezeichnen, aber eigentlich
3 ist es befreit.
4 Ich starre sie nicht weiter an, ich mache mit.
5 Als sie merkt, dass ich mit eingestiegen bin, rennt sie auf
6 mich zu und tacklet mich zu Boden. Ich falle hin, sie lacht
7 mich aus. Dann reicht sie mir die Hand, um mir aufzuhelfen.
8 Ich bin aber stärker und habe jetzt den Überraschungseffekt
9 auf meiner Seite: Ich ziehe sie zu mir hinunter. Sie landet
10 neben mir in der Pfütze, boxt mich gegen meine Schulter.
11 „Du Arschloch.“ Sie grinst.
12 Ich streiche ihr die nasse Haarsträhne
aus dem Gesicht und
13 schaue ihr in die Augen.
14 Manche Menschen sagen, die Augen sind das Fenster zur Seele.
15 Skylers Augen sind das Fenster zu einem Ganzen Universum.
16 Ich sehe Galaxien, Planeten und Supernovas.
17 Ich frage mich, was sie in meinen Augen sieht.
18 Dann küsse ich sie. Ein wenig unbeholfen, weil ich seit der
19 Mittelschule kein Mädchen mehr geküsst habe- aber es bleibt
20 nicht lange unbeholfen.
21 Ihre Lippen schmecken nach kalten Rauch und Regen und ihre
22 Haare kleben zwischen meinen Fingern.
23 Wir sitzen eine ganze Weile einfach auf dem Boden des
24 Schülerparkplatzes und machen miteinander rum, während der
25 Regen auf uns niederprasselt. Die Rufe von Dunham, der aus
26 dem Fenster brüllt, ich solle meinen Hintern wieder in die
27 Klasse bewegen, ignorieren wir.
28 Keine fünf Minuten sind vergangen und wir sind beide bereits
29 bis auf die Knochen durchnässt. An ihrer Nasenspitze sammeln
30 sich Regentropfen und mir drängt die Nässe bis in die
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1 Boxershorts.
2 Wir hören erst auf, als Dunham nach unten kommt, mich am
3 Ärmel packt und mich zurück in den Klassenraum schleift.
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5 „Hast du mal ne Kippe?“
6 Ich hole die Zigarettenschachtel aus meiner Arschtasche und
7 gebe ihr meine letzte Marlboro Red. Ich erkenne das Ramones8 Logo auf ihrem Hoodie, als sie sich die Kippe anzündet.
9 „Skyler.“, sagt sie, nachdem sie den Rauch ausgeatmet hat.
10 Sie hat dunkle Haare und Augen.
11 „Ich hab gesehen, dass das deine letzte war. Du hast was gut
12 bei mir.“
13 „Healy.“, stelle ich mich vor. „Und ist schon gut so.“
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15 Letztes Kapitel
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17 Warum ich mich in Skyler verliebte? Neben der Tatsache, dass
18 sie einfach unglaublich war? Sie hat mir ihre Seele gezeigt19 sie hat mir von ihren innersten Gefühlen erzählt, sie hat
20 mir vertraut. Sie war die Art Mädchen, in das man sich
21 einfach verlieben muss. Noch bevor du es selbst weißt,
22 steckst du schon viel zu tief drinnen. Sie ist wie eine
23 Droge und ich liebe es high sein.
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25 Warum ich das hier also geschrieben habe? Vielleicht doch,
26 um all das zu verarbeiten. Aber wenn ich eins weiß, dann,
27 dass ich niemals mit meinen Schuldgefühlen klar kommen
28 werde.
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30 Die Moral der Geschichte? Dass es keine Happy Ends gibt.
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1 Wenn das Ende schön ist, ist es nicht das Ende. Das Ende ist
2 vielleicht dramatisch, herzzerbrechend oder ungerecht- aber
3 niemals gut. Das Ende von allem, ist schließlich der Tod.
4 Bitte also nicht um ein glückliches Ende- das ist
5 Zeitverschwendung. Bitte um einen glücklichen Mittelteil
6 oder einen glücklichen Anfang.
7 Bitte, um eine schöne Erinnerung.
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