Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 1 von 22 1 Kapitel 1 2 3 Am Anfang war das Wort. So heißt es zumindest in der Bibel. 4 Ich bin nicht religiös- in keinster Weise, aber ich weiß 5 nicht wie ich anfangen soll. Und wenn dieser Anfang gut 6 genug für den Beginn des Johannesevangeliums war, ist er 7 auch gut genug für das hier. 8 Das hier ist sowas wie meine Geschichte. Und weshalb ich sie 9 aufschreibe, muss ich erst selbst noch herausfinden. 10 Sicherlich nicht, um sie zu veröffentlichen und sicherlich 11 nicht, um das zu verarbeiten, was passiert ist. Aber 12 irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich es ihr schuldig bin13 und mir bin ich es auch schuldig. 14 Den Glauben an Gott habe ich schon lange verloren. Ich bin 15 mir nicht mal sicher, ob ich ihn davor jemals gefunden 16 hatte. Jedenfalls habe ich aufgehört an eine höhere Macht zu 17 glauben- sei es Gott oder Zeus oder das Karma-, als mein Dad 18 meinen großen Bruder tot prügelte, als meine Mom mich aus 19 der Wohnung warf und zuletzt- zuletzt, als ich das wohl 20 bedeutendste meines Lebens verloren habe. 21 Ich lebe draußen auf der Straße. Seit zwei Jahren- seit 22 meinem fünfzehnten Geburtstag, um genau zu sein. Es war 23 jetzt nicht so, dass meine Mutter sagte: „Happy Birthday 24 Healy und jetzt mach dich vom Acker.“, aber so ziemlich 25 ähnlich. 26 Sie konnte es sich nicht leisten mich durchzufüttern, meinte 27 sie. Meiner Meinung nach gibt sie mir noch immer die Schuld 28 an Kurts Tod. 29 Das ist jedoch eine andere Geschichte. 30 Womöglich denkst du jetzt wie schwer und hart es für einen 1 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 2 von 22 1 Jugendlichen ist obdachlos zu sein- und da hast du recht. 2 Doch auf eine gewisse Weise ist es auch das ehrlichste auf 3 der Welt. Bist du obdachlos erlebst du das nackte und 4 wahrhaftige Leben. Du gibst ihm keine Chance dich zu 5 verarschen. Du lebst nicht in einer Blase, die dir 6 vorspielt, alles sei in Ordnung. Es gibt kein schönes 7 Vorstadthaus, das die Geheimnisse der Bewohner verbirgt. 8 Nichts scheint zu sein. 9 Alles ist wie es ist. 10 Die Straße ist keine Illusion. 11 Einfacher ist es jedoch nicht. Ich bin weder der harte Kerl, 12 der sich durchschlägt und sein Ding durchzieht, noch das 13 arme unschuldige Mädchen, das Mitleid erregt. Passanten 14 geben mir kein Geld, sie schauen mich nicht einmal an. Es 15 ist als ob ich gar nicht existiere. Für Fußgänger sind die 16 dunklen Nischen der Innenstadt, Hauseingänge oder die 17 dreckigen Plätze unter eine Brücke nur verschwommene Zonen, 18 die sie mit ihren Tunnelblicken nicht wahrnehmen können. Und 19 das können sie nicht, weil sie die Wahrheit nicht ertragen. 20 Weil sie lieber an ihr Fertighaus, ihre Fertigfamilie und 21 ihr Fertigleben festhalten. Dass davon nichts echt ist, 22 wissen sie gar nicht. 23 Aber ich schlafe nicht auf der Straße. Ich schlafe in Autos. 24 Kurts Vermächtnis ist das Auto knacken und es lebt in mir 25 weiter. Abends nach dem Feierabendverkehr suche ich mir eins 26 aus- freie Auswahl für Kriminelle- und öffne die Autotür mit 27 ein bisschen Geschick. Ich öffne sie mit Kurts Zaubertrick. 28 Dann schlafe ich auf der Rückbank- und am nächsten Tag, in 29 der Morgendämmerung, bin ich schon weg. 30 Anfangs war es ziemlich schwer, da wusste ich nicht wie das 2 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 3 von 22 1 Leben ohne Dach funktioniert. Ich wusste nicht, ob ich 2 betteln oder klauen sollte- oder ob ich mich bei einer 3 Anlaufstelle für Penner melden sollte. Ich wusste auch nicht 4 wo die Suppenküche in Oklahoma City zu finden war. Oder ob 5 ich mir als Statement einen Schäferhund Mischling zulegen 6 sollte. Aber dann besann ich mich zurück auf dünnen Jim. 7 Dünner Jim ist ein Stück aus langem, biegbarem Metall mit 8 einem Haken am Ende. Jim ist ein unverzichtbarer Helfer, um 9 Autotüren aufzubekommen. Hebelt man die Autotür leicht an 10 der Stelle zur Seite wo sie auf den Türpfosten trifft, kann 11 man leichtfertig Jim ins Innere des Autos einführen und den 12 vertikalen Knopf nach oben ziehen und zack- hat man Zugang 13 ins Innere und die Aussicht auf ein warmes Schläfchen. Das 14 funktioniert jedoch nicht bei allen Autos- definitiv nicht 15 bei den neuen Luxusmodellen, die gegen Autodiebe geschützt 16 sind. Aber ich habe auch gar nicht die Absicht die 17 Fertigautos der Fertigmenschen zu knacken. Außerdem wäre das 18 auch viel zu auffällig. Lieber wähle ich einen rostigen 19 Kleinwagen aus, am besten mit verbeulter Stoßstange. 20 Ich weiß ich hätte zum Jugendamt gehen können. Aber aus 21 welchem Grund auch immer, erschien mir diese Idee total 22 abwegig. Bestenfalls hätten sie meiner Mutter das Sorgerecht 23 entzogen und ich wäre in irgendeinem baufälligen Heim für 24 beschränkte Jugendliche gelandet. Ich bin mir ziemlich 25 sicher, dass das das größere Übel gewesen wäre. Und auf der 26 Straße fühle ich mich frei. Wenn ich nach oben gucke, sehe 27 ich keine Decke von der der Putz bröselt, sondern den 28 Sternenhimmel- und das hat was von Erleuchtung. Man fühlt 29 sich plötzlich klein und unbedeutend. Man ist nur noch ein 30 winziger Teil des großen Ganzen. So winzig, dass das 3 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 4 von 22 1 Universum mich wahrscheinlich nicht mal wahrnimmt. Die 2 Grenze zwischen Existenz und Nichts verschwimmt und alles 3 was übrig bleibt ist ein melancholisches Bauchgefühl und ein 4 Kloß im Hals. 5 Ich besitze nicht viel. Das ist auch gut so, denn es wäre 6 verdammt problematisch mit einem Dutzend Umzugskartons im 7 Auto zu pennen. Meine Habseligkeiten beschränken sich auf 8 eine akustische Gitarre, der eine Seite fehlt und auf den 9 Namen Johnny Doe getauft wurde und einen abgewetzten 10 Rucksack mit einem gerissenen Träger und temporären Inhalt. 11 Das einzige was wohl permanent dort drinnen vorzufinden ist, 12 ist ein abgegriffenes Notizbuch, das Nevermind Album und ein 13 Foto von Kurt und mir. Die Gitarre hat mir Kurt vor einigen 14 Jahren vom Schrottplatz mitgebracht. Ich bin kein besonders 15 guter Musiker und mein Inventar an Songs beschränkt sich auf 16 ein paar Riffs vom ausgelutschten Stairway To Heaven, der 17 Refrain von Territorial Pissings und Wish You Were Here. 18 Aber Musik ist sowas wie eine Konstante in meinem Dasein und 19 das, was mich den Bullshit des Lebens für einen kurzen 20 Augenblick vergessen lässt. 21 Kurt hat immer gesagt: „Es gibt keine Überdosis an Musik.“ 22 Kurt war mein Held. 23 Als ich noch ein kleiner Pimpf war, hing ich an ihm dran wie 24 ein nerviges Mädchen, das nicht genug von ihrem Freund 25 kriegt. Und Kurt konnte wahnsinnig toll singen. Seine Stimme 26 war tief und harmonisch. Wenn man ihm zugehört hat, hat man 27 sich angekommen gefühlt. Kurts Stimme hat sich angefühlt wie 28 die Sonne auf der Haut nach drei Tagen Regenwetter oder der 29 weiche Blick einer liebenden Mutter. 30 Jetzt hört keiner seine Stimme mehr. 4 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 5 von 22 1 Als er so alt war wie ich jetzt schlug mein Vater ihn 2 krankenhausreif zusammen. Eine gebrochene Rippe hat sich in 3 seine Lunge gebohrt. Als wir ihn letztendlich in die 4 Notaufnahme fuhren, war es schon zu spät. 5 Ersticken ist ein grausamer Tod. Der Körper lechzt 6 verzweifelt nach Luft. Doch alles was man einatmet ist 7 steigende Panik. 8 Mein Dad sitzt heute im Oklahoma State Penitentiary. Fünf 9 Jahre für fahrlässige Tötung. Ich wünschte sie würden ihn 10 dort versauern lassen. 11 In den nächsten Monaten entlassen sie ihn frühzeitig wegen 12 guter Führung. Würde ich an Gott glauben, würde ich dafür 13 beten, dass er in eine Schlägerei verwickelt wird und mit 14 einer zugespitzten Zahnbürste erstochen- oder dafür, dass er 15 sich in der Gruppendusche nach der Seife bückt. 16 Ich war niemals verantwortlich für Kurts Tod. Mein Dad kam 17 nach einer seiner Saufeskapaden betrunken nach Hause. Und 18 mir reichte es. Ich warf ihn all die Dinge an den Kopf, die 19 ich all die Jahre zurück gehalten hatte. Ich warf ihn an dem 20 Kopf wie er uns im Stich gelassen hatte und lieber Geld 21 verspielte, als welches heranzuschaffen. Ich warf ihm vor, 22 dass er nicht mein Vater ist, nur weil er mein biologischer 23 Erzeuger ist und ich warf ihm all die vielen Male vor, als 24 er Kurt, meine Mom oder mich ins Gesicht ohrfeigte, um 25 seinen Ärger auszulassen. 26 Ich warf ihn an den Kopf, ich wünschte er wäre tot. 27 Das war der Punkt, der ihn zur Weißglut brachte. Es kümmerte 28 ihn nicht, dass er mir egal war, dass er seine Pflichten als 29 Vater nicht erfüllte. Aber was er nicht ertrug, war das. Das 30 war es, was sein übermäßiges Ego nicht aushalten konnte. Und 5 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 6 von 22 1 deshalb ging er auf mich los. Einen dreizehnjährigen. Und 2 bevor er mir mehr anhaben konnte, als ein blaues Auge ging 3 Kurt dazwischen. Kurt hatte mich gerettet- aber zu welchem 4 Preis. Ich bin mir nicht mal sicher, ob mein Dad bemerkte, 5 dass er nun Kurt anstatt mich schlug. Er war in Trance. In 6 einem Rausch, angetrieben von all der angestauten Wut, die 7 er zulange hatte zurück halten müssen. Angetrieben von 8 Alkohol. Angetrieben von Hass auf die Verantwortung, die er 9 eingegangen war, als er meine Mom schwängerte. 10 Er schlug. Und schlug. Und schlug. 11 Er schlug noch, als Kurt sich nicht mehr regte. Ich kann 12 mich mehr daran erinnern, wann er aufhörte. In meiner 13 Erinnerung hat er nie damit aufgehört. 14 15 Kapitel 2 16 17 Aber ich möchte nicht über die Sache mit meiner Familie 18 schreiben. Das hier ist die Geschichte über etwas anderes 19 und alles begann, als ich auf der Rückbank eines alten Volvo 20 saß. 21 22 Ich mache mir keine Mühen im Sitz zu versinken- die Sonne 23 ist schon fast untergegangen und das Auto steht abseits von 24 der nächsten Laterne. Johnny liegt in meinem Schoß und ich 25 greife wie schon tausende Male die Akkorde von Wish You Were 26 Here. Das Intro von Pink Floyd hat sich so stark in mein 27 Hirn gebrannt, dass meine Finger automatisch die Griffe 28 finden. 29 30 “So, so you think you can tell 6 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 7 von 22 1 Heaven from Hell 2 Blue skies from pain 3 Can you tell a green field 4 From a cold steel rail? 5 A smile from a veil? 6 Do you think you can tell?” 7 8 Meine Stimme ist nicht mit Kurts zu vergleichen. Sie ist 9 viel dünner und weniger kraftvoll. Kurts Stimme ist der 10 Mount Everest, meine ist der Hügel vor dem Sportplatz. Ich 11 weiß noch wie es klang, wenn er diese Strophe sang. Gefüllt 12 mit so viel Schmerz und Leid, dass einem das Herz nur durchs 13 Zuhören blutete. Kurts Musik war echter, als es die Straße 14 je sein könnte. Er hätte von Einhörner-reitenden Aliens, die 15 Russland erobern singen können und man hätte es ihm 16 abgenommen. 17 Da ich nicht weiß wie der Song weiter geht, lege ich Johnny 18 Doe beiseite und rolle mich auf der Rückbank ein. Es ist 19 zwar schon Frühling, doch die Abende und Nächte sind kalt 20 und ich kann die Heizung im Auto nicht anschalten ohne den 21 Motor zu starten. Ich ziehe die Kapuze meines Pullis über 22 den Kopf und verstecke meine Hände in den Ärmeln, rolle mich 23 noch etwas enger zusammen. Ich will nicht wissen wie kalt es 24 ohne diese Blechbüchse wäre. Langsam gleitet der Schlaf über 25 mich her und nimmt mich mit in seine temporären Abgründe des 26 Nichts. Nimmt mich mit in seine zeitlich-beschränkte 27 Erlösung des Nicht-Träumens und Nicht-Denkens. Erlöst mich 28 für ein paar Stunden von dieser beschissenen Welt. 29 30 Ich schrecke hoch, als es plötzlich gegen die Scheibe 7 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 8 von 22 1 klopft. Zuerst ist meine Sicht noch betrübt, doch dann 2 erkenne ich das Gesicht vor mir. Die glasigen Augen hinter 3 der Hornbrille schauen mich überrascht an. 4 „Healy Lytton?“ 5 Wer mich da so anglotzt ist Mr. Bilsted, mein 6 Englischlehrer. 7 Scheiße. 8 Ich bin niemand, der es an die große Glocke hängt, obdachlos 9 zu sein oder ein Kleinkrimineller. Und ich habe keine Ahnung 10 wie ich aus dieser Situation rauskommen soll. Mein erster 11 Impuls ist aufzuspringen und zu rennen. Aber daraus wird 12 nichts. Ich sitze in der Falle. 13 Vielleicht glaubt er mir, dass es sich um meinen Wagen 14 handelt. Dass ich wie jeder normale pubertierende Teenager 15 mit meinen Eltern Zoff hatte und deshalb die Nacht im Auto 16 verbringe. 17 „Was machst du in meinem Volvo?“ 18 Es stimmt nicht, dass alles noch beschissener kommt, wenn 19 man meint: „Wenigstens kann es jetzt nicht schlimmer 20 werden.“ Wie in den Spielfilmen, in denen es dann auf einmal 21 anfängt zu pissen, als müsse Gott sich um fünf Tonnen 22 Apfelsaft erleichtern. Meistens wird es dann schlimmer, wenn 23 man sich einen Plan zu Recht gelegt hat. Wenn man denkt, man 24 hat einen Ausweg aus der Scheiße gefunden. 25 Ich steige aus, mir bleibt ja nichts anderes übrig. 26 Ich kratze mich an meinem Hinterkopf und schaue auf den 27 Boden. Verlagere mein Gleichgewicht vom einen Bein aufs 28 andere, finde trotzdem keinen sicheren Stand. 29 „Ist alles in Ordnung bei dir?“ 30 Der Bilsted guckt mir besorgt in die Augen, meint es ernst. 8 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 9 von 22 1 „Wirklich? Ich bin in ihr Auto eingebrochen und sie fragen 2 mich, ob bei mir alles in Ordnung ist? Fragen sie das auch 3 Osama Bin Laden, wenn seine Crew nochmal in einen unserer 4 Wolkenkratzer fliegt?“ 5 „Osama Bin Laden ist tot. Und ich denke, es gibt da schon 6 noch einen Unterschied zwischen meinem Schüler und einem 7 Terroristen.“ 8 „Tut mir Leid.“ 9 „Was tut dir leid? Der Einbruch oder deine sarkastische 10 Bemerkung darauf?“ 11 „Beides, Mann.“ 12 „Passt schon. Hast du Hunger?“ 13 Ich werde aus dem Kerl einfach nicht schlau. Aber es ist 14 bestimmt schon nach Mitternacht und mein Magen kreischt nach 15 was Essbarem. Wir gehen zu Steak ‘n Shake, weil es direkt um 16 die Ecke zu finden ist. Bilsted zahlt für mich und ich 17 bestelle einen Cheeseburger, Nacho Fries und Buffalo Chicken 18 Finger. Mein Englisch-Guru bestellt sich eine große Cola. 19 Mist, ich hab‘ das Getränk vergessen. 20 Als die Bedienung namens Mindy (auf ihrem Namensschild hängt 21 Ketchup über dem „M“, vielleicht heißt sie auch Cindy), uns 22 unsere Bestellung auf einem Tablett überreicht, setzen wir 23 uns in eine der Nischen und ich beginne zu essen. Ich weiß 24 es ist ziemlich unhöflich drei Hauptgerichte zu bestellen 25 und den Besitzer des Autos, in das man gerade eingebrochen 26 ist, bezahlen zu lassen. Aber ich habe schon seit einer 27 gefühlten Ewigkeit nichts Richtiges mehr gegessen. Weder die 28 Schulcafeteria, noch die Suppenküche kann mit einer billigen 29 Fast-Food-Kette mithalten. 30 Bilsted schiebt mir die Cola hin: „Du hast vergessen, was zu 9 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 10 von 22 1 trinken zu bestellen.“ 2 Ich schaue ihn wohl ein wenig ungläubig an, denn er fügt 3 hinzu: „Nimm schon. Die Cola reißt es auch nicht raus.“ 4 Und bevor er sich es anders überlegt, nehme ich einen großen 5 Schluck, möchte mich bedanken, doch alles was raus kommt ist 6 ein Rülpser. Jetzt bin ich wohl endgültig unten durch bei 7 ihm. 8 „Warum hast du in meinem Auto geschlafen?“ 9 Die Frage alle Fragen. 10 Unvermeidlich, ich weiß schon. 11 „Ich mag den Kick, den man beim Autoknacken verspürt. Lebe 12 gefährlich, aber lebe berauscht.“ 13 „Versuch erst gar nicht mich hinters Licht zu führen, Healy, 14 raus mit der Wahrheit.“ 15 „Wenn ich Ihnen die Wahrheit erzähle, rufen sie 16 wahrscheinlich nur das Jugendamt.“ 17 „Das werd‘ ich nicht machen, wenn du es nicht willst.“ 18 19 Also erzähle ich es ihm. Ich lasse zwar die Geschichte von 20 meinem Vater und von Kurt weg, aber den ganzen Rest erfährt 21 er. 22 23 Als ich mit meinem Bericht fertig bin, nehme ich einen 24 letzten Schluck Cola und starre dann auf den Boden des 25 Pappbechers, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. 26 Zum Glück übernimmt Bilsted das für mich. 27 „Ich mache mir Sorgen um dich, Healy.“ 28 Ich starre noch immer auf den Boden des Bechers, als ob ich 29 Gottes Offenbarung dort finden würde. 30 „Einen Sozialarbeiter mit einzubeziehen wäre sicherlich eine 10 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 11 von 22 1 Option, aber du bist schon fast erwachsen. Ich denke eine 2 andere Lösung wäre sinnvoller.“ 3 „Und die wäre?“ 4 „Du brauchst wieder etwas Perspektive in deinem Leben. Ich 5 versuche schon seit langem eine Selbsthilfegruppe in der 6 Schule einzurichten. Für Jugendliche wie du. Aber ich 7 brauche noch einen Leiter. Jemand, der weiß, was diese Kids 8 durchmachen müssen.“ 9 Ohne lange nachzudenken, lehne ich ab. Ich werde doch keinen 10 Seelenklempner für verkorkste Außenseiter spielen. 11 „Nein. Wirklich, da fragen sie den falschen.“ 12 „Das war kein Angebot, Healy. Entweder du übernimmst diese 13 Aufgabe oder ich muss die Polizei von deinem Einbruch 14 informieren.“ 15 Erpressung, also. Ich hätte Mr. Bilsted nicht für so 16 abgebrüht gehalten. 17 „Überleg es dir und komm dann morgen nach dem Unterricht auf 18 mich zu.“ 19 Bilsted wischt sich seinen Mund mit einer Serviette ab, 20 obwohl weder etwas getrunken, noch gegessen hat, steht 21 daraufhin auf und verlässt den Schnellimbiss. Ich sitze hier 22 und starre auf die letzten drei Chicken Finger. 23 Dann reiße ich mich zusammen und gehe auch. Es ist längst 24 nach Mitternacht und in Bilsteds Auto zu übernachten kann 25 ich mir jetzt wohl abschminken. Trotzdem mache ich mich auf 26 den Weg zu dem Parkplatz in der Hoffnung, dass Bilsted mein 27 Zeug an den Bordstein gestellt hat. Als ich um die Ecke 28 komme, stehen meine Gitarre und mein Rucksack tatsächlich an 29 einem Laternenpfahl, angestrahlt von dem künstlichen Licht, 30 das in unregelmäßigen Abständen flackert. Obwohl mir 11 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 12 von 22 1 Bilsted gerade einen Ausweg angeboten hat, sehe ich keine 2 Zukunft für mich. Im echten Leben schaffen es Leute wie ich 3 nicht. Der American Dream ist nur für Menschen gemacht, die 4 sich ein Bett leisten können, in welchem sie träumen können. 5 Ich lehne mich gegen die Wand des nächstgelegenen 6 Hauseingangs, ziehe mir einen zweiten Pulli über den Kopf, 7 den ich in meinem Rucksack finde und schließe die Augen. Es 8 sind nur noch ein paar Stunden bis zum Sonnenaufgang. Das 9 passt schon. 10 11 Kapitel 3 12 13 Könnte gut sein, dass Bilsted blufft. Aber ich kann mir 14 keine Bluffs leisten sowie ich mir keine Jordans leisten 15 kann und deswegen komme ich am Ende der Stunde auf ihn zu 16 und nehme sein Angebot an. 17 „Das freut mich Healy. Wir wissen wohl, was wir sind, aber 18 nicht, was wir werden können.“ 19 „Was?“ 20 „Shakespeare. Aus Hamlet.“ 21 „Aha.“ 22 Natürlich musste der Englischlehrer im Pullunder und mit 23 Hornbrille jetzt ein Zitat aufsagen. 24 „Du meldest dich dann Freitag nach dem Lunch im Klassenraum 25 über der Aula. Und vergiss nicht den Essay über die 26 russische Revolution nachzureichen. Ms. Storch hat mir 27 mitgeteilt, dass du den Abgabetermin schon wieder verpasst 28 hast.“ 29 „In Ordnung.“ Ich ziehe die Worte betont lang, kratze mich 30 an meiner linken Augenbraue und finde meinen Weg aus dem 12 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 13 von 22 1 Klassenraum. Der Essay hat mir gerade noch gefehlt. Seit 2 wann nehmen wir denn Russland durch? Ich dachte ich hätte US 3 History belegt… 4 In der fünften Stunde sind die Korridore immer besonders 5 voll, da die meisten Schüler jetzt ihre Mittagspause haben. 6 Ich gehöre zu ihnen. Ich überhole zwei Mädchen aus der 7 Frischfleisch-Sektion im Schneckentempo und sprinte die 8 Treppe hinunter zur Cafeteria und reihe mich in die Schlange 9 zu meiner Lieblingsküchenhilfe ein. Ich bestelle ein viel zu 10 kleines Pizzastück und eine Milchtüte. Regina packt einen 11 Apfel dazu, den sie nicht berechnet. Ich fische fünf Dollar 12 aus meiner Hosentasche, die ich noch von einem Aushilfsjob 13 auf einer Baustelle habe und nicke ihr dankbar zu. Dann 14 verschwinde ich. 15 Ich setze mich an den Tisch im Freien, wo Tony schon mit dem 16 Essen begonnen hat. Tony ist jemand, den ich wohl noch am 17 ehesten als einen Freund bezeichnen würde. Er ist der Typ 18 Mensch, der vollkommen zugedröhnt eine Diskussion über die 19 Gefahren von Gras gewinnen würde. Er schiebt mir die Hälfte 20 seiner Pommes rüber. Sie sind etwas weich, aber sie machen 21 satt. 22 „Sag mal, seit wann ist Russland Teil der USA?“ 23 „Wenn du Verschwörungstheoretikern glaubst, seit dem 24 Golfkrieg.“ 25 „Nein, ernsthaft. Ich dachte wir hätten US History belegt.“ 26 „Nicht so ganz. Ms. Storch unterrichtet AP World History.“ 27 Ich schlucke einen Bissen Pizza hinunter und gebe ein 28 Grunzen von mir. 29 „Hast wohl vom Essay erfahren.“ Tony grinst. 30 „Ich muss auch noch so eine beschissene Gruppe für 13 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 14 von 22 1 unbemittelte Jugendliche leiten.“ 2 „Meinst du das ernst oder verarschst du mich?“ 3 „Nein, ganz ehrlich. Freitag in den sechsten Stunde.“ 4 „Vielleicht schau‘ ich mal vorbei.“ 5 Jetzt lachen wir beide. 6 Tony und ich sind Freunde seit dem letzten Schuljahr. Wie es 7 zu unserer Freundschaft kam, ist keine besonders spannende 8 oder außergewöhnliche Geschichte. Wenn man es so betrachtet 9 ist sie sogar ziemlich langweilig. In unserem Junior-Jahr 10 waren wir beide im gleichen Spanisch-Kurs. Wir saßen beide 11 nebeneinander in der letzten Reihe und wichen den suchenden 12 Blicken von Ms. Sanchez aus, wenn sie jemanden aufrufen 13 wollte. Spanisch war die Stunde vor dem Lunch und so kam es 14 dazu, dass wir zusammen in die Cafeteria gingen und uns 15 unser Mittagessen holten- und die nächsten Male eben auch. 16 Neben Mr. Bilsted ist Tony der einzige Mensch, der von 17 meinen kleinkriminellen Aktivitäten weiß. Warum ich ihm 18 davon erzählt habe? Vielleicht einfach aus dem Grund, dass 19 er die einzige Person ist mit der ich sprechen kann. Mein 20 Leben auf der Straße ist ziemlich einsam und in der Schule 21 falle ich auch nicht sonderlich auf. Eigentlich werde ich 22 erst gar nicht wahrgenommen. Die Schüler in den Korridoren 23 gleichen in dieser Hinsicht den Passanten auf der Straße: 24 Volle Kraft voraus mit Tunnelblick. 25 Bloß keine Information zu viel aufnehmen. 26 Es ist schon eigenartig wie man sich in einer Schule voller 27 Menschen so schrecklich allein fühlen kann. 28 Außerdem stellt Tony keine Fragen. Das ist eine verdammt 29 seltene Eigenschaft heutzutage. Heutzutage muss man sich für 30 jeden noch so banalen Scheiß rechtfertigen. Und ein „Weil 14 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 15 von 22 1 ich darauf Lust habe“ wird schon längst nicht mehr 2 akzeptiert, wenn die Frage „Warum tust du das?“ lautet. Ich 3 will hiermit nicht sagen, dass es falsch ist, Dinge in Frage 4 zu stellen. Aber manchmal sollte der Mensch einfach seinen 5 Mund halten. Als ich Tony meine Geschichte erzählt habe, hat 6 er nicht versucht, mir irgendwelche Möchtegern Ratschläge zu 7 erteilen oder einen auf Pseudo-mitfühlend gemacht. Alles was 8 er gesagt hat, war: „Das Leben fickt uns alle mal.“ 9 Tony ist ein wirklich cooler Dude. 10 Und ich bin verdammt dankbar für seine Coolness. 11 Nach dem Lunch habe ich noch zwei Schulstunden: Biologie und 12 Mathe. Währen ich in Bio dieses Jahr wahrscheinlich 13 durchfallen werde, bin ich in Mathe ein Ass. Mathe ist 14 einfach. Es gibt Regeln und es gibt eindeutige Ergebnisse. 15 Man braucht kein Sprachgefühl wie in Spanisch und man muss 16 auch keine abwegigen Interpretationen von Romeo und Julia 17 verschriftlichen. 18 Als die Schulglocke endlich das Ende der Schulstunde 19 verkündet, bin ich der Erste, der den Raum verlässt. Da ich 20 noch den Essay schreiben muss, mache ich mich auf den Weg in 21 die Bibliothek. Ich bin ziemlich selten hier, sodass mir die 22 Stille ins Gesicht schlägt, als ich den Raum betrete. Ich 23 bin den Geräuschpegel des Schulgeländes schon so gewöhnt, 24 dass das Schweigen hier schon fast verdächtig wirkt. Stille 25 ist ebenso selten wie Menschen, die ihren Mund halten können 26 und deswegen ein Grund sie mit vollen Zügen zu genießen. 27 Viele Menschen fangen sich an unwohl zu fühlen, wenn es 28 länger leise ist. Viele sehen in Stille nichts als etwas 29 Eigenartiges und Beklemmendes. Tatsächlich ist Stille jedoch 30 wunderschön. Und viele Menschen scheinen ein Problem mit 15 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 16 von 22 1 Schönheit zu haben. 2 In der Abteilung über die Weltgeschichte sitzt nur ein 3 Mädchen, das sich in eine Ecke gekauert hat und in einen 4 Atlas vertieft ist; ich schenke ihr keine weitere Beachtung. 5 Ich ziehe einen dicken Schmöker über die Geschichte 6 Russlands heraus und setze mich an einen der Holz7 Schreibtische. Es scheint als hätte schon so ziemlich jeder 8 Schüler seine Spuren auf dem Tisch hinterlassen. Das helle 9 Holz ist unter all den Initialen und Verewigungen kaum mehr 10 zu erkennen. Ich fahre mit meinem Finger über einen 11 eingeritzten Spruch: 12 „silence is so accurate.“ 13 Da draußen gibt es also doch noch eine Seele, die so denkt 14 wie ich. Ich schmunzele. 15 Dann beginne ich in dem dicken Wälzer einen Artikel über die 16 russische Revolution zu suchen. Zu meinem Pech gibt es 17 darüber einen ganzen Haufen. 18 Auswirkungen, Ursachen, Verlauf, Folgen, … 19 Alles was ich brauche ist eine knappe Zusammenfassung, die 20 ich umformulieren kann. Da anscheinend keine gibt, bleibt 21 mir wohl oder übel nichts anderes übrig, als mich durch die 22 Texte zu quälen und Stickpunkte heraus zu schreiben, um sie 23 später in einem Fließtext zu verbinden. Ich muss meinen 24 Essay auf die gute alte Art schreiben, keine Chance mich 25 durch zu schummeln. 26 27 Die Sonne ist schon untergegangen, als ich den letzten Satz 28 zu Ende schreibe. Endlich fertig zu sein ist eine größere 29 Erleichterung als mir bewusst ist. Anspannung fällt von 30 meinen Schultern und ich kann leichter atmen. Ich weiß, dass 16 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 17 von 22 1 mein Essay gut ist, weil ich mich reingekniet habe, weil ich 2 zur Abwechslung ehrlich gearbeitet habe und nicht versucht 3 habe der Verantwortung durch zu rutschen. 4 Tatsächlich ist das „sich-durchs-Leben-durch-schummeln“ die 5 letzten Jahre meine Devise gewesen. Von Tag zu Tag zu leben. 6 Ich habe mich durch meine Abschlussarbeit in Spanisch 7 geschummelt, indem ich Ms. Sanchez verarscht habe. Am 8 Abgabetermin habe ich einfach nichts eingereicht und als Ms. 9 Sanchez uns unsere Arbeiten eine Woche später benotet 10 zurückgab, habe ich gefragt, wo denn meine sei. Ms. Sanchez 11 war so peinlich berührt von dem Gedanken, einfach meinen 12 Aufsatz verloren zu haben, dass sie mir aus Schuldgefühlen 13 eine ziemlich gute Note gab. 14 Und als ich mich für einen Aushilfsjob in der Küche eines 15 Imbisstrucks beworben habe, bin drum herum gekommen, meine 16 Papiere zeigen zu müssen. Auf die Frage nach meiner 17 Arbeitserlaubnis und meinem Ausweis, habe ich einfach empört 18 gefragt, ob man mich für einen illegalen Einwanderer halten 19 würde. Die Antwort des Besitzers darauf war: „Ich bin doch 20 kein Rassist“ und „kannst du Montag anfangen?“ 21 Um durch zu kommen, sind Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit 22 nicht zwingend erforderlich. 23 Dreist sein, ist alles, Mann. 24 Die Menschen sind oftmals so konfliktscheu, dass sie lieber 25 eine billige Lüge glauben, als Gefahr zu laufen von jemand 26 höheren angeschrien zu werden. 27 Und wenn ich mir diese Eigenschaft von Menschen zu Nutze 28 mache, bin ich weder abgebrüht, noch durchtrieben. 29 Ich bin einfach schlau. 30 17 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 18 von 22 1 Kapitel 4 2 Im Regen-Tanz-Szene 3 4 Ich sitze im Biologie-Unterricht von Mr. Dunham. Und der 5 Bio-Unterricht von Mr. Dunham ist todlangweilig. 6 Wortwörtlich. Manchmal erwische ich mich, wie ich meinen 7 Puls fühle. 8 Ich höre nur mit halbem Ohr zu, wie er von der Fortpflanzung 9 des Pantoffeltierchens redet und starre auf die Uhr. Der 10 Sekundenzeiger tickt so regelmäßig wie mein Herzschlag und 11 mit dem Trommeln des Regens auf die Fenster entsteht eine 12 Sinfonie der Stetigkeit. 13 Auf einmal fange ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung ein. 14 An der Tür zum Klassenraum steht Skyler und lächelt mich 15 durch das Glasfenster an. Ich kneife meine Augen zusammen, 16 um sicherzugehen, dass es sich hierbei um keine 17 Halluzination aus Langeweile handelt. 18 Doch, da steht tatsächlich Skyler und formt mit ihrem Mund 19 die Worte: „Komm raus!“ 20 Noch verwirrt von der plötzlichen Wendung stehe ich einfach 21 auf und möchte rausmarschieren. Doch damit störe ich nur Mr. 22 Dunhams Ein-Mann-Show. 23 „Healy, was tust du da?“ 24 „Ähm, ich müsste mal aufs Klo.“ 25 „Es klingelt doch gleich.“ 26 „Es klingelt in einer halben Stunde.“ 27 „Was ich hier erzähle ist sehr wichtig. Es ist 28 klausurrelevant.“ 29 „Ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber wenn sie mich 30 jetzt nicht gehen lassen, mache ich mir in die Hose.“ 18 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 19 von 22 1 „Ach, mach doch, was du willst.“ 2 Mr. Dunham händigt mir den Toilettenpass aus und lässt mich 3 gehen. 4 Skyler steht nicht mehr vor der Tür, sondern hat sich um die 5 nächste Ecke verzogen. Als ich auf sie zulaufe, wird ihr 6 Lächeln noch breiter. 7 Eine Haarsträhne fällt in ihr Gesicht. 8 „Du hast mich gerettet!“, begrüße ich sie. 9 „Immer wieder gerne.“, antwortet sie, „schon bemerkt? Es 10 schüttet wie aus Eimern!“ 11 Mit diesen Worten ergreift sie meine Hand und zieht mich 12 hinter ihr her. Zuerst läuft sie nur schnell, doch dann 13 fängt sie an zu rennen. Wir rennen durch die Korridore, 14 vorbei an den Spinden und an den Klassenzimmern. Vorbei an 15 den Plakaten, die für das Schultheaterstück werben und 16 vorbei an den Vitrinen mit den eingestaubten Pokalen. Sie 17 lässt meine Hand nicht los, bis wir außer Atem auf dem 18 Schulgelände unter freien Himmel stehen. Ich lege den Kopf 19 in den Nacken und strecke meine Zunge raus. Schmecke die 20 Regentropfen und den Wind, rieche die frischgewaschene Erde, 21 bereinigt von jedem Bullshit. 22 Ich habe vergessen wie sich Regen auf der Haut anfühlt- und 23 wieder daran erinnert zu werden, ist als ob man zum ersten 24 Mal Schnee erleben würde. 25 „Ich liebe Regen.“, sage ich. 26 „Lass uns tanzen!“ 27 Ich starre etwas ungläubig aus der Wäsche, bin verwirrt. 28 „Scheiß drauf, wenn wir keine Musik haben!“ Und ohne meine 29 Antwort abzuwarten, legt sie los. Was sie da macht ist nicht 30 wirklich tanzen. Sie stampft in die Pfützen und spritzt 19 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 20 von 22 1 Wasser nach mir. Schmeißt die Arme in die Höhe und lacht 2 laut. Man könnte es als kindlich bezeichnen, aber eigentlich 3 ist es befreit. 4 Ich starre sie nicht weiter an, ich mache mit. 5 Als sie merkt, dass ich mit eingestiegen bin, rennt sie auf 6 mich zu und tacklet mich zu Boden. Ich falle hin, sie lacht 7 mich aus. Dann reicht sie mir die Hand, um mir aufzuhelfen. 8 Ich bin aber stärker und habe jetzt den Überraschungseffekt 9 auf meiner Seite: Ich ziehe sie zu mir hinunter. Sie landet 10 neben mir in der Pfütze, boxt mich gegen meine Schulter. 11 „Du Arschloch.“ Sie grinst. 12 Ich streiche ihr die nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und 13 schaue ihr in die Augen. 14 Manche Menschen sagen, die Augen sind das Fenster zur Seele. 15 Skylers Augen sind das Fenster zu einem Ganzen Universum. 16 Ich sehe Galaxien, Planeten und Supernovas. 17 Ich frage mich, was sie in meinen Augen sieht. 18 Dann küsse ich sie. Ein wenig unbeholfen, weil ich seit der 19 Mittelschule kein Mädchen mehr geküsst habe- aber es bleibt 20 nicht lange unbeholfen. 21 Ihre Lippen schmecken nach kalten Rauch und Regen und ihre 22 Haare kleben zwischen meinen Fingern. 23 Wir sitzen eine ganze Weile einfach auf dem Boden des 24 Schülerparkplatzes und machen miteinander rum, während der 25 Regen auf uns niederprasselt. Die Rufe von Dunham, der aus 26 dem Fenster brüllt, ich solle meinen Hintern wieder in die 27 Klasse bewegen, ignorieren wir. 28 Keine fünf Minuten sind vergangen und wir sind beide bereits 29 bis auf die Knochen durchnässt. An ihrer Nasenspitze sammeln 30 sich Regentropfen und mir drängt die Nässe bis in die 20 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 21 von 22 1 Boxershorts. 2 Wir hören erst auf, als Dunham nach unten kommt, mich am 3 Ärmel packt und mich zurück in den Klassenraum schleift. 4 5 „Hast du mal ne Kippe?“ 6 Ich hole die Zigarettenschachtel aus meiner Arschtasche und 7 gebe ihr meine letzte Marlboro Red. Ich erkenne das Ramones8 Logo auf ihrem Hoodie, als sie sich die Kippe anzündet. 9 „Skyler.“, sagt sie, nachdem sie den Rauch ausgeatmet hat. 10 Sie hat dunkle Haare und Augen. 11 „Ich hab gesehen, dass das deine letzte war. Du hast was gut 12 bei mir.“ 13 „Healy.“, stelle ich mich vor. „Und ist schon gut so.“ 14 15 Letztes Kapitel 16 17 Warum ich mich in Skyler verliebte? Neben der Tatsache, dass 18 sie einfach unglaublich war? Sie hat mir ihre Seele gezeigt19 sie hat mir von ihren innersten Gefühlen erzählt, sie hat 20 mir vertraut. Sie war die Art Mädchen, in das man sich 21 einfach verlieben muss. Noch bevor du es selbst weißt, 22 steckst du schon viel zu tief drinnen. Sie ist wie eine 23 Droge und ich liebe es high sein. 24 25 Warum ich das hier also geschrieben habe? Vielleicht doch, 26 um all das zu verarbeiten. Aber wenn ich eins weiß, dann, 27 dass ich niemals mit meinen Schuldgefühlen klar kommen 28 werde. 29 30 Die Moral der Geschichte? Dass es keine Happy Ends gibt. 21 Matilda Jelitto: Die Gesellschaft hat uns kaputt gemacht Seite 22 von 22 1 Wenn das Ende schön ist, ist es nicht das Ende. Das Ende ist 2 vielleicht dramatisch, herzzerbrechend oder ungerecht- aber 3 niemals gut. Das Ende von allem, ist schließlich der Tod. 4 Bitte also nicht um ein glückliches Ende- das ist 5 Zeitverschwendung. Bitte um einen glücklichen Mittelteil 6 oder einen glücklichen Anfang. 7 Bitte, um eine schöne Erinnerung. 22