Hier können alle die Abschrift des Vortrags und des Kommentars

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Sofern die Zustimmung der Referenten und Referentinnen besteht, werden die WuV-Vorträge
verschriftlicht. Diese Abschriften werden gratis zum Download zur Verfügung gestellt. Das WuV-Team
bemüht sich, die mündliche Konzeption der Texte zu erhalten.
Dieser Vortrag steht auch als Podcast zur Verfügung. Unter der Rubrik Audiothek können Sie den Vortrag
nachhören.
WuV-Diskussion:
Nachhaltige politische Partizipation
Politische Realität oder Rhetorik in Bezug auf Menschen mit Behinderungen?
Datum: Montag, 27. April 2015, 19:00 Uhr
Ort: MCI Management Center Innsbruck, Universitätsstraße 15a, 3. Stock (Aula), Innsbruck
Referentin: DDr.in Ursula Naue
Kommentar und Moderation: Univ.-Prof. Dr. Volker Schönwiese
Zu den Personen:
Ursula Naue, DDr.in, Senior Lecturer am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, Mitglied
des Österreichischen Unabhängigen Monitoringausschusses zur Umsetzung der UN-Konvention über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen. Forschungsschwerpunkte: Behinderung und Alter(n).
Volker Schönwiese, ao. Univ.-Prof.i.R. Dr., hat am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität
Innsbruck den Lehr-und Forschungsbereich der Inklusiven Pädagogik und der Disability Studies
aufgebaut sowie die digitale Bibliothek bidok – http://bidok.uibk.ac.at/ – gegründet. Er ist seit vielen
Jahren im Rahmen in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behindertenpolitisch engagiert.
Beim Abschreiben der Tonaufnahme haben wir Zwischentitel eingefügt. Das heißt: Vor jedem längeren
Abschnitt steht ein Überschrift. Die Überschrift sagt, worum es geht.
Vortrag von Ursula Naue:
Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen guten Abend. Ich freue mich sehr, dass ich heute mit
Ihnen allen über das Thema nachhaltige politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen
sprechen kann und natürlich auch mit Volker Schönwiese. Sie (Anm.: gerichtet an Johannes Dickel, der
die Begrüßungsworte gesprochen hat) haben das einleitend schon gesagt, er (Anm.: Volker Schönwiese)
ist schon so lange politisch aktiv, dass es genau darum geht, das heute auch in die Diskussion
einzubringen. Um alle Menschen, die eine Erfahrung haben als Menschen mit Behinderungen – als nicht
partizipieren dürfende Menschen mit Behinderungen – wird es heute in der Diskussion gehen. Ich werde
mich bemühen – entlang der Punkte, die ich auf der Folie aufgelistet habe – jeweils einen Ansporn zu
geben, über gewisse Themenfelder nachzudenken und zu diskutieren. Damit nicht ich zu lange rede,
sondern damit wir dann alle gemeinsam über das Thema nachdenken können.
Arbeitskreis Wissenschaft und Verantwortlichkeit an der LFU Innsbruck, der MUI und dem MCI (kurz WuV)
Herzog-Friedrich-Str. 3, 6020 Innsbruck, ZVR:806274014,
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Worum wird es heute gehen?
Ich möchte damit beginnen zu definieren, worüber ich überhaupt rede. Es geht um nachhaltige
Partizipation von Menschen mit Behinderungen. Sie müssen wissen, was ich damit meine, damit Sie mir
dann im Zuge des Referates folgen können.
Dann werde ich kurz über den Fokus sprechen. Der Fokus ist – wie schon im Titel erwähnt – natürlich die
Partizipation von Menschen mit Behinderungen, aber vor einem ganz bestimmten Hintergrund. Dieser
Hintergrund ist die schon erwähnte UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Diese wurde von Österreich 2008 ratifiziert, also rechtlich gültig gemacht. Und es wird darum gehen,
dass wir uns gemeinsam überlegen, was es bedeutet, dass in dieser Konvention ausdrücklich von voller
und nachhaltiger Partizipation von Menschen mit Behinderungen die Rede ist.
Dann werde ich kurz über einen wichtigen Punkt sprechen, nämlich die Frage: Welche Expertise
benötigt ein Mensch, um partizipieren zu können und auch zu dürfen? Hier wird es um die Frage gehen:
Was bedeutet klassische Expertise gegenüber gelebter Expertise? Dann möchte ich kurz zwei Beispiele
bringen, über die man sehr lange sprechen könnte, aber die – glaube ich – in ihrer Kürze auch einiges
sagen über vorhandene oder nicht vorhandene Partizipationsmöglichkeiten.
Dann möchte ich natürlich kurz – und das ist natürlich uns beiden ein Anliegen – über den Wandel
sprechen. Welche möglichen Wege gibt es, um tatsächlich althergebrachte Machtverhältnisse zu
überkommen, damit es zu Partizipation von Menschen mit Behinderungen kommt?
Und zuletzt möchte ich eine provokante Frage stellen: Warum die Aufregung? Und Sie werden sehen,
was ich damit meine.
Modelle der Partizipation
Ich möchte mit etwas sehr Altem, aber immer noch sehr Gutem, beginnen, nämlich der sogenannten
Leiter der Partizipation von Arnstein aus dem Jahr 1969.
Abbildung: Leiter der Partizipation von Arnstein 1
Diese Leiter der Partizipation beginnt unten und Sherry Arnstein unterteilt in Nicht-Partizipation,
Tokenismus – also so tun als ob – und ganz oben gibt es die BürgerInnen-Macht. Und wie Sie sehen
unterteilt Arnstein das Ganze noch einmal, beginnend bei Manipulation über Information hin zur
Partnerschaft und tatsächlich delegierter Macht. Und Sie werden sehen, es wird im Laufe des Referates
an mehreren Stellen notwendig sein, dass wir uns immer wieder diese Leiter der Partizipation von
Arnstein in Erinnerung rufen. Wie gesagt: Sie ist alt und/aber gut!
Nicht so alt, auch gut, aber kaum bekannt sind die Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung. Die wurden
vom österreichischen Ministerrat bereits im Juli 2008 beschlossen. Das heißt, sie sollen und müssten in
der Verwaltung verwendet werden. Aber kaum ein Ministerium kennt sie und noch weniger Ministerien
wenden sie an in der tatsächlichen Durchführung von partizipativen Prozessen.
Abbildung: Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung 2
Link: http://www.partizipation.at/standards_oeb.html
1
Quelle: Kersting, Norbert (Hg.) (2008): Politische Beteiligung . Einführung in dialogorientierte Instrumente politischer und
gesellschaftlicher Partizipation. VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, S 16
2 BKA und BMLFUW: Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung, S 24. Link: http://www.partizipation.at/standards_oeb.html (18.
Juni 2015)
–2–
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Hier sehen Sie die Intensitätsstufen aus den Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung. Die Menschen
bewegen sich von dieser untersten Stufe – ganz ähnlich wie bei der Leiter der Partizipation – hinauf zur
höchsten Stufe.
Die unterste Stufe in den Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung ist die Information. Das ist eine reine
Einbahn. Hier geht es darum, dass A eine Information an B gibt.
Die nächste Stufe wird als Konsultation bezeichnet. Das heißt, man kann Stellungnahmen abgeben. Es
gibt eine Interaktion, aber es ist immer noch sehr asymmetrisch. Das soll heißen, es fließt zwar Wissen
in den Politikgestaltungsprozess ein, aber die letzte Entscheidung trifft immer noch der klassische
Politikgestaltende.
Und die dritte Stufe – die höchste Stufe – wird in den Standards als Kooperation bezeichnet. Hier geht es
tatsächlich um Mitbestimmung. Es geht um ein gegenseitiges Geben und Nehmen, es geht um
Austausch und es geht um das, was man als echte – also nachhaltige – Partizipation bezeichnen könnte.
Wir wollen uns nun anschauen, was diese nachhaltige Partizipation ausmacht. Ich schließe mich
Kersting3 an, der 2008 gesagt hat, politische Partizipation besteht in erster Linie aus drei wesentlichen
Merkmalen: Das Ganze läuft freiwillig ab. Also wir alle beteiligen uns freiwillig an politischen
Entscheidungsfindungsprozessen. Es geht um eine Beteiligung durch den ganzen politischen
Entscheidungsfindungsprozess hindurch, aber es geht auch um eine Beteiligung an der Entstehung der
Ergebnisse. Also nicht nur der Prozess der Entscheidungsfindung ist wichtig, sondern auch wie es zu den
Ergebnissen aus so einem Politikgestaltungsprozess kommt. Und der dritte Punkt, den Kersting erwähnt,
ist eben, dass diese Form der Partizipation auf allen Ebenen des politischen Systems stattfindet. Also in
allen Institutionen eines politischen Systems, aber auch auf allen Ebenen: von der lokalen, kommunalen
zur Landesebene bis hin zur Bundesebene. Also das sind wesentliche Kriterien für eine politische
Partizipation. Und nachhaltige politische Partizipation bedeutet, dass konkret Einflussnahme – im Sinne
dieser dritten Stufe der Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung – beim Gestalten von Politik stattfindet;
dass es also Mitbestimmung während eines politischen Gestaltungsprozesses gibt, vom Setzen der
Agenda, vom Feststellen, was ist das politische Problem, bis hin zur Lösung und Umsetzung des
Problems. Das ist im Zuge dieses Referates und auch der Diskussion mit nachhaltiger politischer
Partizipation gemeint.
Partizipation in der UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen
Das bringt uns nach diesen groben definitorischen Fragen zum nächsten Punkt, zum Fokus. Ich habe
schon gesagt, ganz wesentlich für die Frage von Partizipation von Menschen mit Behinderungen ist –
spätestens seit 2008 – die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Wie
gesagt, Österreich hat sie 2008 ratifiziert. Den Monitoringausschuss4 – in dem ich Mitglied bin – gibt es
auch seit damals. Wir haben morgen unsere 70. Sitzung. Wir halten jeweils zwei Mal im Jahr eine
öffentliche Sitzung ab. Das heißt, wir sind ein sehr aktiver Monitoringausschuss und unsere Aufgabe ist
es – wir sind per Gesetz eingesetzt – zu überwachen und zu überprüfen, ob und dass die Republik
Österreich die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen umsetzt. Und das
bedeutet auch, dass wir dafür verantwortlich sind, darüber nachzudenken und zu überwachen, ob der
Artikel 29 der UN-Konvention erfüllt wird.
3
Kersting, Norbert (2008) (Hrsg.): Politische Beteiligung. Einführung in dialogorientierte Instrumente politischer und
gesellschaftlicher Partizipation. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
4 Unabhängiger Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Link: http://monitoringausschuss.at/ (18. Juni 2015)
–3–
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Article 29 – Participation in political and public life
States Parties shall guarantee to persons with disabilities political rights and the opportunity to enjoy
them on an equal basis with others, and shall undertake:
a) To ensure that persons with disabilities can effectively and fully participate in political and public life
on an equal basis with others, directly or through freely chosen representatives, including the right and
opportunity for persons with disabilities to vote and be elected, inter alia, by:
i. Ensuring that voting procedures, facilities and materials are appropriate, accessible and easy to
understand and use;
ii. Protecting the right of persons with disabilities to vote by secret ballot in elections and public
referendums without intimidation, and to stand for elections, to effectively hold office and perform
all public functions at all levels of government, facilitating the use of assistive and new technologies
where appropriate;
iii. Guaranteeing the free expression of the will of persons with disabilities as electors and to this end,
where necessary, at their request, allowing assistance in voting by a person of their own choice;
b) To promote actively an environment in which persons with disabilities can effectively and fully
participate in the conduct of public affairs, without discrimination and on an equal basis with others,
and encourage their participation in public affairs, including:
i. Participation in non-governmental organizations and associations concerned with the public and
political life of the country, and in the activities and administration of political parties;
ii. Forming and joining organizations of persons with disabilities to represent persons with disabilities
at international, national, regional and local levels.5
Ich hab den Artikel 29 deshalb hier im englischen Original, weil Deutsch keine offizielle Sprache der
Vereinten Nationen ist und weil es bis jetzt nur eine mit sehr vielen Fehlern behaftete Übersetzung der
Konvention ins Deutsche gibt. Es gab jetzt eine Arbeitsgruppe im Völkerrechtsbüro des
Außenministeriums, an der ich auch beteiligt war. Wir sind jetzt fertig mit einer neuen Übersetzung,
aber die ist noch nicht durch den Nationalrat gegangen. Da heißt, es gibt sie offiziell noch nicht. Deshalb
beziehe ich mich auf das englische Original.
Wenn Sie sich den Artikel 29 durchschauen, dann interessiert uns in erster Linie der Punkt b) in dem
drinnen steht, dass Staaten dafür verantwortlich sind Sorge zu tragen, dass Menschen mit
Behinderungen voll und nachhaltig partizipieren können bei allen Belangen öffentlicher
Angelegenheiten. Also alles, was uns insgesamt als Gesellschaft betrifft.
Dazu muss man ganz wesentlich sagen, dass Behindertenpolitik – ich erwähne es nur, ich nehme an, es
ist Ihnen allen klar, aber es ist wichtig – eine klassische Querschnittsmaterie ist. Behindertenpolitik ist in
Österreich zwar im Sozialbereich verortet, aber de facto betrifft die Politik für Menschen mit
Behinderungen klarerweise alle anderen Politikbereiche auch – den Sozialbereich genauso wie den
Bildungsbereich, den Gesundheitsbereich, den Justizbereich, den Wirtschaftsbereich.
Querschnittsmaterie bedeutet, dass die Thematik über alle Politikfelder hinweg liegt. Und es ist die
Aufgabe von Staaten dafür Sorge zu tragen, dass Menschen mit Behinderungen an allen diesen
Belangen teilhaben können und eben nachhaltig partizipieren können. Das wird im Übrigen nicht nur im
Artikel 29 der UN-Konvention ausführlich diskutiert, sondern das wird auch in Artikel 3 diskutiert.
5
UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen, Artikel 29. Link:
http://www.un.org/disabilities/default.asp?id=289 (18. Juni 2015)
–4–
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Article 3 – General principles
The principles of the present Convention shall be:
a) Respect for inherent dignity, individual autonomy including the freedom to make one's own choices,
and independence of persons;
b) Non-discrimination;
c) Full and effective participation and inclusion in society;
d) Respect for difference and acceptance of persons with disabilities as part of human diversity and
humanity;
e) Equality of opportunity;
f) Accessibility;
g) Equality between men and women;
h) Respect for the evolving capacities of children with disabilities and respect for the right of children
with disabilities to preserve their identities.6
In Artikel 3 geht es um die Grundsätze der Konvention und der Punkt c) sagt, es muss eine volle und
effektive Partizipation und Inklusion von Menschen mit Behinderungen in die und in der Gesellschaft
geben. Die Konvention gibt das deutlich vor und – wie gesagt – die Konvention wurde 2008 von
Österreich bereits ratifiziert.
Wenn wir bei diesem Fokus weiter denken, was bedeutet das in Bezug auf die Umsetzung dieses Artikels
29? Wir hatten letztes Jahr eine öffentliche Sitzung im Oktober – nämlich wir als Monitoringausschuss –
zum Thema Partizipation. Das war eine sehr große Sitzung. Volker Schönwiese und Petra Flieger waren
damals auch anwesend. Es waren wahrscheinlich einige, die hier im Raum sitzen, anwesend. Es waren
viele Leute da. Und ich möchte nur stellvertretend zwei Aussagen aus dieser öffentlichen Sitzung
wiedergeben.
Nur damit Sie wissen wie das (Anm.: Bei den Öffentlichen Sitzungen des Monitoringausschusses)
abläuft: Da sprechen in erster Linie Menschen, die Erfahrung mit einem Thema haben zu diesem Thema.
Und da geht es um Partizipation, ob die funktioniert oder nicht. Eine Person hat gesagt:
„Partizipation ist sehr wichtig und gut. Aber funktioniert nicht, solange Menschen mit
Behinderungen besachwaltet sind, da sie bevormundet werden.“
Das ist eine Aussage, die schon sehr deutlich zeigt, dass es Einschränkungen gibt und auf die komme ich
später noch einmal zu sprechen. Und eine zweite Person hat sich auf die fehlende Bewusstseinsbildung,
auf fehlende Inklusion bezogen und sie hat während dieser Sitzung gesagt:
„Politische Partizipation kann nur möglich werden, wenn Partizipation im Alltag stattfindet.“7
Das ist so banal vielleicht wie selbstverständlich. Und die Aussage trifft es auf dem Punkt: Solange wir
keine partizipativ mit uns gemeinsam lebende Gesellschaft erzeugen und nicht danach leben, solange
wird es natürlich auch keine politische Partizipation geben. Auch darauf komme ich am Ende des
Referates noch einmal kurz zu sprechen.
6
UN-Konvention über Rechte von Menschen mit Behinderungen, Artikel 3. Link:
http://www.un.org/disabilities/default.asp?id=263 (18. Juni 2015)
7 Unabhängiger Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.
Protokoll 30. Oktober 2014 (Öffentliche Sitzung). Link: http://monitoringausschuss.at/download/oeffentlichesitzungen/politische-partizipation/MA_PR_2014_10_30_oeffentliche_sitzung.pdf
–5–
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Eigene Erfahrung als Expertise
Jetzt kommen wir kurz zur Frage: Wie sieht das mit Expertise aus? Welche Expertise benötigen
Menschen, um partizipieren zu können? Die grundsätzliche Frage ist: Was verstehen wir unter
Expertise? Verstehen wir darunter ein distanziert-abstrakt-objektives – vermeintlich objektives –
Wissen. Das ist das, was klassischer Weise als Expertise bezeichnet wird. Oder geht es um subjektiverfahrenes-erlebtes Wissen? Also tatsächlich auf der Basis von Erfahrung. Und Bogner und Menz, die
sehr viel darüber geschrieben haben, wie das Durchführen von Informationsgewinnung durch
ExpertInnen funktionieren kann, haben 2002 in einem Buch8 geschrieben: Es ist eine „… naive Annahme
des Experten als eines Lieferanten objektiver Informationen …“. Das heißt, diese klassische Trennung
zwischen „Das ist objektives Wissen“ und „Das ist zu subjektiv erlebtes Wissen“ brechen diese beiden
Autoren schon 2002 auf.
Dieses lange Zitat stammt aus einem anderen Politikfeld:
„Expertise can be gained in a number of ways. Most commonly, a person is considered to be an
‚expert‘ on a topic area because they have completed a certain level of formal education or training
or have extensive work and/or research experience in a particular area.
An equally significant type of expertise is held by people who have lived experience of a particular
issue. They are intimately familiar with many of the issues and hold valuable perspectives about how
to tackle them.“9
Da geht es nicht um Behinderung, sondern da geht es um Obdachlosigkeit. Das habe ich deshalb als
Beispiel gebracht, weil im Bereich der Obdachlosigkeit mittlerweile auf europäischer Ebene sehr viele
Policy-Dokumente existieren, die sich genau dieser Frage widmen. Nämlich der Frage der Bedeutung
von gelebter Expertise. Und wenn Sie dieses Zitat durchgehen, sehen Sie, dass argumentiert wird: Es
gibt verschiedene Möglichkeiten, dass Expertise existiert oder gewonnen werden kann. Üblicherweise –
steht hier – wird jemand als Experte oder Expertin verstanden, wenn er eine bestimmte formale
Ausbildung und Bildung in einem bestimmten Feld oder Bereich erworben hat. Aber – wird weiter
argumentiert – eine gleichermaßen wesentliche Form von Expertise ist die gelebte Expertise, weil das
die Menschen sind, die unmittelbar am eigenen Leib bestimmte Politiken erlebt haben. Das heißt,
sinnvolles Mitgestalten von Politik bedarf – und damit beschäftigt man sich in den Sozialwissenschaften
in den letzten Jahren intensiv – beider Formen von Expertise.
Rhetorik oder tatsächliche Partizipation
Ich komme zum ersten Beispiel und das trägt den Titel „Rhetorik oder tatsächliche Partizipation“. Als
Beispiel habe ich ein nicht ganz unwesentliches Dokument österreichischer Behindertenpolitik
herangezogen, nämlich die Entwicklung des Nationalen Aktionsplans (NAP) Behinderung. Der läuft seit
2012 und soll bis 2020 durchgesetzt und umgesetzt werden. Ich möchte Ihnen anhand der Entwicklung
dieses Textes für den Nationalen Aktionsplan Behinderung zeigen, wie partizipativ oder nicht partizipativ
dieser Prozess abgelaufen ist.
Das Ganze hat mit einem Workshop im Februar 2011 begonnen. Dazu muss man sagen, bei diesem
Workshop waren Thematiken im Großen und Ganzen schon vorgegeben. Das waren Themen-Cluster
8
Bogner, Alexander und Wolfgang Menz (2002). Expertenwissen und Forschungspraxis. In: Bogner, Alexander, Littig, Beate und
Wolfgang Menz (Hg.). Das Experteninterview. Opladen. Leske und Budrich, 16.
9 Lived Experience as Expertise. Link: http://www.homelesshub.ca/sites/default/files/PROMISING.PRACTICE.MANUAL.FINAL.pdf
–6–
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und die wurden also in diesem Workshop diskutiert und es war von Anfang an klar, das wird die
Grundlage für den Nationalen Aktionsplan Behinderung bilden.
Nach diesem Workshop, der mit Menschen mit und ohne Behinderungen stattgefunden hat, hat es ein
¾-Jahr eine Informationsstille gegeben seitens des zuständigen Ministeriums, nämlich des
Sozialministeriums. Die sind hauptverantwortlich dafür.
Ein ¾-Jahr später, am 22. Dezember, kurz vor Weihnachten – wir erinnern uns noch alle daran, als der
Brief kurz vor Weihnachten gekommen ist (Anm.: gerichtet an Volker Schönwiese) – schickt das BMASK
– also das Sozialministerium – einen Entwurf aus. Nachdem vorher ein ¾-Jahr Informationsstille war.
Und im Brief des Entwurfes ist gestanden: Es gibt eine Einladung zur Stellungnahme und zwar bis zum
17. Februar 2012.
Erinnern Sie sich bitte, was ich Ihnen vorher über Arnsteins Leiter der Partizipation und auch über die
Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung gesagt habe.
Es hat dann seitens des Monitoringausschusses und vieler Organisationen Anfragen gegeben, ob es
nicht erstens eine Fristverlängerung geben könnte, weil das ja so kurz vor Weihnachten ist und damit
zumindest bis Mitte Jänner nicht wirklich jemand daran arbeiten kann, und zweitens ist – unter
anderem von uns als Monitoringausschuss – darauf hingewiesen worden, dass das Sozialministerium
unmöglich in so kurzer Zeit so viele Stellungnahmen wird lesen und einarbeiten können. Denn die
nächste Sitzung für die Erstellung des NAP war schon anberaumt für Ende Februar. Es waren am Ende
knapp 100 Stellungnahmen, das möchte ich gleich vorausschicken. Also, es wäre unmöglich gewesen,
zwischen 17. Februar bis zum 27. Februar alle Stellungnahmen zu lesen, geschweige denn,
einzuarbeiten. Es hat daraufhin am 27. Februar 2012 eine Veranstaltung gegeben, die Einladung kam
Anfang Februar. Fakt war, dass es viel zu kleine Räumlichkeiten waren und es war alles furchtbar
überfüllt mit Leuten. Die Workshop-Leitungen – es gab wieder Workshops – waren vorgegeben vom
Sozialministerium und auf dem Anmeldeformular stand „Informationsveranstaltung“. Dann hat seitens
des Ministeriums wieder gute 4 Monate eine Informationsstille gegeben und im Juli 2012 war auf einmal
ein Ministerratsbeschluss da, über den alle einigermaßen erstaunt waren. Und seit Oktober 2012 gibt es
eine sogenannte Begleitgruppe zum Nationalen Aktionsplan – Volker Schönwiese und ich sind auch
Mitglieder dieser Gruppe – und bisher fanden einige Treffen statt und vielleicht wird das auch ein Punkt
der Diskussion sein. Aber hier möchte ich jetzt mit dieser Beschreibung enden und möchte Ihnen zwei,
innerhalb von einer Woche getätigte Aussagen näher bringen. Die eine ist von Martin Ladstätter vom
Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Wien10, der gesagt hat:
„Sie [die Bundesregierung] wird zwar behaupten – ... – wie toll die Betroffenen eingebunden waren. Nur
muss man festhalten: Dies ist dann eine Lüge. ... Ein schönes Fazit hat kürzlich Mag. Hubert Stockner (SLITirol) gemailt: Es wird so vorgegangen, ‚damit Inklusion Vision bleibt‘...“11
Und eine Woche später hat Sozialminister Hundstorfer12 in einer Presseaussendung geschrieben:
„Besonders positiv bewerte ich den Entstehungsprozess des NAP. Wir haben neben der Einbindung aller
zuständigen Ministerien besonders großen Wert auf die Partizipation von Behindertenorganisationen
gelegt. Im Rahmen von Diskussionen, Veranstaltungen und Begutachtungen wurden betroffene
Menschen aktiv in die Gestaltung des NAP miteingebunden.“13
Das ist das erste Beispiel.
10
Zentrum für Selbstbestimmtes Leben in Wien. Link: https://www.bizeps.or.at/bizeps/ (18. Juni 2015)
Ladstätter, Martin (2012): Nationaler Aktionsplan: Damit Inklusion Vision bleibt. Link:
http://www.bizeps.or.at/news.php?nr=13263 (13. März 2015)
12 Rudolf Hundstorfer. Link: http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_52689/index.shtml (18. Juni 2015)
13 Hundstorfer: Bundesregierung beschließt umfassenden Aktionsplan für Menschen mit Behinderung,
http://www.bmask.gv.at/cms/site/index_presseaussendung.html?doc=CMS1343121364906 (13. März 2015)
11
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Das zweite Beispiel ist ein ganz aktuelles Beispiel. Hier handelt es sich um einen Entwurf einer
Zielvereinbarung. Die Zielvereinbarung trägt den Titel „Inklusive Behindertenpolitik“. Das ist eine
Zielvereinbarung entlang des Artikels 15a der Bundesverfassung14, eine Vereinbarung zwischen dem
Bund und den Ländern. In dieser Zielvereinbarung geht es um die einheitliche Umsetzung der UNKonvention über die Recht von Menschen mit Behinderungen. Das Ganze stammt vom 24. Februar
2015.
Abbildung: Zielvereinbarung „Inklusive Behindertenpolitik“
Link: https://www.bizeps.or.at/downloads/zielverein_entwurf.pdf
Wir halten also fest: Die Zielvereinbarung nennt sich im Titel „inklusiv“ und Inklusion hat etwas mit
Partizipation zu tun. Auf der Seite 3 wird ein Punkt 10 erwähnt und dort wird explizit als einen von 10
Handlungsfeldern Partizipation genannt.
Und auf Seite 12 findet man die Punkte 54 bis 57, wo abgehandelt wird, dass zum Beispiel bei
behindertenrelevanten Vorhaben Menschen mit Behinderungen frühzeitig und rechtzeitig eingebunden
werden müssen, dass die Bundesregierung sich den Standards der Öffentlichkeitsbeteiligung sozusagen
selbst verpflichtet und diese sicherzustellen hat und – eben eingerahmt in Punk 57:
„Der Bund und die Länder vereinbaren, Menschen mit Behinderungen – unabhängig von der
Form der Behinderung – die Beteiligung an Entscheidungsprozessen zu ermöglichen und
entsprechende Unterstützung zur Verfügung zu stellen.“15
Auch das nur ein sehr kurzes Beispiel, aber nichtsdestotrotz zeigt es deutlich die gewisse Absurdität, in
die Erstellung eines Dokumentes, das sich inklusiv nennt, in dem es explizit um Partizipation geht,
Menschen mit Behinderungen nicht eingebunden zu haben. Denn die haben nur durch Zufall von dieser
Zielvereinbarung erfahren. Und so wurde das dann auch transportiert, über diverse
Behindertenorganisationen.
Der Wandel zur inklusiven Gesellschaft
Welche möglichen Wege gibt es aus diesen bestehenden Machtverhältnissen hinaus? Was kann man
also gegen politische Rhetorik und gegen althergebrachte Machtverhältnisse tun? Auf der einen Seite
gibt es natürlich ganz viele Organisationen von Menschen mit Behinderungen, die aktiv politisch tätig
sind, aber was gibt es sonst noch für Möglichkeiten? Und wir wollen uns hier auch mit der Frage
beschäftigen: Was kann man aus wissenschaftlicher Perspektive dazu beitragen?
Dazu beitragen können die heute schon mehrfach (Anm.: von Volker Schönwiese einleitend erwähnt)
erwähnten Disability Studies als ein anderer, neuer Blickwinkel auf das Thema Behinderung. Volker
Schönwiese hat es schon gesagt, bei den Disability Studies geht es in erster Linie um eine Perspektive
aus einer selbstbetroffenen Sicht auf das Thema Behinderung. Das heißt, man hat als Frau oder Mann
mit Behinderung „Behinderung erfahren“. Ganz wesentlich für die Disability Studies ist, dass
Behinderung nicht am Körper festgemacht wird, nicht an Defiziten festgemacht wird, sondern an
behindernden Barrieren innerhalb der Gesellschaft. Wichtig ist auch hinzuzufügen, dass sich die UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausdrücklich auf dieses sogenannte
soziale Modell von Behinderung bezieht, das eben auch die Grundlage der Disability Studies ist. Das
14
Österreichische Bundesverfassung. Link:
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138 (18. Juni 2015)
15 Zielvereinbarung „Inklusive Behindertenpolitik“. Link: https://www.bizeps.or.at/downloads/zielverein_entwurf.pdf
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heißt, es geht um „nichts über uns ohne uns“. Es geht darum, dass durch Politik Gesellschaft verändert
wird. Das ist eine sehr aktive Form von Forschung, die einen starken Empowerment-Ansatz hat. Und in
Österreich – das wurde schon gesagt – beginnen wir uns schön langsam aber doch zu etablieren.
Die Probleme damit sind aber – wie auch schon von dir (Anm.: gerichtet an Volker Schönwiese)
angesprochen – mehrschichtig. Das eine ist ein sehr althergebrachtes Verständnis von Wissenschaft.
Wissenschaft, die einen zu starken Empowerment-Ansatz hat, wird nach wie vor in vielen Fällen als
Nicht-Wissenschaft angesehen. Und dann kommt ein zweiter Punkt, der ganz wesentlich ist: Es gibt
kaum Menschen mit Behinderungen im tertiären Bereich. Auf den Universitäten, auf den
Fachhochschulen gibt es einfach zu wenige Menschen mit Behinderungen, weil sie nachhaltig und zu
lange in ein segregierendes Schulsystem geschickt wurden und deshalb nicht die Möglichkeit hatten und
haben in den tertiären Bereich zu kommen. Und spätestens da beginnt sich das Ganze im Kreis zu
drehen.
Nämlich: Anerkannt werden durch Partizipation und partizipieren durch Anerkennung. Das ist ein
bisschen wie mit der Henne und dem Ei. Was muss zuerst vorhanden sein? Und wie ich vorhin zitiert
habe, diese eine Person aus der öffentlichen Sitzung im letzten Oktober hat mit Recht gesagt: Erst wenn
es allgemeine Partizipation im Alltag gibt, kann es politische Partizipation geben. Die Grundlagen für
gelingende und nachhaltige Partizipation sind einerseits Bewusstseinsbildung in Bezug auf Anerkennung,
auf Akzeptanz, auf Respekt Menschen gegenüber. Das bedeutet, wenn wir das alles schaffen und wenn
wir das alles umsetzen, leben wir in einer inklusiven Gesellschaft. Die wiederum bedarf Barrierefreiheit,
und wir leben dann auch in einer selbstbestimmt organisierten Gesellschaft. Bewusstseinsbildung in
Bezug auf eigene Fähigkeiten wie auch Rechte ist eben ganz wesentlich, weil Menschen mit
Behinderungen tatsächlich viel zu lange in diesem parallelen Bildungs- und Ausbildungssystem gewesen
sind und immer noch sind. Das heißt, dieser Empowerment-Ansatz ist ein ganz wesentlicher, um
Menschen klarzumachen: ihr habt diese Rechte und nehmt sie euch auch, weil ihr sie dann auch habt.
Und Partizipation bewirkt wiederum, dass Bewusstsein gebildet wird. Das ist dieser Kreis, den ich
versucht habe zu beschreiben.
Warum die Aufregung?
Es kann sein, dass sich jetzt einige von Ihnen während meines kurzen Referates zwei Fragen gestellt
haben. Warum sollen Menschen mit Behinderungen am Treffen politischer Entscheidungen und deren
Umsetzung beteiligt sein? Und: Was hat das mit verantwortungsbewusster Wissenschaft zu tun?
Ich möchte zuerst die erste Frage ganz kurz beantworten: Weil es zum Teil vorenthaltene Rechte gibt.
Der Wahlrechtsausschluss in Österreich ist 1987 gefallen. Seit 1987 – mit wenigen Ausnahmen in einigen
Landtagswahlordnungen – findet nicht mehr statt. Menschen mit Lernschwierigkeiten, besachwaltete
Menschen dürfen wählen. Und trotzdem wird das Wahlrecht Menschen mit Behinderungen immer noch
vorenthalten, weil bis in manche Wahlsprengel noch nicht durchgedrungen ist, dass Menschen mit
Behinderungen wählen dürfen.
Der zweite Punkt, den ich hier erwähnt habe: Weil zum Teil Rechte nicht vorhanden sind, weil Rechte
genommen werden, zum Beispiel im Zuge einer Besachwaltung. Da ändert sich in Österreich momentan
relativ viel. Es gibt eine Arbeitsgruppe im Justizministerium, wo das Konzept der unterstützten
Entscheidungsfindung – die etwas ganz anderes als Besachwaltung ist, sie ist eine ersetzende
Entscheidungsfindung – momentan ausgearbeitet und soll als Modellprojekt auch angegangen und
umgesetzt werden. Also darüber denkt man tatsächlich in Österreich momentan nach. Aber es ist ein
Faktum: In dem Moment, wo man besachwaltet wird, verliert man einen Teil seiner Rechte.
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Die Segregation habe ich schon mehrfach angesprochen. Sie betrifft bei Weitem nicht nur die Bildung,
sondern sie betrifft auch den Arbeitsmarkt in einem ganz wesentlichen Ausmaß. Und wir alle wissen,
was es bedeutet, Teil des Arbeitsmarktes oder nicht Teil des Arbeitsmarktes zu sein. Und daraus
resultiert tatsächlich vielfach eine Aberkennung der Fähigkeit, politisch partizipieren zu können.
Das alles ist nicht erst seit 2008, als die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen ratifiziert wurde, zu hinterfragen. Das hätte schon viel früher – spätestens seit 1948, seit
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – hinterfragt werden sollen. Und Fakt ist außerdem,
dass eine ausgrenzende Politikgestaltung sehr lange betrieben wurden und das meine sehr kurz
gefassten Antworten auf diese erste Frage sind.
Meiner Antwort schließen sich andere an oder ich schließe mich umgekehrt der Antwort anderer an.
Das Komitee in Genf, das für die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen zuständig ist, hat am 5. Juni 2014 ein Dokument veröffentlicht, wo es darum geht, ob die
Europäische Union die UN-Konventionen umsetzt. Es war das erste Mal, dass die Europäische Union
eine UN-Konvention als Europäische Union ratifiziert hat. Das hat vorher noch nie stattgefunden. Die
Europäische Union wird also jetzt auch von den Vereinten Nationen überprüft werden. Und das Komitee
der Vereinten Nationen hält auf der Seite 51 fest:
„Together with ANED, supported by the Commission, FRA developed indicators on the right to political
participation of persons with disabilities. The collected data show that, given the opportunity, people
with disabilities actively participate in politics. However, significant challenges to participation on an
equal basis with others remain, including: legal obstacles; inaccessible environments, processes and
information; a lack of awareness about the right to political participation; limited opportunities for
participation; and an absence of reliable and comparable data. The findings were released in April and
May 2014.“16
ANED heißt Akademisches Netzwerk europäischer BehinderungsforscherInnen. ANED hat sich
gemeinsam mit der Kommission und mit der Fundamental Rights Agency – das ist eine große
Menschenrechtsagentur Europas – gemeinsam dem Thema der Rechte der politischen Partizipation von
Menschen mit Behinderungen gewidmet. Und die Daten, die gesammelt wurden, zeigen, dass wenn
Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben zu partizipieren, sie das tatsächlich auch sehr aktiv
tun. Und dann kommt aber „however“: Aber es gibt tatsächlich ganz signifikante Herausforderungen in
Bezug auf die Partizipation von Menschen mit Behinderungen auf der gleichen Basis mit anderen. Es gibt
rechtliche Schwierigkeiten und Hürden. Es gibt zum Teil nicht barrierefreie, nicht zugängliche
Umgebungen, aber auch nicht barrierefreie Politikgestaltungsprozesse, nicht barrierefrei gelieferte
Information usw. Also hier wird aufgelistet, was alles nicht so ist, wie es sein sollte in Bezug auf
Partizipation von Menschen mit Behinderungen.
Das ist schon ein kurzer Versuch der Beantwortung der zweiten Frage: Was hat das mit
verantwortungsbewusster Wissenschaft zu tun?
Aus der Sicht der Disability Studies ist es nicht nur die Rolle der Disability Studies, sondern auch von
Sozialwissenschaft oder Sozialwissenschaften allgemein – also auch der traditionellen Fächer und
Herangehensweisen – sich den Fragen zu widmen: Wie laufen Ausgrenzungsmechanismen ab? Wie
werden gesellschaftliche Defizite produziert? Warum werden die nicht abgebaut? Es geht darum,
Menschen argumentativ zu ent-marginalisieren – also aus dieser Ausgrenzungs- und Randlage
herauszuholen. Und ganz wesentlich – das ist auch in dem Bericht, den ich vorhin gezeigt habe,
16
United Nations Committee on the Rights of Persons with Disabilities, Consideration of reports submitted by States parties
under article 35 of the Convention . Initial report of States parties due in 2012. European Union (Date received : 5 June 2014),
CRPD/C/EU/1, S 51.
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angesprochen worden: Man sollte endlich beginnen zu schauen, wo es denn schon alternative
Politikgestaltungsprozesse gibt. Wo läuft denn schon nachhaltige politische Partizipation positiv und gut
ab?
Im Dokument des Komitees wird genau dieses Thema angesprochen: Es gibt zu wenig Studien zu diesem
Thema, es gibt zu wenige Fakten und Daten zum Thema. Und das verhindert eine konsequente
Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und damit auch
gelebte nachhaltige Partizipation.
Ich habe versucht, Ihnen sozusagen einen kurzen Rund-um-Blick zu geben, was das Thema ausmacht,
und ich übergebe an Volker Schönwiese. Danke.
Kommentar von Volker Schönwiese:
Deine Frage ist ja auch (Anm.: gerichtet an Ursula Naue): Wie kann es gehen, dass Partizipation auch
tatsächlich wirksam wird. Die Erfahrung ist sehr mächtig, dass wir benutzt werden – um es ganz plump
zu sagen –, und dass wir – wenn wir einbezogen werden – Teil eines Prozesses werden, den wir nicht
steuern können. Dafür gibt es unglaublich viele Beispiele.
Zum Beispiel: Als das Pflegegeldgesetz zu Beginn der 1990er-Jahre auf der Ebene des Sozialministeriums
in Arbeitsgruppen verhandelt und im Parlament dann entsprechend abgehandelt worden ist – was zur
Verabschiedung des Pflegegeldgesetzes geführt hat – war dies das Resultat eines sehr breiten
Diskussionsprozesses, den man durchaus partizipativ nennen kann. Es hat zwei große Diskussionsrunden
gegeben, die über ein halbes Jahr lang und unglaublich oft gearbeitet haben und auch entsprechende
Berichte geliefert haben, wo jeweils behinderte Menschen dabei waren. In einer Runde ging es um das
Pflegegeld und in der anderen um die sogenannten Pflegestrukturen.
Ich war damals unglaublich engagiert und – ich mache es kurz – wir haben eigentlich sehr gut gearbeitet
im Bereich Pflegestrukturen und haben Anfang der 1990er-Jahre ein bis heute sehr interessantes Papier
geliefert17. Das Ganze ist dann aus diesem partizipativen Prozess heraus dem Parlament übergeben
worden, den Parteien, und die haben das dann weiter verhandelt unter Ausschluss der Personen, die
dort in den Arbeitskreisen gearbeitet haben. Die Spitze der österreichischen Arbeitsgemeinschaft
Rehabilitation war schon beteiligt. Das Ergebnis war zum einen das bekannte Pflegegeldgesetz und zum
anderen, dass dort über Pflegestrukturen eine 15a-Vereinbarung – also ein Bund-Länder-Vertrag –
gemacht worden ist, der de facto null bedeutet. Eigentlich war die Arbeit, die wir vorbereitend geleistet
haben, über lange Zeit an einem wichtigen Bericht, überhaupt nichts wert. Das muss sich schon auch
dazu sagen.
Das wichtige ist: In der Phase, in der es entscheidend geworden ist, war niemand mehr von uns dabei.
Also im Vorfeld haben wir sehr intensiv gearbeitet und auch innovativ – muss man sagen. Eines der
großen Probleme ist, dass österreichweit in die Behindertenhilfe unglaublich viel Geld hineingeht, aber
an den Strukturfragen, die die Konvention ja anspricht, nicht gerührt wird – nicht wirklich und
bestenfalls nur oberflächlich gekratzt wird. Also es geht schon um heftig große auch wirtschaftlich große
Themen, wenn man davon ausgeht, dass das etwas über 2 Prozent des Brutto-National-Produkts von
Österreich betrifft. Das heißt, wir kommen ein Stück näher, aber wenn es dann entscheidend wird, dann
sind wir draußen.
17
Vgl: Bericht der Arbeitsgruppe "Vorsorge für pflegebedürftige Personen", Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Mai
1990. Link: http://www.slioe.at/downloads/links/Sozialministeriums-Bericht_1990.pdf
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Den Workshop von 2011 von dem du (Anm.: gerichtet an Ursula Naue) erzählt hast, habe ich lebhaft in
Erinnerung. Ich war dort im Arbeitskreis Bildung. Seit Anfang der 1980er-Jahre gibt es Schulversuche in
Österreich, seit Mitte der 1990er-Jahre gibt es eine Schulgesetzgebung für schulische Integration und
2011 hat der Arbeitskreis so begonnen, dass Ministerialbeamte gesagt haben: „Reden wir doch einmal
darüber: Was könnte Inklusion eigentlich bedeuten?“ Das war der Beginn der Partizipation. Jetzt dürfen
wir mitreden. 2011! Denken wir doch gemeinsam ganz offen nach: Was könnte das denn eigentlich
sein? Also es war schon eine Frechheit – auf Deutsch gesagt. Ich hab gleich entsprechend protestiert
und es hat dann ein interessanter Prozess stattgefunden. Runde Tische sind gemacht worden, 3 große
runde Tische vom Bildungsministerium, wo Unmengen von Leuten eingeladen waren. Es waren alle
partizipativ total drinnen und haben auch Dinge ausgearbeitet und und und. Und am Ende ist
herausgekommen, dass die Ministerin18 mit den Landesschulratspräsidenten vereinbart hat, dass die
Sonderschulen bleiben, dass sich nichts ändert. Die Ministerin und die Landesschulratspräsidenten
waren in diesen partizipativen Prozess natürlich nicht eingebunden und bei dem Punkt stehen wir
immer noch. Auch dieses ist ein Beispiel, worauf ich auch hinauswill: Dass man eigentlich schon gut
beteiligt werden kann, wenn man es sich hart genug erkämpft. Aber kommt man damit an die
entscheidenden Personen überhaupt heran? In welchem Gremium und mit wem rede ich denn in
diesem partizipativen Prozess? Was die Schule betrifft haben wir nicht mit dem
Landesschulratspräsidenten verhandelt, sondern wir sind mit ganz anderen Personen an 3 runden
Tischen gesessen.
Ein anderes Beispiel ist das oberösterreichische Chancengleichheitsgesetz, in dem die Beteiligung von
behinderten Menschen gesetzlich verankert ist – über Heimbeiräte, Werkstättenbeiräte und andere
Beiräte. Behinderte Personen haben also eine Position, um etwas zu vertreten. Sie werden
institutionalisiert in diese gesetzlich geregelten Gremien einbezogen. Aber wenn man sich anschaut, was
aktuell in Oberösterreich passiert, wo 25 Millionen Euro im Behindertenbereich eingespart werden
sollen: Die größte Menge an Großinstitutionen existiert unverändert – so wie es jetzt von außen
erscheint. Gleichzeitig demonstriert die Gewerkschaft dafür, dass die Arbeitsplätze der nichtbehinderten Personen, die in den Einrichtungen arbeiten, gewahrt bleiben, ohne dass die Gewerkschaft
gleichzeitig auch nur eine Kleinigkeit an Strukturforderungen stellt – zum Beispiel in Richtung UNKonvention. Dann muss man sagen, die gesetzlich geregelte Beteiligung von behinderten Menschen in
Oberösterreich ist wirkungslos.
Also, meine nachdenkende Frage anhand dieser Beispiele: Partizipation wird dann zu einer
Scheinpartizipation, wenn man arbeitsmäßig einbezogen wird, aber die eigentlichen AkteurInnen der
Entscheidung nicht am Tisch sitzen. Und wer sind denn die eigentlichen AkteurInnen? Also, was die
Schule betrifft, wissen wir: Die eigentlichen AkteurInnen sind zum Beispiel die Personalvertretungen und
die LehrerInnen-Gewerkschaft. Von denen habe ich in jahrzehntelangen Diskussionen im Ministerium
noch nie irgendeine Person jemals gesehen. Aber sie sind es, die bis jetzt immer noch am stärksten
Strukturreformen verhindern. Das ist eine Form von Interessenvertretung.
Dann ist die Frage, wieweit sind Teile der Wirtschaftskammer oder Interessengruppen aus dem
Wirtschaftsbereich tatsächlich eingebunden in Verhandlungen. Zum Beispiel, was jetzt aktuell in der
Steiermark wieder passiert ist: Verschlechterung der Bauordnungen, weil das eine Forderung der
Bundeswirtschaftskammer ist. In Steiermark gibt es einen relativ interessanten nationalen steirischen
Aktionsplan. Es gibt Partizipation in einem Maß, wie man es sich anderswo wünschen könnte.
Unabhängig von diesen Partizipationsbemühungen wird in der Steiermark zum selben Zeitpunkt eine
18
Bundesministerin Claudia Schmied. Link: http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_36447/index.shtml
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echte Verschlechterung im Landtag beschlossen. Ja und wo haben die betroffenen Personen dann
entsprechend reagiert?
Dritter Bereich ist der große Bereich der Institutionen und der Reform der Institutionen im Sinne der
UN-Konvention. Ja wer sind denn die Träger der Behindertenhilfen in den ganzen Ländern, die dort
entsprechend auftreten und sich in Gruppen zusammensetzen und Forderungen stellen? Wer hat mit
denen schon tatsächlich entsprechend verhandelt, wenn es um partizipative Prozesse gegangen ist?
Wessen Interessen vertreten diese Interessenverbände eigentlich? Sie vertreten natürlich Interessen
der Organisation für behinderte Menschen, aber die Interessen werden nicht von behinderten
Menschen selbst vertreten. Also haben wir – so muss man das leider sagen – gegenüber denzentralen
großen Interessengruppen der Gesellschaft keine Position, nennen wir sie Wirtschaftskammer oder
Gewerkschaft oder Kirche. Das sind diejenigen, die zum nationalen Aktionsplan auch Stellungnahmen
abgegeben haben. Die haben wir nie gesehen, obwohl wir das mehrfach wollten. Wir wollten, bevor die
Regierung den nationalen Aktionsplan beschlossen hat, die Stellungnahme der ganzen
Interessenvertretungen öffentlich haben. Unter der Zuhilfenahme von Datenschutz durften wir nicht
wissen, was die Gewerkschaft dazu sagt. Wegen des Datenschutzes durften wir nicht wissen, was die
Wirtschaftskammer dazu sagt. Wir durften nicht wissen, was die Kirche dazu sagt. Es ist uns schlichtweg
jede echte Information verweigert worden. Schwärzung nennt man das heute.
Meine Grundthese wäre – gerade aus einer langjährigen NGO-Erfahrung – immer auf der Straße, immer
mit Medien, immer mit Mobilisierung zu arbeiten. Und wir kommen über diesen Druck natürlich ein
Stück weiter. Auch die UN-Konvention ist nicht vom Himmel gefallen, die ist ja ein erkämpftes Resultat
internationaler Aktionen von solchen kleinen NGO-Gruppen. Die haben nicht die Regierungen und auch
nicht die VertreterInnen der großen Verbände der Behinderteneinrichtungen erkämpft. Das ist schon
von den Betroffenen selbst erkämpft worden. Also, wenn man diese Personen in Richtung Partizipation
ernst nehmen will, muss man – und das ist die Aufgabe der Politik – sie nicht nur entscheidungsfähig
werden lassen, sondern sie auch die inhaltliche auch wissenschaftlich geleiteten Auseinandersetzungen
an den Punkten führen lassen, wo sie auch tatsächlich Macht haben und das ist es, worum es geht. Und
das sage ich speziell in Österreich – ich weiß nicht ob das polemisch ist oder nicht – mit dieser geringen
kurzen Tradition von Demokratie. Wann hat Österreich tatsächlich als demokratischer Staat zu
funktionieren angefangen? Man muss sagen, eigentlich erst nach dem II. Weltkrieg. Es gab eine kurze
Phase nach dem I. Weltkrieg, wo man nicht recht weiß. Aber eigentlich ist diese ständische Struktur –
das heißt, dass Interessenvertretungen viel entscheidender waren als demokratisch gewählte Personen,
im Sinne der Verwirklichung der Wünsche von allen Menschen – eigentlich erst nach dem II. Weltkrieg in
einer abgeschwächten Form von Ständestaat, die man auch Sozialpartnerschaft nennt, relativiert
worden. Und was haben wir als NGOs unter solchen Bedingungen in diesem doch durchaus großen
Wirtschaftsbereich der Behindertenhilfe für eine Rolle? In diesem Sozialwirtschaftsbereich der
Behindertenhilfe und diesem riesigen Bildungssystem, das ja zu reformieren wäre im Sinne aller
Menschen, aller Kinder und Jugendlichen im Sinne der Vielfalt – was haben wir kleinen Mäuschen, die
wir mit einen Plakat irgendwo stehen, für eine Rolle? Und wo ist die Partizipationsbemühung so weit
gediehen, dass wir tatsächlich als InteressenvertreterInnen an Entscheidungsmacht herankommen und
nicht wieder über eine institutionalisierte Form vertreten werden? Ich spreche von einer
institutionalisierten Form, die von der Regierung oder vom Ministerium legitimiert ist, und die von
vornherein, weil sie öffentlich finanziert wird, den Kompromiss in sich hat, weil sie auch gleichzeitig die
Interessen der Einrichtungen der Sozialwirtschaft vertreten muss. So tut sich für mich der große Bogen
auf und wir könnten jetzt 100 Millionen kleine Beispiele dazu erzählen, was wir schon alles erlebt haben.
Aber jetzt beginnen wir mit der Diskussion.
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