ANALYTISCHE CHEMIE Supplementary material: German version of the text entitled „First-order differential equations in chemistry” Differentialgleichungen erster Ordnung in der Chemie Gudrun Scholz1, Fritz Scholz2 * 1 Department of Chemsitry, Humboldt-Universität zu Berlin, Brook-Taylor-Str. 2, 12489 Berlin, Germany 2 Institut für Biochemie, Universität Greifswald, Felix-Hausdorff-Str. 4, 17487 Greifswald, Germany * Korrespondenzautor “Differentialgleichungen sind extrem wichtig in der Geschichte der Mathematik und den Naturwissenschaften, weil die Gesetze der Natur ganz allgemein in der Form von Differentialgleichungen geschrieben werden. Mit Differentialgleichungen beschreiben und verstehen die Wissenschaftler die Welt.” [1] Zusammenfassung Viele Vorgänge und Phänomene in der Chemie und in den Naturwissenschaften können durch Differentialgleichungen erster Ordnung beschrieben werden. Diese Gleichungen sind von größter Bedeutung und werden sehr häufig benutzt, um Naturgesetze zu beschreiben. Obwohl die Mathematik in allen Fällen die gleiche ist, können Studierende die Ähnlichkeiten nicht immer leicht erkennen, weil die relevanten Gleichungen in unterschiedlichen Gebieten auftreten und unterschiedliche Größen und Einheiten enthalten. Mit dem vorliegenden Text wird die Absicht einer einheitlichen Darstellung verfolgt, die an verschiedenen Beispielen die Lösung von Differentialgleichungen erster Ordnung zeigt. Dazu werden das Bouguer-LambertBeer’sche Gesetz aus der Spektroskopie, Zeitkonstanten von Sensoren, chemische Reaktionskinetik, der radioaktive Zerfall, die Relaxation in der Kermagnetischen Resonanz und die RC -Konstante einer Elektrode diskutiert. 1 1. Einführung Die mathematische Beschreibung von verschiedenen Vorgängen in Chemie und Physik ist möglich mit Hilfe von Differentialgleichungen, wenn man bestimmte Modelle zugrunde legt und Annahmen zu den Randbedingungen macht [2, 3 ]. In vielen Fällen beschreiben Differentialgleichungen erster Ordnung vollständig die Änderung dy einer Funktion y ( x) und anderer Größen. Hängt die Größe y von der Größe x ab, so kann ein Modell auf folgenden Annahmen bestehen: eine differentielle Änderung der Variable y möge proportional sein zu einer differentiellen Änderung der anderen Variable, d.h., es soll gelten: dy ~ dx . Die Abnahme dy möge der Funktion y selbst proportional sein, d.h.: dy ~ ydx . Unter Annahme einer noch unbekannten Konstante a gelte somit: dy aydx (Gl. 1.1) Damit erhält man die gewöhnliche lineare homogene Differentialgleichung erster Ordnung: dy ay 0 dx (Gl. 1.2) Merkmale einer gewöhnlichen linearen homogenen Differentialgleichung erster Ordnung sind: (a) es gibt nur eine unabhängige Variable, hier z. B. x , die sie zu einer gewöhnlichen Differentialgleichung macht. (b) Die abhängige Variable, hier y , hat den Exponenten 1, was sie zu einer linearen Differentialgleichung macht, (c) die Differentialgleichung enthält nur die Variable y und ihre erste Ableitung und ist deshalb eine homogenen Differentialgleichung erster Ordnung. Diese Gleichung kann gelöst werden, wenn man beispielsweise folgende Randbedingungen wählt: y variiert zwischen y0 und y , wenn x zwischen 0 und x variiert. Nach Separation der Variablen, kann Gl. 1.1 integriert werden: dy adx y y (Gl. 1.3) x dy y y a 0 dx 0 (Gl. 1.4) y ax y0 (Gl. 1.5) ln 2 y y0 e ax (Gl. 1.6) Gleichung 1.6 beschreibt den exponentiellen Abfall von y in Abhängigkeit von x . Dieser Formalismus wird nun auf verschiedene Fälle, die in der Chemie auftreten, angewendet und am Schluss werden diese Fälle tabellarisch verglichen. 2. Das Bouguer-Lambert-Beer’sche Gesetz Die Intensität elektromagnetischer Strahlung (z.B. von sichtbarem Licht), exakt der Strahlungsfluss I (Einheit W, Watt, oder J s‒1, Joule pro Sekunde), verringert sich entlang des optischen Weges x durch das homogene absorbierende Medium (z.B. eine gefärbte Lösung). Abbildung 2.1 zeigt eine Küvette und die Änderung des Strahlungsflusses entlang des optischen Weges. Abbildung 2.1: Die Änderung des Strahlungsflusses der elektromagnetischen Strahlung beim Passieren einer Küvette. I 0 ist der Strahlungsfluss beim Eintritt in das absorbierende Medium, I ist der Strahlungsfluss beim Austritt aus dem absorbierenden Medium, dI ist die differentielle Abnahme des Strahlungsflusses beim Passieren einer differentiellen Weglänge dx entlang des Weges xi . 3 Die differentielle Abnahme dI des Strahlungsflusses beim Passieren der differentiellen Weglänge dx wird als proportional zu I an der Stelle xi angenommen. Dazu müssen wir den physikalischen Hintergrund der Abnahme des Strahlungsflusses verstehen: Wenn die Strahlung als ein Strom von Photonen verstanden wird, dann ist die Absorption von Strahlung das „Einfangen“ von Photonen durch absorbierende Teilchen (Moleküle, Atome, oder Ionen) in der Küvette. Natürlich muss die Effektivität des Einfangens von der Anzahl der Teilchen pro Volumeneinheit, d.h. von der Konzentration c in mol L‒1 abhängen, weil die Wahrscheinlichkeit, dass ein Photon ein Teilchen trifft, konzentrationsproportional ist. Jedoch führt nicht jeder Treffer auch zur Absorption eines Photons. Um das zu berücksichtigen, definiert man einen Wirkungsquerschnitt der Teilchen. Der Wirkungsquerschnitt hat die Einheit einer Fläche, weil man ihn als eine effektive Targetfläche verstehen kann, im Unterschied zu der geometrischen Fläche, die ein Teilchen den Photonen exponiert. Anstelle eines Wirkungsquerschnitts kann man aber auch eine Konstante (griechischer Buchstabe Kappa) definieren, die Werte zwischen 0 und 1 annimmt, um den Anteil erfolgreicher Absorptionsereignisse zu charakterisieren. ist eine für die Teilchen und die Energie der Photonen Ephoton charakteristische Größe. Damit hängt sie also auch von der Frequenz (griechischer Buchstabe Ny) der Strahlung ab, da Ephoton h ( h ist das Plancksche Wirkungsquantum 6.62606957(29)×10−34 Js), und auch von der Wellenlänge (griechischer Buchstabe Lambda) mit hclight Ephoton ( clight ist die Lichtgeschwindigkeit im betreffenden Medium). Aus diesen Überlegungen folgt, dass die Differentialgleichung dI ( x) I ( x) cdx (Gl. 2.1) adäquat die Abnahme des Strahlungsflusses beschreibt. Da die Größe spezifisch für die Energie der absorbierten Photonen ist, gilt diese Gleichung für monochromatisches Licht, d.h. für Licht einer bestimmten Frequenz und damit einer bestimmten Photonenenergie). Die Bedeutung von Gleichung 2.1 kann man an Hand von Abbildung 2.2 verstehen: Wenn xe die gesamte optische Weglänge durch das absorbierende Medium beschreibt, und die Intensität (der Strahlungsfluss) des einfallenden Lichtes I 0 ist (bei x 0 ), dann wird bei der Koordinate xi die Lichtintensität auf I i gefallen sein und der Anstieg der Funktion I ( x) f ( x ) , d.h. dI ( x ) dx ist dann proportional zu I i , und c . 4 Abbildung 2.2: Die Abnahme der Strahlungsintensität (des Strahlungsflusses) beim Passieren der des absorbierenden Medium. Die Integration von Gleichung 2.1 und einige Umformungen ergeben: (Gl. 2.2), I cxe I0 (Gl. 2.4), ln lg I0 1 cxe 0.4343 cxe I ln10 Das Verhältnis lg x I dI ( x) cdx I ( x) e dI ( x) c dx I ( x) I0 0 ln I0 cxe I (Gl. 2.3) (Gl. 2.5) (Gl. 2.6). I0 heißt Extinktion (oder nach DIN “dekadisches Absorptionsmaß” [4]) E I , und das Produkt 0.4343 bezeichnet man als “molaren Absorptionskoeffizienten“ (griechischer Buchstabe Epsilon) (oder auch als „molaren dekadischen Extinktionskoeffizienten“, oder auch als „molaren Absorptionskoeffizienten“). Der Weglänge xe gibt man üblicherweise das Symbol l . Das Bouguer-Lambert-Beer’sche Gesetz schreibt man dann wie folgt: 5 E cl (Gl. 2.7). Neben der rein mathematischen Abhandlung muss erwähnt werden, dass Gl. 2.7 einen eigeschränkten Gültigkeitsbereich hat: es ist nur bei kleinen Konzentrationen absorbierender Teilchen eine gute Beschreibung der Wirklichkeit. Bei höheren Konzentrationen (manchmal schon oberhalb von 10−5 mol L−1) führen intermolekulare Wechselwirkungen der absorbierenden Teilchen und chemische Gleichgewichte zu Abweichungen( scheinbare Variationen des Extinktionskoeffizienten). Ferner n der Lösung mit der Konzentration des Analyten merklich ändern kann: Man verwendet dann anstelle von besser den folgenden Ausdruck muss man berücksichtigen, dass sich der Brechungsindex der molaren Refraktion: n n2 2 2 [5]. 3. Zeitkonstanten von Sensoren Sensoren messen physikalische oder chemische Größen und transformieren diese in ein Ausgangssignal eines Messgerätes, das man anzeigt oder speichert. Mögliche physikalische Größen sind die Temperatur, der Druck, der Strahlungsfluss, die magnetische Feldstärke usw. Chemische Größen sind in der Regel Konzentrationen oder Aktivitäten von Molekülen, Atomen oder Ionen. In den meisten Fällen ist das Ausgangssignal eine Spannung oder ein Strom. Das typischste Merkmal eines Sensors ist, dass es eine einzelne Größe (eindimensional) ist (d.h. man misst nur diese Größe und nicht einen funktionalen Zusammenhang dieser Größe in Abhängigkeit einer anderen vorgegebenen Größe). Die meisten analytischen Geräte geben ein zweidimensionales Ergebnis, z. B. ein optisches Spektrum, dass die Extinktion als Funktion der Wellenlänge darstellt ( E f ( ) ), oder ein Voltammogramm, das den Strom durch eine Elektrode als Funktion des Elektrodenpotentials zeigt. Ein weiteres Beispiel für ein zweidimensionales Ergebnis ist in der Röntgendiffraktometrie die Darstellung der Intensität der gebeugten Strahlung als Funktion des Beugungswinkels. In der modernen analytischen Instrumentierung hat man die Dimensionalität sogar auf 3 erhöht, wenn zum Beispiel optische Spektren ( E f ( ) (oder auch Massenspektren, bei denen Ionenintensitäten gegen das Massezu-Ladungs-Verhältnis der Ionen aufgezeichnet werden) als Funktion der Elutionszeit in der Chromatographie registriert werden. Abbildung 3.1 zeigt einen Vergleich der üblichen Dimensionalitäten von analytischen Messungen. 6 Abbildung 3.1: Vergleich der üblichen Dimensionalitäten von analytischen Messungen.. Weil jede Messung Zeit benötigt, stellen sich die Signale nicht sofort ein, sondern benötigen dafür eine gewisse Zeitspanne. Das sieht man sehr leicht, wenn man einen Sensor, z.B. eine Glaselektrode verwendet: Man bemerkt immer eine Zeitperiode, in der sich das Signal noch ändert, bis es schließlich ein konstanter Endwert erreicht zu sein scheint. Das Gleiche gilt natürlich auch für zwei- oder dreidimensional Messungen, aber wir werden es dort nicht so leicht erkennen, weil sich die Messgröße (z.B. die Extinktion) ohnehin als Funktion der systematisch geänderten Größen (z.B. der Wellenlänge) d.h. also zeitlich, ändert. Normalerweise ändert man die Wellenlänge mit einer bestimmten Geschwindigkeit d dt (das ist die Registriergeschwindigkeit), oder allgemein (siehe Abb. 3.2) eine Größe x mit der Registriergeschwindigkeit dx dt (die auch Null sein kann). Ob wir also bei jeder Wellenlänge wirklich den Endwert der Extinktion messen, der sich einstellen müsste, wenn wir die Wellenlänge konstant hielten, lässt sich nur ermitteln, wenn die Änderungsgeschwindigkeiten der Wellenlänge sehr verkleinert wird, im Extremfall sogar Null ist. Bezugnehmend auf Abbildung 3.2 bedeutet das, dass nur unterhalb eines Grenzwertes dx dt Grenzwert die Spektren unverzerrt registriert werden, während oberhalb dieses Wertes das Signal immer etwas verfälscht aufgezeichnet wird (das Signal „hinkt nach“) (siehe Abb. 3.2). 7 Abbildung 3.2: Mögliche Verzerrung eines Spektrums, wenn die Registriergeschwindigkeit oberhalb eines Grenzwertes (dx dt )Grenzwert ist. Abbildung 3.2 zeigt klar, dass es wichtig ist zu wissen, wie schnell sich das Signal bei einem best. Wert von x auf seinen Endwert einstellt. Im Falle eines Sensors, d.h. bei einer eindimensionalen Messung, bei der keine anderen Größen verändert werden, kann man das Signal einfach als Funktion eines Konzentrationssprungs aufzeichnen, um das zeitliche Verhalten zu untersuchen. Das lässt sich im einfachsten Fall dadurch realisieren, dass man den Sensor in eine Lösung eintaucht und diesen Vorgang als Konzentrationssprung betrachtet. In vollkommeneren Experimenten wird man z. B. ein Durchflusssystem nutzen, in dem sich durch Umschalten von Flüssigkeitsströmen ein mehr oder weniger perfekter Konzentrationssprung am Sensor realisieren lässt. Dazu muss sich der „Schalter“, meistens ein HPLC-Ventil, möglichst nahe am Detektor befinden, damit durch die Strömung im dazwischen befindlichen Schlauch das „sprunghafte“ Konzentrationsprofil nicht schon stärker verändert wird. Abbildung 3.3 zeigt zwei mögliche Zeitfunktion, die man finden kann. 8 Abbildung 3.3: A: Die Konzentration eines Stoffes wird sprunghaft auf einen konstanten Wert geändert. B: Der Sensor kann unmittelbar beim Konzentrationssprung eine starke Änderung zeigen und die Signal-Zeit-Funktion ist durch eine kontinuierliche Abnahme des Anstiegs gekennzeichnet und das Signal nährt sich schließlich dem Endwert an, ohne, dass die Zeitfunktion einen Wendepunkt aufweist. C: Der Sensor zeigt zunächst ein sich nur langsam änderndes Signal (aber mit zunehmender Änderungsgeschwindigkeit/ Anstieg) bis die Kurve einen Wendepunkt durchläuft und dann die zeitliche Veränderung sich verlangsamt (abnehmender Anstieg) und das Signal sich schließlich dem Endwert annähert. Abbildung 3.3 zeigt zwei grundsätzlich verschieden Typen von Ansprechverhalten von Sensoren. Das unterschiedliche Verhalten, das in Abb. 3.3.B und C gezeigt wird, kann mit unterschiedlichen Differentialgleichungen modelliert werden. Während das in Abb. 3.3B gezeigte Verhalten mit einer Differentialgleichung erster Ordnung beschreibbar ist, benötigt man für eine Modellierung des in Abb. 3.3C gezeigten Falles eine Differentialgleichung höherer Ordnung [6]. An dieser Stelle muss man natürlich bemerken, dass ein Konzentrationssprung mit unendlicher Sprunggeschwindigkeit (d.h. ein Sprung wie in Abb. 3.3A dargestellt) niemals realisiert werden kann. Wenn man das Zeitverhalten eines Sensors experimentell untersucht, muss man jedoch in jedem Fall sicherstellen, dass die Konzentrationsänderung viel schneller erfolgt als die Signaleinstellung. Natürlich ist auch das in Abb. 3.3B gezeigte Verhalten eine Vereinfachung und in der Realität wird das Signal sich am Anfang natürlich nie mit der größten Geschwindigkeit ändern, sondern eher dem in Abb. 3.3C wiedergegebenem Verhalten ähneln. Allerdings kann in der Tat diese Anfangsphase so kurz sein, dass man sie bei der Registrierung nicht bemerkt. Das Zeitverhalten (Abb. 3.3B) kann dann wie folgt modelliert werden: 9 S Smax z (t ) (Gl. 3.1). z ist eine zeitabhängige Größe, für welche wir eine Differentialgleichung erster Ordnung ansetzen: a1 dz a2 z (t ) 0 dt (Gl. 3.2) Integration und Umformungen ergeben: z t a dz 2 dt z (t ) a1 0 (Gl. 3.3) ln a z (t ) 2t z0 a1 (Gl. 3.4) z0 a 2t z (t ) e a1 z0 z (t ) z0e (Gl. 3.5) a2 t a1 S Smax z0e (Gl. 3.6) a2 t a1 (Gl. 3.7) Offensichtlich muss z0 gleich S max sein, denn dann können wir schreiben: S Smax Smax e a2 t a1 a 2t Smax 1 e a1 (Gl. 3.8) a 2t a Da 1 e a1 einheitslos sein muss, folgt, dass die Einheit des Bruchs 2 eine reziproke Zeit a1 ist, und wir können Gl. 3.8 mit der Definition a 1 a1 (griechischer Buchstabe Tau), d.h. 2 a1 a2 wie folgt schreiben: t S Smax 1 e (Gl. 3.9) 10 Die Größe nennt man die Zeitkonstante des Sensors. Bei t hat das Signal S den folgenden Wert: 1 S S max 1 e 1 S max 1 0.632S max . Mit anderen Worten, nach der Zeit e hat das Signal 63.2 % seines Endwertes erreicht. Gleichung 3.9 drückt aus, dass das Signal nie einen konstanten Wert erreicht, aber die Inkremente der Funktion z in Gl. 3.1 werden mit verstreichender Zeit so klein, dass sie schließlich ohne praktische Bedeutung sind. Wegen der e-Funktion in Gl. 3.9 kann man sehr einfache Beziehungen zwischen den Zeiten angeben, zu denen der Sensor 50%, 63.2%, 90% (und alle möglichen anderen Werte) von S m a x erreicht haben wird: t63.2% 1.44t50% (Gl. 3.10) t50% 0.69 (Gl. 3.11) t90% 2.3 (Gl. 3.12) t99% 4.6 (Gl. 3.13) Abb. 3.4 zeigt das Ansprechverhalten von Abb. 2.3.B mit einer prozentualen Skala für das Signal. 11 Abbildung 3.4: Zeitverhalten eines Sensors, wenn es mit einer Differentialgleichung erster Ordnung modelliert werden kann. Die Zeitkonstante ist ein wichtiger Parameter eines Sensors. In der Praxis interessiert man sich jedoch mehr für die Zeiten, in denen das Signal 90 % oder 99 % seines Endwertes erreichen, d.h. für t90% und t99% , da das Signal, das nach diesen Zeiten erreicht wird, oft als ausreichende Annäherung an den wahren Wert des Signals betrachtet wird. Dank der exponentiellen Abhängigkeit des Signals von der Zeit (Gl. 3.9) kann man diese Zeitwerte leicht aus der Zeitkonstanten mit den Gleichungen 3.12 und 3.13 berechnen. Im Falle von Durchflussdetektoren kann man auch ein sogenanntes Ansprechvolumen (“response volume”) berechnen, das einfach das Volumen der Lösung angibt, welches in der Zeit t durch den Detektor fließt [7]. Es berechnet sich aus vresponse ( ) f ( f ist die Durchflussrate z. B. in ml s‒1). Natürlich kann man auch die Ansprechvolumina für das Erreichen von 90 % oder 99 % des Signalendwertes berechnen: vresponse ( ) t90% f bzw. vresponse ( ) t99% f . Die Ansprechvolumina eines Durchflussdetektors können je nach Bauart und Funktionsweise größer oder kleiner als sein geometrisches Volumen sein. 12 Es wurde bereits erwähnt, dass das in Abb. 3.3C gezeigte Ansprechverhalten in vielen realen Fällen beobachtet wird. Für analytische Anwendungen ist es wichtig zu wissen, wann der Sensor z.B. 90 % oder 99 % des Endwertes erreicht hat. Es ist dann kaum von Interesse, den Anfangszeitraum der Zeitfunktion des Sensors exakt zu modellieren, wofür man Differentialgleichungen höherer Ordnung anwenden müsste. Man geht daher den folgenden Weg: man simuliert nur den späteren zeitlichen Verlauf des Signals (d.h., den Teil nach dem Wendepunkt) und verwendet dafür eine Differentialgleichung erster Ordnung (Gl. 3.9) und führt eine Verzögerungszeit tdelay ein. Das Zeitverhalten des Sensors lässt sich dann mit folgender Gleichung beschreiben: t tdelay S Smax 1 e (Gl. 3.14) Abbildung 3.5: Zeitliches Verhalten des Signals eines Sensors, das eigentlich mit einer Differentialgleichung höherer Ordnung beschrieben werden müsste, das sich aber mit Hilfe einer Verzögerungszeit tdelay im oberen Bereich auch gut mit einer Differentialgleichung erster Ordnung simulieren lässt. Das Zeitverhalten eines Sensors vom in Abb. 3.5 gezeigten Typ kann auch durch folgende Gleichung beschrieben werden, die zwei Zeitkonstanten und zwei Konstanten S1 und S 2 enthalt: 13 t t 1 2 S S1 1 e S2 1 e (Gl. 3.15) Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass man das nur machen sollte, wenn die Gleichung durch ein entsprechendes Modell gestützt wird. Ein zugegebenermaßen etwas exotisches physikalisch-chemisches Beispiel, für das die Gleichung 3.15 sich auf ein reales Modell stützt, ist das Spreiten von Liposomen auf Quecksilberelektroden [8]: Wenn ein Liposom mit der HgOberfläche wechselwirkt, wird es zerstört und es bildet sich eine Insel adsorbierter Lecithinmoleküle. Dieser Vorgang ist begleitet von einer Änderung der Doppelschichtkapazität, was man als Stromtransient messen kann. Die Integration des Stromtransienten gibt den Ladungstransient, der der Gleichung 3.15 folgt und die Form der Kurve in Abb. 3.5 hat. Die Ursachen von Zeitkostanten sind ein sehr komplexes Thema, das einer eingehenden Diskussion bedarf. Hier möge es genügen zu erwähnen, welche Prozesse zum Entstehen von Zeitkonstanten beitragen können: (a) die Diffusion von Teilchen zur Sensoroberfläche (z.B. bei einigen elektrochemischen Sensoren); (b) die Konvektion, durch welche die Teilchen in die Kammer eines Sensors gelangen (z. B. bei einem spektrophotometrischen Sensor); (c) chemische Reaktionen, besonders bei Biosensoren, in denen enzymatische Reaktionen relativ langsam sein können). Neben diesen physikalischen und chemischen Ursachen von Zeitkonstanten sollte man niemals vergessen, dass jedes Messsystem, vom Verstärker bis zum Registrierteil, eigene Zeitkonstanten hat. Bei modernen Messgeräten sind diese Zeitkonstanten in den Messungen für die sie entwickelt wurden, meist irrelevant (sehr klein), und die physikochemischen und chemischen Zeitkonstanten dominieren. Trotzdem sollte man bei Experimenten nie vergessen, dass alle Teile eines Messsystems Zeitkonstanten haben, die eventuell die Messkurven beeinflussen können. So sei erwähnt, dass sogar bei modernen Spektrometern leicht Verzerrungen auftreten können, wenn die Spektren zu schnell registriert werden (siehe Abb. 3.2). 4. Chemische Reaktionskinetik In der chemischen Reaktionskinetik untersucht man die Geschwindigkeit chemischer Prozesse (Reaktionen). Das Ziel ist es dabei, die Beziehungen zwischen den Konzentrationen c der 14 Edukte und Produkte einer chemischen Reaktion (als abhängige Variable) von der Zeit t (als unabhängige Variable) zu finden. Ganz allgemein kann jede chemische Reaktion mathematisch durch eine Differentialgleichung erster Ordnung beschrieben werden. Die Lösungen der Differentialgleichungen hängen jedoch von der Art der chemischen Reaktion ab. Letztere wird charakterisiert durch die sogenannte Reaktionsordnung, die jedoch nichts mit der Ordnung der Differenzialgleichung zu tun hat. Die Reaktionsordnung einer chemischen Reaktion ist einfach definiert durch die Summe der Exponenten der Konzentrationen im Geschwindigkeitsgesetz. Im Folgenden wird eine chemische Reaktion erster Ordnung, wie sie für thermische Zersetzungen oder Isomerisierungsreaktionen typisch ist, behandelt. Einfache Reaktionen, wie die Umwandlung von A in B (A B) kann man mit der folgenden Differentialgleichung beschreiben: dcA k cA dt (Gl. 4.1) k ist die Geschwindigkeitskonstante. Diese Differentialgleichung erster Ordnung beschreibt auch eine Reaktion erster Ordnung in der chemischen Kinetik weil cA den Exponenten 1 besitzt. Nach Variablentrennung kann man integrieren: cAt cA0 Das Ergebnis ln t dcA k dt cA 0 cAt cA0 kt (Gl. 4.2) (Gl. 4.3) kann man in exponentieller Weise schreiben: cAt cA0 e kt (Gl. 4.4) Für die Halbwertszeit, d.h. die Zeit, in der die Konzentration auf die Hälfte der Ausgangskonzentration gesunken ist (Gl. 4.5), folgt dann nach Einsetzen in Gl. 4.4 die Gl. 4.6: ct1/2 1 c0 2 (Gl. 4.5) t1/ 2 ln 2 k (Gl. 4.6) 15 Die Halbwertszeit hängt nur von der Geschwindigkeitskonstante k ab. An den meisten chemischen Reaktionen ist jedoch mehr als ein reagierender Stoff beteiligt, z. B.: A + B C + D. (Gl. 4.7) Das sind Reaktionen zweiter Ordnung in der chemischen Kinetik, weil die Summe der Exponenten der Konzentrationen 2 ist (siehe Gl. 4.8). Für eine einfache Reaktion gilt jedoch auch hier eine Gleichung, die eine Differentialgleichung erster Ordnung ist: dcA k cA cB dt (Gl. 4.8) Für gleiche Ausgangskonzentrationen an A und B (oder bei einer Dimerisierung) kann man die Reaktionsgleichung 4.7 auch vereinfachen: 2A C + D, (Gl. 4.9) und erhält die Differentialgleichung 1 dcA k cA2 2 dt (Gl. 4.10) Diese Differentialgleichung ist jedoch nicht mehr eine lineare und wird deshalb hier nicht weiter betrachtet. Ferner, bei ungleichen Ausgangskonzentrationen, muss die Lösung der Differentialgleichung 4.8 durch Partialbruchzerlegung gefunden werden (siehe Lehrbücher der chemischen Kinetik [9]). 5. Der radioaktive Zerfall Als radioaktiven Zerfall bezeichnet man die Umwandlung von Atomkernen unter Aussendung von elektromagnetischer Strahlung (γ-Strahlung), von Teilchen (z.B. α-Teilchen, d.h. Helium4-Kernen; β-Teilchen, d.h. Elektronen oder Positronen; Protonen oder Spaltprodukten von Atomen). Es gibt eine Vielzahl von Zerfallswegen, z.B. den α-Zerfall, den β-Zerfall, die spontane Kernspaltung, den Elektroneneinfang, die interne Kernumwandlung, usw. Für eine umfassende Übersicht sei auf die Literatur verwiesen [10, 11, 12]. Obwohl das alles physikalische Prozesse sind, wird der radioaktive Zerfall hier besprochen, weil er auch in der Chemie eine wichtige Rolle spielt, beispielsweise bei der Isotopenverdünnungsanalyse, der Aktivierungsanalyse und bei der Markierung von Molekülen in kinetischen Untersuchungen. 16 Es ist sehr interessant, dass unter den mehr als 3000 bekannten Isotopen nur 265 stabile sind, alle anderen sind radioaktiv! Hier werden wir nur den einfachsten Fall des Zerfalls eines radioaktiven Isotops betrachten, dass nicht selbst durch einen Kernzerfall auch gebildet wird. Die Aktivität A einer Probe definiert man als Zahl der Zerfälle pro Zeiteinheit, d.h., als Zerfallsgeschwindigkeit. Der differentielle Ausdruck ist: A dN dt (Gl. 5.1) Weil jeder Zerfall vollkommen unabhängig von jedem anderen Zerfall ist, und weil der Zerfall ein vollkommen stochastischer ist, ist die Zerfallsgeschwindigkeit einfach proportional der Anzahl radioaktiver Atome N : dN N dt (Gl. 5.2) (griechischer Buchstabe Lambda) ist der Proportionalitätsfaktor und wird Zerfallskonstante genannt. Gleichung 5.2 ist eine Differentialgleichung erster Ordnung, welche man auch in die Form von Gleichung 1.2 bringen kann: dN N 0 dt (Gl. 5.3) Variablentrennung führt zu: dN dt N (Gl. 5.4) Integration von Gl. 5.4 muss in den Grenzen von N 0 (Anfangszahl der radioaktiven Atome) und N E (Endzahl der radioaktiven Atome) erfolgen, wenn die Zeit von 0 bis t variiert: NE N0 t dN dt N t 0 (Gl. 5.5) Damit ergibt sich: ln N E ln N0 t (Gl. 5.6) NE t N0 (Gl. 5.7) N E N 0 e t (Gl. 5.8) ln 17 Gleichungen 5.1 und 5.2 zeigen, dass allgemein gilt: A N (Gl. 5.9) Das muss auch für N 0 und N E gelten, so dass Multiplikation von Gl. 5.8 mit die Gl. 5.10 ergibt: AE A0 e t (Gl. 5.10) Gleichung 5.10 zeigt, dass die Aktivität der Probe in gleichem Masse abnimmt, wie die Zahl der radioaktiven Atome. Mit Gleichung 5.8 kann man auch die Halbwertszeit t1/2 eines Isotops berechnen, d.h. die Zeit, in der die Anzahl der radioaktiven Atome auf 50 % der Ausgangszahl gesunken ist: N t1/2 N0 N 0 e t1/2 2 (Gl. 5.11) Das bedeutet, dass 1 e t1/2 2 (Gl. 5.12) ist und damit Halbwertszeit folgt: t1/2 ln 2 Wenn ein 0.693 (Gl. 5.13) Isotop nach verschiedenen Reaktionswegen zerfällt, so ist die Gesamtzerfallskonstante die Summe der einzelnen Zerfallskonstanten. Hier ist das Beispiel des radioaktiven Zerfalls von 40 19 EC 40 K 18 Ar 40 19 β K 40 20 Ca 40 19 K gegeben: Die Indizes β (griechischer Buchstabe Beta) und EC geben an, dass ein β-Zerfall und ein Elektroneneinfang erfolgen (EC = electron cature). Der Zerfall erfolgt nach: dN K dN Ar dN Ca EC N K β N K EC β N K overall N K dt dt dt (Gl. 5.14) 18 6. Kernmagnetische Relaxation In einem externen magnetischen Feld der Stärke B0 ist der Vektor der makroskopischen Magnetisierung M 0 eines Spinsystems parallel zum äußeren Feld orientiert, d.h. per definitionem in z-Richtung ( M z ). Zu Beginn eines NMR-Experiments wird der Gleichgewichtszustand der Spinsystems gestört: durch Einwirkung eines 90°- Radiofrequenzimpulses ( B1 in x -Richtung) wird die makroskopische Magnetisierung auf die yAchse ausgerichtet; durch einen 180°-Puls wird die Magnetisierung in die z Richtung gedreht (siehe Abb. 6.1). Wird diese Störung durch das zusätzliche B1 Feld ausgeschaltet, so kehrt das System in den thermischen Gleichgewichtszustand zurück, was man als Relaxation bezeichnet. Felix Bloch [13] hat zwei verschiedene Relaxationsmechanismen beschrieben, (a) die SpinGitter-Relaxation mit der Relaxationszeit T1 , und (b) die Spin-Spin-Relaxation mit der Relaxationszeit T2 . Beide Relaxationsmechanismen verlaufen als Prozesse erster Ordnung, sowohl in Bezug auf die Kinetik, als auch in Bezug auf die mathematische Beschreibung (siehe Abschnitt 4) [14]: M M0 dM z z dt T1 dM y dt My T2 (Gl. 6.1) (Eq. 6.2a) und dM x M x dt T2 (Eq. 6.2b) Diese Gleichungen repräsentieren die Zeitabhängigkeit der Magnetisierung entlang der drei Raumkoordinaten mit den Geschwindigkeitskonstanten 1 T1 und 1 T2 der genannten beiden Relaxationsprozesse. Ein typisches Experiment für die Bestimmung der Spin-Gitter-Relaxationszeit (oder longitudinalen Relaxationszeit) T1 ist das sogenannte “Inversion-Recovery” Experiment. Dabei dreht zunächst ein 180°-Puls den makroskopischen Magnetisierungsvektor M 0 von z nach z (siehe Abb. 6.1). Der zweite Puls, ein 90°-Puls, ist dann notwendig, um die Signaldetektion in y-Richtung zu ermöglichen. 19 Abb. 6.1: Orientierung der makroskopischen Magnetisierung vor ( M 0 ) und nach ( M 0 ) einem 180°-Puls. Bei t 0 ist M z M 0 . Die quantitative Beschreibung des Experiments beginnt mit Gl. 6.1. Durch Einführung einer neuen Variablen y mit y M z M0 (Gl. 6.3a) dy dM z (Gl. 6.3b) und kann Gl. 6.1 wie folgt geschrieben werden dy y dt T1 (Gl. 6.4) Variablentrennung und Integration führt zu: y t dy 1 y y T1 0 dt 0 (Gl. 6.5) Bei t 0 gibt die Definition von y in Gl. 6.3a y0 2M 0 als Ausgangsbedingung. Integration und Rücksubstitution von y ergibt dann: 20 M M0 t ln z T1 2M 0 . (Gl. 6.6) und in exponentieller Schreibweise M 0 M z 2M 0 et T1 (Gl. 6.7a) M z M 0 1 2et T1 (Gl. 6.7b) Die Gleichungen 6.7a und b stellen explizite Abhängigkeiten der Magnetisierung M z in z Richtung von der Zeit dar (siehe Abbildung 6.2). Abb. 6.2: Zeitliche Entwicklung der makroskopischen Magnetisierung M z in z -Richtung nach einem 180°-Puls. Die mathematische Lösung der Differentialgleichung (Gl. 6.2) für die Bestimmung der SpinSpin-Relaxationszeit (oder transversale Relaxationszeit) T2 ist offensichtlich und wird hier exemplarisch an Hand des Zeitverhaltens der Magnetisierung M y in y -Richtung beschrieben (vergl. Gl. 6.2). Trennung der Variablen und Integration gibt die Gleichungen 6.8. – 6.10: My M0 dM y My t 1 dt T2 0 (Gl. 6.8) 21 ln My M0 t T2 M y M 0 et T2 (Gl. 6.9) (Gl. 6.10) Bei t 0 ist die Magnetisierung M y in y -Richtung gleich M 0 , was dem Anfangswert unmittelbar nach dem Anlegen des 90°-Pulses entspricht. Gleichungen 6.9 und 6.10 kann man nun verwenden, um die Spin-Spin-Relaxationszeit T2 zu bestimmen, die ein Maß für das Abklingen der transversalen Magnetisierung ist. Experimentell verwendet man dafür das bekannte von Hahn entwickelte Spin-Echo-Verfahren [15]. 7. Die RC-Konstante einer Elektrode Wenn sich eine Metallelektrode im Kontakt mit einer Elektrolytlösung befindet, bildet sich eine elektrochemische Doppelschicht heraus. Sie hat eine komplexe Struktur mit der geladenen Metallseite und der gegenüberliegenden geladenen Elektrolytschicht. Die elektrochemische Doppelschicht hat die Eigenschaften eines Kondensators, weil auf beiden Seiten Ladung akkumuliert werden kann. Natürlich ist es auch möglich, dass sich keine Ladungen gegenüberstehen, was man dann als das Nullladungspotential (angegeben gegen das Potential einer beliebigen Referenzelektrode) bezeichnet. In den meisten elektrochemischen Techniken verwendet man Potentialänderungen (lineare und nichtlineare). Nur seltener kontrolliert man den Strom und untersucht die Reaktion des Elektrodenpotentials auf diese Störung. In den potential-kontrollierten Experimenten wird die Doppelschicht auf- oder entladen, je nach den angelegten Potentialen. Die Lade- oder Entladeströme (auch kapazitive Ströme genannt) begleiten immer die faradayischen Ströme, denen Ladungstransferreaktionen an der Phasengrenze zugrunde liegen. Sie können elektrochemische Analysen dadurch stören, dass sie gegenüber den faradayschen Strömen dominierend werden, wenn die Stoffe, die an der Elektrode einen Ladungstransfer verursachen, weil sie beispielsweise oxidiert oder reduziert werden, in sehr kleiner Konzentration vorliegen. Deshalb ist es wichtig, die kapazitiven Strömen zu verstehen, ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung bei modernen Kondensatoren. Das Studium von kapazitiven Strömen ist auch wichtig, um den Aufbau der elektrochemischen Doppelschicht besser zu verstehen. Hier soll ein besonders einfacher Fall diskutiert werden: zwei Metallelektroden sollen in eine Elektrolytlösung eintauchen, die beispielsweise nur Kaliumnitrat und Wasser enthält. In der Lösung befinden sich also nur die folgenden Moleküle 22 und Ionen: K+, NO 3 , H 2 O , H 3O , OH (wenn wir von komplexeren Ionen, wie z. B. H 5 O 2 , und den in äußerst kleinen Konzentrationen vorkommenden Ionenpaare, wie beispielsweise [KNO3] absehen). Wenn an beiden Elektroden des obigen Systems die Potentialdifferenz zwischen Metall und Lösung zu gering ist, um eine elektrochemische Reaktion mit den anwesenden Spezies zu bewirken, d.h., wenn weder die Protonen des Wassers reduziert, noch die Sauerstoffspezies des Wasser oxidiert werden, kann jedwede Potentialänderung nur eine Auf- oder Entladung der elektrochemischen Doppelschicht bewirken. Diese Ströme müssen also über den Elektrolytwiderstand in den Kondensator fließen oder aus ihm heraus. In der Elektrochemie spricht man dann von einer ideal polarisierten Elektrode. Alle anderen Widerstände im Stromkreis, z.B. die Metalldrähte, haben gegenüber der Elektrolytlösung einen vernachlässigbaren Widerstand. Man kann daher die Situation an einer Elektrode mit Hilfe eines Kondensators der die Doppelschicht repräsentiert, und eines ohmschen Widerstandes, der die Elektrolytlösung repräsentiert, wiedergeben (siehe Abbildung7.1). Das gleiche gilt auch für die zweite Elektrode. Angenommen, die Doppelschicht ist am Anfang völlig entladen (Nullpunktspotential), d.h. es liegt keine Ladungstrennung vor. In einem PotentialsprungExperiment wird dann die Doppelschicht aufgeladen. Am Beginn ( t 0 ) fließt der Strom nur durch den Widerstand, und in dem Maße wie die Doppelschicht aufgeladen wird, sinkt der Strom auf Null ab, bis der Kondensator (die Doppelschicht) auf die Potentialdifferenz E aufgeladen ist. Abb. 7.1: Ersatzschaltbild, das den Elektrolyten mit dem ohmschen Widerstand R und die elektrochemische Doppelschicht mit der Kapazität C darstellt.. Nach dem Kirchhoff’schen Gesetz ist der Gesamtpotentialabfall über den Widerstand und den Kondensator gleich der Summe der einzelnen Potentialabfälle: E EWdst EKond (Gl. 7.1) Für den Potentialabfall über den ohmschen Widerstand gilt nach dem Ohmschen Gesetz: EWdst RI (Gl. 7.2) Hier ist R der ohmsche Elektrolytwiderstand und I der Strom. 23 Der Potentialabfall über dem Kondensator ist: EKond q C (Gl. 7.3) Mit der Ladung q und der Kapazität C der elektrochemischen Doppelschicht (die tatsächlich eine Funktion des Elektrodenpotentials ist, was wir hier aber vernachlässigen). Substitution der Terme aus Gl. 7.2 und 7.3 in Gl. 7.1 ergibt: E RI q 0 C (Gl. 7.4) Diese Gleichung kann man nach I auflösen: I E q R RC (Gl. 7.5) Da der Strom die erste Ableitung der Ladung nach der Zeit ist ( I dq dt ), kann man Gl. 7.5 auch wie folgt schreiben: dq E q 1 q C E dt R RC RC (Gl. 7.6a) dq 1 q C E 0 dt RC (Gl. 7.6b) Gleichung 7.6b ist eine inhomogene Differentialgleichung erster Ordnung. Integration von Gl. 7.6 in den Grenzen von 0 bis q , und 0 bis t führt zu: q t dq 1 t 0 q C E RC 0 dt RC (Gl. 7.7) Bei t 0 folgt q 0 aus der Annahme, dass die die Elektrode sich am Anfang am Nullladungspotential befindet. Um das Integral zu lösen, muss man eine Substitution ausführen: q ' q C E (Gl. 7.8) Daraus folgt q q ' C E und dq dq ' . q 't dq ' t q' RC q 't 0 (Das entspricht der Lösung der Differentialgleichung (Gl. 7.9) dq ' 1 q ' 0 .) dt RC 24 ln q 'q ' q 't t 0 t RC (Gl. 7.10) Rücksubstitution mit q ' q C E und dq ' dq und Definieren von q 't 0 C E (das entspricht der Bedingung qt 0 0 ) führt zu: ln q C E ln C E t RC (Gl. 7.11) t q C E ln C E RC (Gl. 7.12) q C E t RC e C E (Gl. 7.13) q C E C E et RC (Gl. 7.14) q C E et RC C E (Gl. 7.15) q C E 1 e t RC (Gl. 7.16) Weil I dq dt ist, folgt mit Gl. 7.16: I dq 1 E C E et RC et RC dt RC R (Gl. 7.17) Weil E R gleich dem Anfangsstrom I 0 bei t 0 ergibt Gl. 7.17 den Stromtransienten wie folgt: I I 0 et RC (Gl. 7.18) Gl. 7.18 beschreibt den exponentiellen Abfall des Stromes nach einem Potentialsprung. RC ist die sogenannte Zeitkonstante , mit der man auch schreiben kann: I I 0 e t (Gl. 7.19). Eine andere Möglichkeit, die inhomogene Differentialgleichung erster Ordnung 7.6 zu lösen, besteht darin, dass man zunächst eine Lösung der homogenen Differentialgleichung dqh 1 qh (t ) 0 dt RC (Gl. 7.20). 25 findet, was als Lösung qh (t ) in der üblichen Exponentialform ergibt. Danach sucht man eine partikuläre Lösung qp (t ) der inhomogenen Differentialgleichung mit dem Ansatz qp (t ) u (t ) qh (t ) (Gl. 7.21a) und der ersten Ableitung qp '(t ) u '(t ) qh (t ) u (t ) qh '(t ) (Gl. 7.21b) Die beiden Ausdrücke für qp (t ) und für die erste Ableitung qp '(t ) werden in Gl. 7.6b eingesetzt, um am Ende u (t ) und schließlich qp (t ) zu erhalten. Die Lösung von Gl. 7.6b ist die Summe der Lösungen der homogenen Differentialgleichung qh (t ) und der partikulären Lösung qp (t ) : q(t ) qh (t ) qp (t ) (Gl. 7.22) Beide mathematische Wege führen zum gleichen Ergebnis, d.h. zu Gl. 7.19. In vielen Experimenten ist es wichtig, die Größe der RC -Zeitkonstante des ElektrodenElektrolyt-Systems zu kennen, weil der Ladestrom z.B. faradaysche Ströme, die untersucht werden, überlagern kann. Für ein vertieftes Verständnis der hier verwendeten Begriffe aus der Elektrochemie, empfehlen wir die Konsultation eines elektrochemischen Wörterbuches [16]. 8. Zusammenfassung Die folgende Tabelle gibt einen Überblick zu den diskutierten Fällen der Anwendung von Differentialgleichungen erster Ordnung in der Chemie. 26 Es sei noch erwähnt, dass auch viele andere Phänomene in den Naturwissenschaften mit Differentialgleichungen erster Ordnung beschrieben werden können, beispielsweise die exponentielle Wachstumsphase von Mikrobenkulturen, die barometrische Höhenformel oder Newtons Abkühlungsgesetz. Literatur 1 Frei übersetzt nach: Tanak J (2004) Mathematics and the laws of nature: Developing the language of science. Facts On File, Inc, New York, p 91/92 2 Brunner G, Brück R (2013) Mathematik für Chemiker. 3. Auflage, Springer Spektrum, Berlin 3 Arnol’d VI (1992) Ordinary differential equations. Springer Berlin 4 DIN 1349: Durchgang optischer Strahlung durch Medien. Optisch klare Stoffe, Größen, Formelzeichen und Einheiten. 5 Kortüm G (1962) Kolorimetrie, Photometrie und Spektrometrie, Springer Verlag, Berlin, S. 23 6 Váňa J (1982) Gas and Liquid Analyzers. Vol 17 of Wilson and Wilson’s Comprehensive Analytical Chemistry. Svehla G (edt) Elsevier, Amsterdam, pp 67 27 7 Hanekamp HB, van Nieuwkerk HJ (1980) Anal Chim Acta 121:13‒22 8 Hellberg D, Scholz F, Schubert F, Lovrić M, Omanović D, Agmo Hernández V, Thede R (2005) J Phys Chem B 109:4715-14726 9 Atkins PW (1986) Physical Chemistry, 3rd ed, Oxford, Oxford Univ Press 10 Lieser KH (1991) Einführung in die Kernchemie. VCH, Weinheim 11 Handbook of Nuclear Chemistry (2011) Vértes A, Nagy S, Klencsár Z, Lovas RG, Rösch F (eds), 2. Auflage, 6 Bände, Springer, Berlin 12 Modern Nuclear Chemistry (2006) Loveland WD, Morissey DJ, Seaborg GT, Wiley & Sons, Hoboken 13 Bloch F (1946) Phys Rev 70:460-473 14 Friebolin H (1988) Ein-und zweidimensionale NMR-Spektroskopie. VCH, Weinheim 15 Hahn EL (1950) Phys Rev 80:580‒594 16 Bard AJ, Inzelt G, Scholz F (2012) Electrochemical Dictionary. 2. Auflage, Springer, Berlin 28