Erlesenes im Dezember

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„Die Stellung“ von Meg Wolitzer
Es geht nicht um die Stellung im Berufsleben, sondern um Sex. Und um unausgesprochene und
unaussprechliche Dinge in einer Familie, deren 4 Kinder, jedes auf seine Art, von einem etwas zu frühen Blick in
die von ihren Eltern produzierte Sex-Bibel traumatisiert sind.
Oder anders herum: Roz und Paul führen eine glückliche Ehe, sie lieben sich so sehr, daß es ihren Kindern
manchmal fast peinlich ist. Und sie lieben Sex, so sehr, dass sie anderen, weniger glücklichen Ehepaaren zeigen
wollen, wie sie auch eine so erfüllte Ehe führen können. Also beschließen sie, nun ja, Paul beschließt es, dass
man ein Buch machen sollte, mit all den Stellungen, die sie in ihrer Ehe ausprobiert und für tauglich befunden
haben.
Besonders stolz ist Paul auf eine Stellung, die besonders geeignet ist, kleine Streitigkeiten zu beenden und die
Harmonie wiederherzustellen: Die „elektrisierende Versöhnung“. Und da man im manchmal doch eher prüden
Amerika keine Fotos derartigen Geschehens veröffentlichen kann, wird ein Maler engagiert, der die beiden in
all diesen Positionen zeichnet.
Das Buch wird ein unglaublicher Erfolg. Für die Kinder ist es nicht immer einfach, schon gar nicht in der Schule
und bei den Nachbarn im typisch amerikanischen Vorort, damit leben zu müssen, dass ihre Eltern in jedem
zweiten Haushalt als nackte Vorbilder gelten. Jeder der vier muß mühsam einen eigenen Weg finden, mit
derart herausragenden Exemplaren von Eltern ein halbwegs normales Liebesleben zustande zu bringen, zumal
sich herausstellt, daß auch die elektrisierende Versöhnung letztlich nicht in der Lage ist, die Ehe der beiden zu
retten.
Meg Wolitzer hat bereits mit „Die Interessanten“ gezeigt, daß sie ein sehr gutes Auge hat für
zwischenmenschliche Beziehungen, und einmal mehr ein Buch geschrieben, das man nicht aus der Hand legen
mag.
Um das Gegenteil der oben beschriebenen Freizügigkeit geht es in
„Die Hochzeit der Chani Kaufman“ von Eve Harris.
Wir befinden uns in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde in London, im Jahr 2008. Chani heiratet, in dem
gleichen, kratzigen, umbequemen Kleid, in dem schon ihre vier älteren Schwestern geheiratet hatten und das
auch die drei jüngeren Töchter tragen würden.
Sie heiratet einen jungen Mann, der sie auserwählt hat, weil er sie auf einer anderen Hochzeit sah, und der
seine ganz und gar nicht begeisterte Mutter dazu zwang, die Ehevermittlerin zu bitten, ihn mit nur dieser und
keiner anderen zusammenzubringen. Und was tut eine jüdische Mamme nicht alles für ihren Sohn, auch wenn
die Auserkorene aus einer viel zu armen und überhaupt nicht passenden Familie stammt, obwohl ihr Vater
Rabbi ist. Vor allem scheint sie ihr zu rebellisch.
Es ist ein Buch über Frauen, über die Zwänge, die Gesellschaft und Religion ihnen auferlegen, wie die erst so
blühenden Mädchen, die anfangs noch fröhlichen Müttern, mit jedem neuen Kind mehr verschwinden „in
einem Morast von Milchfläschchen und stinkenden Windeln.“ Wie sie dick werden und doch schrumpfen, unter
ihren unförmigen Kleidern und schlechten Perücken, unter denen die Kopfhaut so juckt, als würden all die
schlechten Gedanken durch sie nach außen dringen wollen.
Eigentlich will Chani das alles nicht, und deshalb hat sie immer jeden der potentiellen Ehemänner, die ihr von
der Heiratsvermittlerin vorgeführt wurden, verschreckt. Aber irgendeinen muss sie nehmen, denn „Welchen
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Sinn hatte es, ein unverheiratetes jüdisches Mädchen zu sein?“ Da kann man höchstens Lehrerin werden und
über die Jahre versauern. Also erhört sie Baruch, den, der sie auserwählt hat, und da ein jüdisches Mädchen
vor der Hochzeit auf das vorbereitet werden muß, was auf es zukommt, nimmt sie Unterricht bei der Rebezzin.
Deren Geschichte bildet den zweiten großen Handlungsstrang in diesem wunderbar erzählten Buch – Rebecaa
war im Gegensatz zu Chani früher tatsächlich eine Rebellin, eine Studentin, frei, neugierig, talentiert, und
glücklich mit ihrem Freund Chaim – aber der, entdeckt die Religion und beschließt, Rabbi zu werden. Sie steht
vor der Wahl, sich auf dieses Leben einzulassen oder zu gehen. Aber sie liebt ihn und bleibt, läßt sich ein auf
diese ganz andere Welt, und nun, mit 44, fühlt sie sich alt und gefangen in ihrer Rolle. Und während sie Chani
beibringen soll, was eine gute jüdische Ehefrau und Mutter ausmacht, gelingt es ihr immer weniger, ihr in so
enge Normen gezwängtes Leben zu ertragen.
Eve Harris´Blick auf ihre in einer so engen Choreografie gefangen scheinenden Personen ist ungemein liebevoll
und präzise, man kann sie förmlich riechen, diese Wohnungen, diese verschwitzen Kleider, das Essen, die vielen
kleinen Kinder. Es ist eine Geschichte der Emanzipation, aber auch getragen von einem großen Verständnis
dafür, daß manche Regeln, so einengend sie sein mögen, auch für etwas gut sein können. Und Freiheit ihren
Preis hat.
Regeln bestimmen auch das Leben des Helden aus
„Ein untadeliger Mann“ von Jane Gardam.
Frau Gardam hat eine Unzahl von Büchern geschrieben und es ist kaum verständlich, dass sie erst jetzt in
Deutschland publiziert wird.
Edward Feathers ist Jurist, im Inner Temple in London, Anwalt und später Richter. Geboren in der Zeit, als
England noch die halbe Welt beherrschte, geht er nach Hongkong, als er in London keine Karrieremöglichkeit
sieht. Seinen Spitznamen „Old Filth“ (zugleich der englische Titel des Buches) verdankt er seinem Bonmot
„Failed in London try Hongkong“, und in der Tat gelingt es ihm, unterstützt von seiner Frau Betty, dort ein
hochangesehener und erfolgreicher Richter zu werden.
Im Alter kehren sie zurück nach England, aber Betty stirbt, und mit ihr verliert er das Gerüst seines Lebens.
Allein muß er sich seinen Erinnerungen stellen, vor allem denen, die er am liebsten vergessen würde. Er war ein
Raj-Kind, so nannte man die Kinder der Engländer, die in den Kolonien arbeiteten und bei denen es Sitte war,
ihre Söhne und Töchter im schulpflichtigen Alter zu Pflegefamilien nach England zu schicken. Er landet in
Wales, bei einer Pflegemutter mit ausgeprägt sadistischen Zügen, die den ihr Anvertrauten das Leben zur Hölle
macht, auf einem Bauernhof, da, wo alles grau und trist und verregnet ist, ganz anders als in Malaysia, wo er
die ersten 5 Jahre verbrachte.
Ich verspreche Ihnen, Sie werden das Buch nicht aus der Hand legen, also beginnen Sie es an einem
Wochenende, denn Sie werden alles vergessen, was Sie sich vorgenommen hatten. Im Vorwort von Daniel
Schreiber zu diesem Buch heißt es: Jane Gardams Bücher „ermöglichen eine Flucht, wie sie nur die Literatur
bietet, hypnotisch und stilsicher, leichtfüßig und menschlich.“
Es gibt zwei Folgebände, die noch nicht auf Deutsch erschienen sind. Möglicherweise werden Sie das schwer
aushalten, und wer des Englischen hinreichend mächtig ist, kann sie wenigstens schon im Original lesen „The
man with the wooden hat“ und „Last friends“, beide genauso wunderbar wie der erste Band.
Fast alle Commonwealth-Nationalitäten vereint auch
Euphoria von Lily King
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Im Anthropologen-Milieu der dreißiger Jahre, inspiriert von den inzwischen ja als eher zwielichtig erkannten
Forschungen von Margaret Mead bei kleinen nackten Wilden, treffen sich ein schüchterner Engländer, eine
erfolgreiche Amerikanerin und deren australischer Mann irgendwo in Indonesien, auf der Suche nach einem
Stamm, der noch nicht von anderen Forschern entdeckt und verarbeitet wurde.
Ganz großes Kino!! Noch so ein In-einem-Rutsch-Buch.
Und hier noch eine letzte Empfehlung zu zwischenmenschlichen Beziehungen:
Momente der Klarheit
Von Jackie Thomae
Frau Thomae versetzt uns in ein Panoptikum von Menschen aus der Film und Künstlerbranche, das Helmut
Dietl sicher perfekt verfilmt hätte. Keine von diesen Personen möchte man zum Freund haben, weil sie fast alle
unsympathisch sind, aber man kennt sie alle. Ihre Art, sich selbst in die Tasche zu lügen, ihre Ausreden, ihr
Selbstbespiegelung. Vor allem kennt man den Grundfehler aller Frauen, bei Männern hinter ihrem Schweigen
und dem Fehlen von großen Gefühlen eine Tiefe zu vermuten, ein Kindheitstrauma, das ihn am Zeigen seiner
Emotionen hindert, die Tiefe, die man nur geduldig suchen muß, damit er sich endlich öffnet. Welch grotesker
Irrtum: da ist nichts, die Kiste ist leer, der Kaiser ist nackt.
Mit anderen Worten: ein kluges, kurzweiliges und gemeines Buch.
Wer es ein wenig härter mag, der lese ein anderes meiner Lieblingsbücher:
Pistolero
von James Carlos Blake.
Vielleicht haben Sie vor einiger Zeit die Hymne gelesen, die ich auf “Das Böse im Blut” geschrieben habe. Blake
ist, wie sein zweiter Name Carlos anklingen läßt, in Mexiko geboren und lebte lange Jahre in Texas, nun in
Florida. Schon „Das Böse im Blut“ war ein Western, aber einer, der alles, was man bis dato aus diesem Genre
kennen mag, verblassen läßt, eine Orgie von Gewalt, Verrat, Blut und Boden, historisch ungemein präzise, und
gnadenlos gut. Wer Amerika verstehen will, muß diese Bücher lesen. Während der zuerst erschienene Band
vom mexikanisch-amerikanischen Krieg um die Herrschaft über Texas um das Jahr 1847 herum handelt,
befinden wir uns beim „Pistolero“ zwar immer noch in Texas, aber ein paar Jahrzehnte später. Dieser Pistolero
ist John Wesley Hardin, einer der berühmtesten und berüchtigsten Revolverhelden, mit einem Atemzug zu
nennen mit Wild Bill Hickok, Bill Longley und wie sie alle hießen.
John Wesley Hardin wurde am 21. August 1895 von dem Polizisten John Selman in einem Saloon von hinten
erschossen. Blake erzählt seine Geschichte wie ein Reporter, der alle interviewt hat, die je mit ihm zu tun
hatten. Auszüge aus dem „El Paso Daily Herald“, der Autobiografie Hardins (ob echt oder fiktiv, vermag ich
nicht zu beurteilen) und Zeugnisse von der Hebamme, die ihn auf die Welt brachte, bis zum Augenzeugen
seiner Ermordung fächern ein Bild eines Mannes auf, der nur radikale Gefühle hervorruft: von bedingungsloser
Heldenverehrung bis zur gnadenlosen Verachtung.
Wir befinden uns in der Zeit nach dem Sezessionskrieg, als die Südstaatler jeden Versuch einer von Yankees
und freigelassenen Sklaven verkörperten Ordnungsmacht wie der verhaßten State Police bekämpften, und man
vor allem zum Held wurde, wenn man genug „Blaubäuche“, wie die Yankees aufgrund ihrer blauen Uniformen
genannt wurden, erschossen hatte. Und so mancher Marshall oder Sheriff scherte sich einen Teufel um einen
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Haftbefehl, wenn er in einem anderen Bundesstaat erlassen war oder eben einfach von einem Yankee
stammte. Und da man in diesen gesetzlosen Zeiten in besonders gesetzlosen Städten wie Abilene solche wie
Wild Bill Hickok als Sheriff brauchte, ist leicht zu verstehen, warum sich zwei Revolverhelden gut vertragen,
auch wenn der eine den anderen eigentlich festnehmen müßte. Aber über James Carlos Blake wird gesagt
„Dieser Autor macht keine Gefangenen“, das hat er hier wieder einmal bewiesen.
Das Faszinierende an diesem Buch ist vor allem ein Phänomen, das man noch heute in manchem Strafprozess
beobachten kann: wenn zwei Leute dasselbe gesehen haben, ist es noch lange nicht das gleiche. Oder
umgekehrt. Und so bleibt bis zum Schluß die Frage offen, ob Hardin, wie er selbst immer sagte, stets in
Notwehr handelte, wenn er einen erschoss, oder ob er einfach einer war, der sich nie beugen konnte. Oder wie
seine Hebamme sagte: „Schließlich habe ich das Baby doch gedreht gekriegt und dann ist der Bengel
rausgekommen, hat gestrampelt und die kleinen roten Fäuste geschwungen. Er hat nicht wie ein Baby geweint,
eher geschrien – Schreie, wie sie ein Mann macht, wenn er vom Whiskey oder einer Frau ungestüm und
glücklich ist, oder wenn er wild und wütend ist und einen umbringen will. Der hier ist mit offenen Augen auf die
Welt gekommen und hat sich umgesehen, aus welcher Richtung der Ärger kommt. Als ob er schon gewusst hat,
wie diese Welt ist, derBengel.“
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