Kostjunin Alexander Wiktorowitsch Erzӓhlung «Der jüngere Bruder

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Kostjunin Alexander Wiktorowitsch
Erzӓhlung «Der jüngere Bruder»
Am achten Dezember ist die Sitzung des Volksgerichtes. Die neue Frist droht
Igor wirklich. Die Frist ist еrnst. Man erlaubte ihm den Besuch nur mit mir und Ljubaseinen Geschwistern. Er gründete nicht seine Familie, die Eltern sind nicht am Leben.
Der Vater würde ihn bewundern. In Kindheit stellte der Vater ihn immer als Beispiel
hin. Ich bin nicht eifersüchtig und nicht neidisch. Worum muss ich beneiden hier? Ich
versuche einfach für mich selbst zu verstehen, wie es passiert ist. Warum? Kann man
das Leben verstehen?
***
Der jüngere Bruder ist in den sӓttigenden sechziger Jahren geboren. Aber vor
kurzem war alles anders…
Ich erinnere mich gut ans Vorschulalter, wenn ich stundenlag in der Schlange
für ein Brötchen stand. Zu jener Zeit sӓtete man Mais im ganzen Land, aber man
vernichtete Roggen und Weizen. Wie oft war es, dass man in der Schlange umsonst
stand. Eines Tages endete das Weiβbrot direkt von mir. Trӓnen!! Ich schlurfte nach
Hause in Rotzen und Trӓnen mit einer leeren Einkaufstasche. Von einer
Langstreckenfahrt brachte der Vater drei Sӓcke mit Weizen, und meine Eltern
versuchten, anhand eines Fleischwolfes ausgerüstet mit Scheibenmessern Mehl zu
machen.
Nahe unserem Hof sind zwei Lӓden: auf dem kleinen Kutusow-Platz-Krugly,
neben der militӓrischen Einheit-Garnisonny. Die Auswahl ist dort reicher, man schiebt
manchmal etwas Schmackhaftes zu. Wie durch ein Wunder erfuhr Zoika Nossowa als
erste darüber… „Alter Beutel“ flog wie ein Wirbelwind über den Hof nach Hause,
klingelnd mit Schnallen auf den Überschuhen, und dann wie eine Kugel zurück, in
Bewegung gesagt: „Im militӓrischen Geschӓft warf man Ӧl hinaus“. Der Hof kam
sofort zum Leben. Die Phrase wurde im Fluge begriffen, verbreitet, weitergegeben an
Zellen des sozialisttischen Wohnheims von einer Zelle zur anderen. Alle Bewohner
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des Hofes eilten nach Zoika. Meine Mutter arbeitete in einer Speisegaststӓtte. Sie
gewöhnte sich nicht daran, mit leeren Hӓnden nach Hause zurückzukommen. Wenn
die Nahrungsmittel aber in die Lӓden nicht geliefert wurden, fehlten sie auch in der
Speisegaststӓtte. Darum eilte sie mit dem drei Rubelschein in der Faust festhaltend.
Aber im Geburtsjahr von Igor waren die Regale des Krugly-Ladens voller
Esswaren. Ein Berg von Würsten! Wenn man in ein Geschӓft hineinging, wurden die
Nasenlöcher auseinandergespreizt, ein leckerer Geruch kitzelte. Jetzt riecht die Wurst
nicht so!
Das Leben in unserem Lande Ende sechziger Jahre kam in Ordnung vor den
Augen. Es schien, dass es mit jedem Jahr nur besser wird. Der Vater behauptete, dass
der jüngere Sohn keinen Verzicht haben wird. Er sagte: „Wir haben genug gelitten“. In
der Familie war Igor ein Lieblingskind. Der Vater nannte ihn auf eine auslӓndische
Weise „Igoron“. So und nicht anders. Wenn der Vater nicht auf der Fahrt war,
besuchte er immer die Elternversammlungen seines jüngeren Sohnes. Er war stolz auf
seinen Erflog. Und irgendwie beschwipst sagte er gewichtig:
-Igoron wird Sinn und Verstand haben.
Der jüngere Bruder war eine Kopie des Vaters. Auf den Kinderfotografien ist
ein attraktives Gesichtchen. Er hatte alles von seinem Vater: Streiche, Manieren,
Charakter. Sogar die Finger waren klein und dick, kurz, verkehrt gebogen. Er konnte
nicht den Akkord auf der Gitarre nehmen. Aber der Vater war ein unermüdlicher
Arbeiter, er unterhielt die ganze Familie. Er war ein weittragender Kraftfahrer und
drehte sich Tag und Nacht. Der Vater hatte einen Beifahrer, Onkel Sascha Zapenko.
Auf dem neuen Lastkraftwagen „Kolchida“ verdienten sie nicht schlecht. Zapenko war
Ukrainer! Das Geld machen, weiterverkaufen - war es ganz einfach für ihn. Der Vater
gab der Mutter das Dienstreisegeld bevor er abreiste. Unterwegs konnten sie nach
ihrem Willen auf jedem Kilometer das Geld machen. Sie bereiteten sich gründlich vor,
wenn sie sich auf den Weg nach dem groβen Geld machten. Bei Moskau luden sie den
Kraftwagen mit leeren Fӓssern von Kraftsoff auf dem Müllabladeplatz, in den
Landgenossenschaften zahlte man den Tscherwonez für jede Tara. Man lagerte die
Reihen von Bordürensteinen. Man warf ein paar Kisten mit den Schraubenmuttern in
die Karosserie. Man fuhr nicht unbeladen. Auβerdem machte man Zusӓtze. Der Vater
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hatte gern, mit dem Geld zu sein. Er hatte immer ein Geldversteck in der Autotür. Man
drehte die Schraube los und nahm soviel Geld wie man wollte. Igoron wartete nur
darauf, wenn der Vater von der Arbeit betrunken kam. Am Morgen sagte der Vater:
-Igoron, was soll das schon? Wo ist das Geld?
Und dieser antwortete frech:
-Ich habe nicht genommen. Erinnerst du dich daran, in welchem Zustand du
gestern gekommen bist. Ich nehme an, dass du es irgendwo fallen gelassen hast. Die
Folgerung endete damit.
Der Vater schimpfte ihn darüber nicht ernsthaft, er bestrafte ihn nicht. Und nicht
nur darüber. Er schimpfte ihn überhaupt nicht. Er prügelte mich, stellte die Schwester
in die Ecke aber bestrafte meinen Bruder nie. Ich erinnere mich daran, wie meine
Eltern entschieden, wer von uns ins Pionierlager nach Anapa fahren muβte. Ich möchte
gern fahren! Wir hatten die See doch nie gesehen. Es war Igor, der zur See fuhr. In der
Kindheit war es Igor süβer als mir und meiner Schwester. Er machte nichts im
Haushalt. Er war doch klein… Meine Pflicht war den Backofen zu heizen. Meine
Schwester muβte das Haus in Ordnung bringen, das Geschirr abwaschen. Wenn etwas
ihm nicht gefiel, blies er seine Lippen auf, wie eine Bratpfanne, runzelte seine Stirn
und schwieg. Er wartete darauf, wenn die Eltern ihr Wort zurücknahmen. Er muβte
nicht lange warten… Igor gewöhnte sich von Kindheit an daran, dass sich die Erde um
ihn herum dreht. Ich und Ljubka sparten das Ged auf das Frühstück, um der Mutter das
Geschenk zu machen; wir brachten ihr etwas Leckeres, freuten uns darüber. Sie aβ
aber nicht selbst, sondern sie gab Igor alles heimlich. Es war schade!
Der Groβvater in Sulashgore litt an Diabetes. Die Mutter brachte ihm Konfekte
aus dem Schokoladenersatz. Sie rochen nach den echten Bonbons. Der Groβvater
bewirtete nie damit. Wir verstanden, dass es unmöglich war. Und Igor (damals war er
fünf Jahre alt) schlich in den Tisch heimlich ein und stahl nicht nur einen Konfekt (um
unansehnlich zu sein), sondern alle. Auf einen Schlag!
Der Groβvater fragte:
-Wer hat genommen?
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Die Hände meines Bruders waren wie bei dem Hund beschmutzt in der
Schokolade, und er kaute schweigend.
-Igor! Hast du das gemacht?
Er antwortete mit dem überfüllten Mund:
-Nicht ich!
Mit den ehrlichen Augen, ähnlich den Froschaugen, sah er auf den Groβvater.
Man zog Süβigkeiten aus seiner Tasche heraus und fragte:
-Wieso?
-Ich weiβ nicht…
Man ertappte ihn beim Lügen, es war allen peinlich. Aber ihm machte das nichts
aus.
Er lügte immer überzeugend, begeistert, mit einem unschuldigen Ausdruck auf
seinem Gesicht.
Igor beendete die erste Klasse nur mit den Noten “fünf“. Zum zweiten Schuljahr
erkaltete sein Eifer bald. Er erfaβte das neue Material im Fluge, so das die
Klassenkameraden, den man mehrmals wiederholen muβte, ärgerten ihn. Er fragte:
„Was gibt es hier Unverständliches? Es wurde ihm langweilig. Zuerst versuchte Igor,
Spaβ in der Schule zu finden: als erster lief er in den Speisesaal zum Frühstück hinein,
tauchte seinen ungewaschenen Finger in die Gläser mit dem Kompott ein“ trank es
ruhig, wenn die Klassenkameraden daran nörgelten; er rauchte offen in der Toilette,
wenn sogar die Schüler der zehnten Klasse versuchten, den Lehrern unter die Augen
nicht zu kommen, und bogen um die Ecke der Schule. Er war frech, selbstsicher, er
fühlte fein die menschliche Schwäche. Weder Alter noch Wuchs täuschten ihn. Mit
schelmischem Lächeln klammerte er sich an den Lulatschen an. Er wuβte, dass Sanja,
der in der gleichen Schule in der zehnten Klasse studierte, Igorjok nicht beleidigen
lassen wird. In der dritten Klasse ging er wie ein ungekrönter König in der Schule
herum. Nach dem Elternschutz kam die zuverlässige Kraftstütze des Kotschkarjowski
Hofes. Dieses Privileg verbreitete sich auf alle Kleinen. Es war ihnen alles erlaubt.
Aber die anderen Kleinen sahen die Grenze…
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Er wurde immer frech, ohne den Widerstand zu fühlen und ohne auf Widerstand
zu stoβen. Er verlor immer merklicher das Interesse fürs Studium und wollte schon
nicht Arzt werden. Er fing an, die Schule oft zu schwänzen. Am Morgen legte er die
Lehrbücher in die Schultasche zum Schein, zog den Schulanzug an, nahm das Geld für
Frühstück bei der Mutter und verlieβ das Haus…
Er ging nicht in die Schule.
… Eine neu zerrissene Möwe.
Ich fand sie auf einem unbewohnten Platz weit hinter den Schuppen. Die an der
Gurgel aufgehängte Möwe hing niedrig über dem Boden. Direkt unter ihr lag eine
durchsichtige mit den kleinen Nägeln verpackte Darmhaut. Nebenan war eine bunte
Eierschale. Ein Pfötchen war abgeschnitten…
-Miβgeburten! Die Unserigen konnten das einfach nicht machen.
Ein kleines mit Blut beflecktes Daunenfederchen haftete an dem Bretterzaun.
-Die Unseren konnten das nicht machen!
Dieses Bild wollte mir nicht aus dem Kopf lange. Den Fuβboden fegend, nahm
die Mutter das eingetrocknete, runzelige Vogelpfötchen unter dem Bett aus. Ich nahm
es in die Hand… Das Möwenpflötchen. Ich war verdattert und konnte auf keinen Fall
daran glauben. Igor? Wenn er auch zynisch und spitz war, ich konnte nicht annehmen,
dass er Schinder war… Ich steckte ihm ein Beweisstück unter die Nase und Fragte:
-Ist das deine Arbeit?
-Was ist denn dabei! Ist es verboten?
-Sie ist doch lebendig, es ist ihr auch ängstlich, es tut ihr auch weh…
-Na, und?...
Ich wollte dem Bastard eine Ohrfeige verabreichen, aber er wich aus und rannte
aus dem Zimmer hinaus.
Igor…
Ist es wirklich er?...
***
… Mitte Mai wurde der Himmel wahnsinnig blau und grenzenlos. Die Sonne
zerstreute sich auf dem jungen Gras mit dem gelben Löwenzahn.
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Monochrome nackte Pappeln beneideten heimlich um die auf die Wärme
reagierenden Birkenzweigen. Kleine hellgrüne Blätter mit Zahnrändern lehnten sich
einmütig aus den Knospen hinaus und jetzt bogen ihre Schultern gerade. Die Vögel
bauten gemütliche Familiennester auf den Bäumen, veredelten sie sorgfältig in
Erwartung des gewünschten Nachwuchses. Das tüchtige gefliederte Gezwitscher, die
Klatschereien, das hitzige Zwitschern und der Liebesschrei hingen über die Umgegend
wie ein festliches Getöse.
Die Mappe in den Holzschuppen hinausgeworfen, überquerte Igor Trinaga bis
zum See auf der Suche nach Spaβ. Schneeweiβe Möwen schwebten über den
blendenden Spiegel; die Flügel gefaltet, fielen sie wie ein Stein ins Wasser, hoben die
Masse vom Wasserspitzer hoch und dann flogen zu den Inselchen der rosa
Weidenbüsche am Rand des ungebauten Terrains fort. „Es wäre toll, eine Möwe zu
fangen und zu prüfen, ob die Flugzeuge mit Bomben fliegen“.
Er brachte ein Stück Netz dorthin mit, hob einen Rand auf, mit dem Stock
gestützt, band einen Faden fest, krümelte das Weiβbrot mit groβen Stücken und
begann zu warten, sich im baufälligen Schuppen versteckt.
Die Spatzen flogen im Schwarm zu den verstreuten Brotstücken herbei. Die
Vöglein schilpten übermütig, stieβen auseinander. Erfahrene Erwachsenen waren in
einem hellbraunen Gefieder, Junge in nicht grellen grauen Mänteln. Sie pickten nicht
so viel, wie stritten. Eine vorsichtige allgegenwärtige Krähe machte einen Kreis über
dem Garn, krächzte zornig und thronte auf einer Telegraphenstange. Sie beugte ihren
Kopf bald zu einer Seite, bald zu der anderen, miβtrauisch eine ungewöhnliche
Errichtung betrachtend. Da flogen zwei Möwen an. Mit Interesse über den Köder
Kreise ziehend, energisch mit den starken Flügeln von der Luft abstoβend, hingen sie
über dem Boden, mit heiseren Kehlschreien die Verwandten zum Gelage einladend.
Eine Möwe stürzte sich nach unten und flog mit einem roten Brotkanten in seinem
gelben Schnabel nach oben. Igor spannte sich an, das Ende des Stricks in der Hand
drückend.
Die zweite Möwe fiel wie ein Stein in die Mitte der Brotscheiben. Igor zog den
Bindfaden, die Stütze sprang los… Die Spatzen flogen mit Lärm auf. Der schwere
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Metallnetz drückte einen weiβen Vogel. Er verkroch sich hilflos unter dem Drahtgarn,
bemühte sich zu heben und aus dem Joch auszubrechen… Aber er konnte nicht das
machen. Die Möwe in der Luft rief aufgeregt: „Ah-ah-ah!“ Igor lief herbei, drückte
den Netz mit seinen Füβen, durch eine groβe Masche, an dem Hals haltend, zog er
einen bis zum Tod erschrockenen Vogel heraus. Die weiβe Gülle bespritzte sich.
-Wenn du das noch einmal machst, werde ich dir den Hals umdrehen!
Auf dem Boden in einer Papiertüte lagen die vorbereiteten Schusternägel. Mit
einer Hand drückte er den Vogel ekelhaft zu sich, mit der zweiten Hand fing er an, die
Nägel in den offenen Schnabel hineinzustoβen. Die Möwe schrie scharf, suchte sich zu
befreien, krazte, dann röchelte er nur und widerstand immer leiser und schwächer.
Jetzt stieβ er in die Kehle des unterwürfigen Vogels die Nägel nicht per Stück hinein,
sondern er schüttete sie direkt von der Hand.
Das Paket war leer.
Igor öffnete die Hand, der Vogel sprang ungeschickt auf, rollte auf eine Seite,
erhob sich mit Mühe und, den Kopf gesenkt, begann zu hinken wie der Betrunkene.
Igor gab ihm einen Tritt.
-Fliege!
Die Möwe bewegte schlaff ihre Flügel.
Er hob sie auf die Hand, kletterte auf das Dach des niedrigen Schuppens, warf
den Vogel in die Höhe.
-Die Adler lernen fliegen…
Die Möwe fiel kopfüber auf die Erde ungeschickt.
-Wenn du nicht willst, kannst du nicht fliegen...
Igor machte eine Schlinge aus dem Strick und hängte den Vogel auf den
Querbalken der Telegraphenstange. Die Möwe baumelte häβlich… Zuerst erschienen
zwei gefleckte gräuliche Eier in der geschmeidigen Schale und hinterher der schwere
Sack aus der durchsichtigen Darmhaut. Unter seinem eigenen Gewicht kroch er
allmählich heraus, bis er auf die Erde plumpste. Geschmiedete Schusternägel lagen
darin genauso wie verpackte…
***
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Es schien, dass Igor diese Grausamkeit seit seinem Geburtstag mit der
Muttermilch eingesogen hatte. Wir hatten doch eine Mutter…
Jetzt sah ich auf meinen jüngeren Bruder mit anderen Augen. Ich gab vielen
seiner Handlungen, Worte einen neuen Sinn. Früher machten sie mir Spaβ. Ich war nur
erstaunt, wozu er mit dem Zirkel meine Pupillen auf meiner Photographie, wo ich mit
der Gitarre im Schulwettbewerb des Laienkunstausscheids stand, durchstach?
Sadistische Gedichte, die Igor nach Hause mit beiden Händen umfassend mitbrachte,
belustigten mich:
Die Kinder im Keller
spielten Gestapo.
Der Installateur Potapow
wurde brutal gequält.
Oder:
Ich liege in meiner Wohnung
ganz rosa wegen des Blutes.
Wir spielten mit dem Vater
«Pawlik Morozow»…
Damit war alles gesagt…
In unserem Hof war es unanständig, jemandem etwas fortzunehmen. Es war, wie
sich Judy ausdrückte, «unter seiner Würde». Und da erfuhr ich, dass sich unser
Igorjuscha, solches Kroppzeug, angewönte, in die nächstliegende Ingenieurschule für
Bauwesen zu gehen und den Studenten das Geld fortzunehmen. Salapet! Und niemand
klemmte ihm den Schwanz ein… Man kehrte die Taschen demütig auf die linke Seite.
Aber dann beschwerte man sich über ihn. Man schmierte die Angabe in die Miliz hin.
Man hätte ihn beinahe vor Gericht gestellt… Der Vater half. Er zog die Bekannten
heran, steckte den nötigen Menschen das Geld unbemerkt hinein, ging zu den Eltern
der Studenten, zum Direktor der Fachschule demütigte sich, bat, scharwenzelte. Die
Sache war auf die Bremsen hinuntergelassen.
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Der schwächliche Bursch hatte weder Kraft noch Gesundheit, konnte sich auf
dem Querbalken niemals hochziehen. Wenn man auf den Arsch spuckte, fiel der Kopf
ab, aber man fürchtete sich vor ihm auf dem «Dreizehnten».
Je weiter, desto mehr.
Er wurde achtzehn Jahre alt. Einmal im Winter ging er zum Tanz. Ein
ehemaliger Klassenkamerad in einem neuen, weiβen, Offizierschafpelz
ging ihm
entgegen. Damals war eine solche Mode… Das war ein Schick! Igoron stoppte ihn:
-Oh-oo! Was für einen Schnitt hast du! Du kannst beschmutzen. Leihe mir, um
zum Tanz zu gehen!
-?...
Igor hob die Hand zum Schlage, gab sich den Anschein, dass er angreifen wollte:
Sajetschka erschrak.
Der Junge zog seinen Schafpelz aus. Und unser Scheiβkerl schwatzte ihm seine
alte Jacke auf.
-Ich trage eine Zeitlang und dann werde ich zurückgeben.
Der Junge kehrte nach Hause zurück, der Vater war Militär, der die Witze nicht
verstand:
-Wo ist der Pelzmantel?
-Ich gab ihn, um eine Zeitlang zu tragen…
-Schwänzele nicht, sag mir die Wahrheit!...
Der Vater meldete der Miliz. Es stellte sich heraus, dass Igor schon zum zweiten
Mal zur gerichtlichen Verantwortung gezogen war. Von einer Seite konnte man sagen,
dass es nur ein Kinderstreich und Übermut war. Und in der Tat - der Raub mit der
Plünderung. Man knickte Igors Arme hinter den Rücken ein und statt der Armee
verurteilte man zum Gefängnis für eine Frist von fünf Jahren.
Die Mutter sagte immer:
-Nun gut! Der Vater hat sein Leben beschlossen und sieht das alles nicht…
Meine Mutter und ich besuchten ihn in Segesha. Wir sahen, dass er gut
untergebracht war. Als Kind liebte er die Kunst, im Gefängnis waren seine Talente
nützlich. Er bastelte auf Bestellung die selbstgemachten Spielkarten mit den Bildern
von Gefangenen und Gefängniswärtern, machte Tatauierungen. Ich erwartete nicht,
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ihn in Wohlstand und wohlgenährt zu sehen. Das Gesicht glänzte. Auf der Phalanx des
Ringfingers war die Tätowierung des Rings: die weiβen Linien kreuzten einen
schwarzen Grund von Ecke zu Ecke und in der Mitte war ein Schädel. Das war ein
Kriminalzeichen: wegen Raubes verurteilt. Es war offensichtlich, dass sich mein
Bruder recht wohl fühlte.
Er saβ seine Zeit völlig ab. Die Mutter war schon nicht am Leben, als er aus dem
Gefängnis entlassen war. Und zwar er vernichtete die Mutter…
Als er losgelassen war, sprach ich viel mit ihm. Igor schwieg, nippte „tschifir“,
einen starken Tee, als ob er hörte. Es schien mir, dass er etwas verstand.
Ich half ihm, die Arbeit des Lastkraftwagenfahrers zu finden. Aber er machte
sich wieder ans Alte. Er verkaufte das Benzin schwarz hinhenherum. Am Morgen
muβte man fahren, aber der Tank war leer. Er wurde aus der Arbeit still entlassen. Ich
verschaffte ihm noch mehrmals eine Arbeit, aber alles endete auf gleiche Weise.
Unser Hof war immer durch den Gemeidegeist, den Kollektivismus und die
gegenseitige Hilfe stark. Und hier – der Einzelwolf… Obwohl sich die Wölfe in
Rudeln halten. Er war über zwanzig, er hatte keine Familie, keine Freunde…
Ich warf ihm vor, aber er anfwortete:
-Wowan, lehre mich nicht leben! Denkst du daran, dass ich wirklich schuften
werde, wie du?
Wir brauchen keine SonneDie Partei scheint uns!
Wir brauchen kein BrotGib uns die Arbeit!
Pfui! Igoron spuckte böse durch die Zähne.
-Und wie die anderen?..
-Mögen die anderen einen krummen Buckel machen.
-Ich schäme mich für dich, den Menschen in die Augen zu sehen.
-Wer ist hier „die Menschen“?! „Freundschaft!“
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Du warst selbst von Kotschkar ganz abhängig. Memme… Ich machte mir klar,
dass das Gespräch nutzlos war…
Einige Zeit lang borgte ich ihm alles. Aber wie lange konnte man das machen?
Ich sagte ihm ohne Umschweife:
-Wenn du vor mir in die Knie sinken wirst, inständig bitten wirst, dass du vor
Hunger stirbst, werde ich dir sagen: „Setz dich hin und iβ“. Aber ich werde dir Bargeld
nicht mehr geben.
Er hörte auf, mich zu bitten. Aber Ljubascha, die als Krankenschwester arbeitete
und immer selbst die Hilfe bekam, rettete seinen jüngeren Bruder. Sie sparte für ihn
bald „das grüne Geld“, bald „das blaue Geld“ ein.
Ein halbes Jahr war vorbei. Die Schwester kam zu mir an und sagte:
-Igor ist verhaftet…
Was war passiert? Das Gleiche… Man haftete einem Mann mit Peitschen an.
Man gab eine Ohrfege, nahm irgendwelche Dinge. Man fand bei Igor Handschuhe. Er
nahm sie offenbar mit.
Ich ging zu ihm ins Gefängnis und fragte:
-Wie jetzt?
-Es ist alles in Butter!
Er lachte nur:
-Was soll wegen der Handschuhe geschehen?
Von den Kindern unseres Hofes saβen nur er und Sikossja im Gefängnis. Alle
anderen Burschen waren gerecht und anständig. Wir hatten keine Gauner, keine
Spitzbuben. Jeder strebte nach etwas, wollte im Leben etwas erreichen. Und Igor
fühlte sich von Kindheit auf zu Sikossja hingezogen, er sog die Gesetze der
Kriminalwelt ein: „Wer stärker ist, hat der recht“, „Der Mann ist gegen den Mann ein
Wolf“, „Glaube nicht! Fürchte nicht! Bitte nicht!“. Sikossja war völlig in
Tätowierungen gemalt, er prahlte, seine Metallzähne zeigend, erzählte die braven
kriminellen Fabeln, es war ekelhaft zu hören. Und Igorjuschkas Augen leuchteten. Er
entlehnte von ihm die Gaunersprache. Romantik. Was du nicht sagst! Sie begannen
sogar einander zu gleichen: die gleichen vorsichtig gebückten Schultern, als ob sie mit
dem Rücken ansähen; das gleiche ewige schiefe Grinsen und die Kälte in den Augen.
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Ich bemerkte, dass alle Kriminellen in etwas kaum merklich ähneln. Man setzt ihnen
das gleiche Zeichen.
Ich fragte Ljuba:
-Wozu hilfst du ihm? Man kann ihn nicht ändern.
-Wieso nicht helfen? Er ist doch mein Bruder. Wenn Gott will, wird er zur
Vernunft kommen. Der Dieb, na, und?... Gott lehrte: „Man muss nicht Schätze auf der
Erde sammeln“. Es scheint mir, dass Gott nicht vergebens die Diebe in den zehn
Geboten verewigt hat… Die Diebe sind Gottdiener. Sie helfen uns, die richtige Wahl
zu machen. Ohne sie keinesfalls!
Das war ganz unbegreiflich. Sie schien doch eine vernünftige Frau zu sein!
Wenn Igoron nur stähle… Räuberei war ein Verbrechen gegen den Menschen. Nichts
Heiliges blieb in ihm.
Man erlaubte, ihn im Gefängnis zu besuchen.
Ich wollte nicht gehen! Ich hatte doch mit ihm mehrmals gesprochen. Er grinste
immer. Ich ging sogar nicht ins Gericht. Ljuba weinte und sagte: „ Als der
Staatsanwalt eine Frist von vier Jahren verkündete, vergoβ er eine Träne“. Der tapfer
Mann, da hattest du es! Man konnte ihn ins Gefängnis auf lange sperren. Von der
Amnestie konnte man nicht träumen. Der Artikel war schwer und rückfällig. Das war
ein Rezidiv.
Jeder hat eine Wahl. Wir wählen selbst unseren eigenen Weg. Möge er sich
allein kümmerlich durchschlagen…
***
… Die Zeit lief. Einen Tag um den anderen.
Ich versuchte in Gedanken das Schicksal meines Bruders, sein lockeres, für
mich unbequemes Leben von meinem eigenen Leben abzuschneiden. Ich strengte mich
an, ihn aus meinem Gedächtnis, meinem Herz, meinem Schicksal zu streichen.
Löschen.
Vergessen.
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Es wurde mir nicht gelungen…
Es sah so aus, als ob ein miserabler Anteil von mir selbst ruhelos irgendwo
umherwanderte. Er litt, ertrug Schmerz, Erniedrigung, Hunger, Kälte, Angst,
Trennung, Verwirrung, Einsamkeit.
Ich konnte keine Ruhe finden…
Ich konnte nicht zur Ruhe kommen.
An einem Samstagabend packte ich für meinen Bruder die neuen, aus der
Schafwolle noch mit der Mutter gestrickten Wollsocken, meinen warmen Mohärschal,
zehn Packungen Zigaretten „Belomor“, ein Teepäckchen, auf dem der Elefant
dargestellt war, und, erleichtert mit voller Brust die eiskalte Luft atmend, ging ich mit
groβen Schritten durch die verschneiten Straβen zum Nachtzug…
*
Statt des Nachwortes
Auf dem Goldvorbau… saβen… der Zar… der Zarensohn… der König… der
Königssohn… der Schuster… der Schneider…
Was… wirst… du… da?
Petrosawodsk, 2009
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