Predigt am Sonntag Sexagesimae 2016 über Hebräer 4, 12-13, Pastor Marcus Antonioli Die Gnade und die Güte Gottes sei mit uns allen. Amen Liebe Gemeinde, da sagt Ulbricht zu Chruschtschow: „Auf diese Steine können sie bauen.“– Wo passiert das? In einem falschen Kalender, den wir von unserem Neffen bekommen haben. Für jeden Tag bietet er ein mehr oder weniger wegweisendes Zitat. Doch die Zitate bekommen eine erheiternde Brisanz, weil sie völlig anderen Personen zugeschrieben werden. Und so führt der Kalender uns Tag für Tag vor, dass es eben etwas anderes ist, wenn zwei dasselbe sagen! Nicht umsonst heißt es in einem südafrikanischen Sprichwort: Das, was du tust, schreit so laut, dass ich nicht hören kann, was du sagst. - Ja, wir messen einander an dem, was wir sagen und tun. Und es liegt in der Natur der Sache, dass andere uns oft besser einschätzen als wir uns selbst! Der Hebräerbrief erinnert uns daran, dass sich unser Sein, unser Reden und Handeln einem ganz anderen Kritiker stellen muss. Und dieser Kritiker verfügt über ein Wort, welches lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert ist. Und es durchdringt uns, bis es Seele und Geist, auch Mark und Bein scheidet. Denn Gott ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und keiner ist vor ihm verborgen, sondern es liegt ihm alles klar vor Augen! Die Vorstellung, dass wir uns alle einst vor dem Richterstuhl Christi zeigen müssen und er dann mit seinem zweischneidigen Schwert die guten und die bösen trennt, hat viele Jahrhunderte Angst verbreitet. In meiner alten Dorfkirche in Altkalen findet sich eine Wandmalerei, die viele Jahrhunderte unter der Kalkfarbe schlummerte. Heute sind das fremd anmutende Gestalten, die alle dem großen Richter unterworfen sind. Und es ist ein Heulen und Zähneklappern in der Hölle und eine Freude im Himmel. – Doch beim Anblick des jüngsten Gerichts kommt die bange Frage auf, wer denn eigentlich bestehen kann? – Aber als aufgeklärte Menschen macht uns das natürlich keine Angst mehr, denn diese Bilder haben ihre Macht ein-für-alle-Mal verloren Sind die Kritiker denn heute verstummt, müssen wir uns heute nicht mehr fürchten? Ich befürchte, dass wir heute alle mehr oder weniger unter einem immensen Druck stehen. Wir müssen uns in den unterschiedlichsten Lebensbereichen messen lassen. Die Kritiker sind wir selbst und die mit denen wir tagtäglich zusammen leben. - Und das fängt schon in der Sandkiste an, und in der Schule ist das Leistungsprinzip teilweise unerträglich geworden. Denn da werden Jungen und Mädchen auf wenige Noten oder Worturteile reduziert. Sie sollen fit werden für den globalen Wettbewerb, das Rennen um die besten Plätze ist eröffnet! Jeden Moment sollen wir uns als gute Kinder und Freunde, als liebevolle Ehepartner und vor allem in unserem Beruf als kompetent und tüchtig erweisen. Darüber hinaus wollen wir uns als integere und verantwortungsvolle Personen erweisen, die ein waches soziales und ökologisches Gewissen haben. Und weil das ganze Leben wie eine große Zeugnisvergabe anmutet, sehnen wir uns nach Freiräumen und Oasen, wo wir keinem strengen Kritiker unterworfen sind. – Man könnte sagen das Schreckensszenario hat sich vom jüngsten Tag in den Alltag verschoben. Irgendwie wenig tröstlich. Darum hat es wohl etwas Entlastendes, wenn sich andere vorzugsweise im Fernsehen oder im Internet zum Löffel machen. Da werden Scharfrichter á la Heidi Klum oder Dieter Bohlen aufgefahren, die es den Kandidaten mal so richtig geben. Unter dem Motto: wie peinlich sind die denn drauf! Da verlieren Menschen schnell mal ihr Gesicht. Übrigens in meinem lustigen Kalender wird Heidi Klum das Jesuswort in den Mund gelegt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ Liebe Gemeinde, es ist gut einmal ein paar Schritte zurück zu treten, wie es der Hebräerbrief tut. Denn er sucht nach der großen Gottesruhe in dieser unbarmherzigen Welt! Dazu ist es aber unabdingbar, dass wir uns einen Kritiker und Richter suchen, der wirklich etwas vom Leben versteht! Einem Richter, der uns wahrhaft gerecht wird! – Der Hebräerbrief feiert Jesus Christus als solchen, er tituliert ihn zum obersten Brückenbauer, zum Hohenpriester. Er baut uns Brücken und zeigt uns wie sympathisch, liebevoll und nahe Gott uns ist. Ein Kritiker, der uns mit gnädigen Augen anschaut. Bei ihm dürfen wir die große Ruhe finden, die wir durch vielerlei Maßstäbe ständig getriebene kaum noch erwarten. – Ich glaube, dass diese Kritiker eine gute Wahl ist, wenn wir nicht völlig am guten Leben vorbei hasten wollen. Gott verfügt über ein Wort, welches lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert ist. Und es durchdringt uns, bis es Seele und Geist, auch Mark und Bein scheidet. Und er schaut in unsere Gedanken und Herzen. Doch diesem Richter dürfen wir etwas zutrauen, was wir uns selbst nicht immer zugestehen, er schaut uns mit zu jedem Zeitpunkt mit Augen der Liebe an, mit Wohlwollen prüft er unsere Worte und Taten. Seine Waage wiegt mit Liebe und Wahrheit auf, was uns fehlt. Bei ihm gewinnen wir neue Klarheit, gerade in seiner Gnade. In unserer modernen Medienwelt gibt es viele Worte, die anonym in der Weltgeschichte kursieren. Ja, das Internet verleitet viele Menschen dazu, grob, verletzend, und ungerecht zu sein. Die Macht des Wortes entfaltet gerade hier seine zerstörerische Kraft, weil Lügen, Halbwahrheiten und Hass so leicht anzubringen sind. Vielleicht sollten wir uns jeden Tag aufs Neue bewusst machen, dass unsere Worte etwas bewirken. Darum gilt es, verantwortlich mit ihnen umzugehen. Liebe Schwestern und Brüder, das Wort Gottes verhilft uns zu neuer Klarheit. Doch anders als wir es oft tun, will dieses Wort nicht die Defizite aufdecken, sondern es will uns ermutigen und anstoßen. Ein Wort, das uns immer wieder neue Räume erschließt. Diesem liebevollen Wort vertraue ich mich gern an, auch wenn es manchmal trifft und mich nicht unverändert lässt. Weil dieses Wort unbestechlich ist, vermag es dem Guten und Schönen Platz zu verschaffen! Allein, in diesem Schutzraum der Güte können wir ein neues und wahres Leben wagen. Mit all unseren Fehlern, Sünden und Begrenzungen, dürfen wir an seinen unbegrenzten Möglichkeiten teilhaben. Doch nicht als getriebene, nicht als verängstigte – vielleicht immer mehr als fröhliche, vielleicht sogar verspielte Kinder Gottes! Getragen von einem tiefen Vertrauen, neue Spiele des Lebens ausprobiere. Geleitet und geführt vom lebendigen, klaren und liebevollen Wort Gottes. Liebe Schwestern und Brüder, uns lockt der weite Horizont der Gnade! Hier finden wir Oasen der Ruhe, die wir aufsuchen können, wenn sich unser Hamsterrad allzu schnell drehen will. Das wird uns nicht immer gelingen, aber es lohnt sich danach zu suchen und zu fragen. Amen