Jean-Pierre LEMAIRE GEDICHTE ÜBER GEMÄLDE Laute Töne sind seine Sache nicht, ebenso wenig grelle Farben, ein Schwall von Worten, ein auftrumpfendes Auftreten. Nicht festes Zupacken, sondern ein vorsichtiges Sich-Herantasten. Zuhören, Befragen, Untersuchen, den Dingen auf den Grund gehen. Die Überzeugung, dass hinter der Oberfläche noch mehr verborgen ist. Transzendenz im weitesten Sinn des Wortes: Wenn wir etwas nicht gleich sehen, so heißt das nicht, dass es nicht existiert. Man muss sich Zeit lassen, Geduld haben, das Unsagbare andeuten, bis es sich zeigt. Nach diesen Vorlieben hat Jean-Pierre Lemaire auch die Bilder ausgewählt, die zu ihm sprechen und über die er zu uns spricht. Seine Lieblingsmaler beschränken sich nicht auf die Wirklichkeit, gehen darüber hinaus, sind sur-realistisch wie Magritte, unwirklich poetisch wie Chagall, meditativ zurückgenommen wie Morandi oder Andachtsbilder der großen Altmeister Giotto und Schongauer. Jean-Pierre Lemaires Gedichte über Gemälde sind kurz, füllen kaum eine halbe Seite, manchmal nur ein paar Zeilen, auch die Sätze sind kurz, reimlos, rhythmisch fließend. Bildbeschreibungen stehen meist am Anfang, bis dann das Sehen nicht mehr reicht, die Sichtweise kippt, ein Ich ins Spiel kommt oder ein unbestimmtes Du oder eine religiöse Fragestellung den Abschluss bildet. Die Texte stammen aus unterschiedlichen Gedichtsammlungen, aus: L’Exode et la Nuée, 1982 (Chagall), L’Intérieur du Monde, 2002 (Giotto) oder aus dem zuletzt erschienenen Buch Figure Humaine, 2008. Jean-Pierre Lemaire, Jahrgang 1948, ist Dichter und Literaturprofessor am renommierten Pariser Gymnasium Henri IV und in Sainte-Marie de Neuilly. Seit seinem ersten Gedichtband 1981 hat er 6 weitere Bücher bei Gallimard herausgebracht und wurde 1999 von der Académie française mit dem Großen Preis für Poesie ausgezeichnet. Nach eigenen Aussagen sind sein Leben und Werk stark durch seinen katholischen Glauben bestimmt. Dabei kommt auch seine Sehnsucht nach dem Schönen, dem Harmonischen, dem Paradies zum Ausdruck, die wir alle gut verstehen können, wenn wir uns darauf einlassen: „Avais-tu mérité par ta longue attente cette confidence de la vie cachée?“ (Hast du durch dein langes Warten verdient, das Geheimnis des verborgenen Lebens zu erkennen?)