BERND FRANKE Chagall-Musik für Orchester (I985-86) Uraufführung: 10. März 1988, Leipzig, Gewandhaus Interpreten: Gewandhausorchester, Kurt Masur Dauer: 27` Verlag: Breitkopf & Härtel Besetzung: 3.3.3.3. - 4.3.3.1. - Pk.Schl(3) – Hfe – Str Kölner Fassung: UA: 4/2002 Dauer: 13` Interpreten: Bundesjugendorchester/Andrey Boreyko mit WDR-Produktion und einer Tournee (inkl. niederländische Erstaufführung) Verlag/Besetzung: s. Originalfassung Was fasziniert den jungen Komponisten Bernd Franke an Marc Chagall solchermaßen, daß er sich von dem großen Maler und Graphiker zu mittlerweile drei musikalischen Werken inspirieren ließ? Die Bilder? Deren rätselhaft transzendente Darstellung der Wirklichkeit? Oder die Persönlichkeit des aus Witebsk stammenden jüdisch-russischen Außenseiters seiner Kunstepoche, der aus weniger Theorie und mehr Einfachheit als seine Zeitgenossen Grundlagen des Surrealismus schuf? Eine "Chagall-Musik" kann von alledem etwas und zugleich ganz subjektiv Erlebtes vermitteln. Ihre ideellen Bezüge zu Chagall werden um so sinnfälliger, je weniger man nach direkter Übertragbarkeit zwischen Malerei und Musik sucht. Dem Komponisten geht es nicht um konkrete Bildinhalte, eher um Marc Chagalls spezifische Ausdruckskraft, den Klang seiner Bilder, deren singend leuchtende Farben. Ähnlich Chagall schichtet Bernd Franke stilistisch Unterschiedliches mit der Hand des Überlegenen Instrumentators zu emotional spontan wirkender, eigenständiger Aussage. Geradezu hochachtungsvoll nähert sich der Komponist mit großer Ruhe im scheinbar freischwebenden Kontrafagott-Solo seiner Chagall-Welt. Aus der sich aufhellenden Eintönigkeit und intensiven Oktavgebärden der Violinen taucht ein im gesamten Werk abgeleitetes Violinsolo mit dem Viertonmaterial D-E-G-F auf. Chagalls berühmter "Fiedler", mal auf einem Häuserdach, mal in der Luft, mal über Witebsk? Dieser Prolog findet seine assoziationsreiche musikalische Ausformulierung im ersten Hauptsatz. Im motorisch pulsierenden Zeit-Maß des Viervierteltaktes markieren Hörner und Trompeten den Beginn einer kontrastreichen Entwicklung, aus deren Phasen der Spannung und Entspannung, des Mit- und Gegeneinanders, eine neue Qualität des eingangs vorgestellten Signalmotivs im Tutti aller Bläser entsteht. Wieder sind es Violingebärden, die dem allzu hymnischen Gleichklang Einhalt gebieten, Motive auffächern und individuelle Gesten entstehen lassen. Es scheint, als ob der Prolog hier eine philosophisch vielschichtige Interpretation à la Chagalls "Geburt" erhalten hat. Ein Interludium, eingeleitet von der Harfe und aufgenommen von instrumentalen Partnern mit exportiert eingesetzten Klangfarben (Solo-Violine, Solo-Viola, Vibraphon, Pauke), leitet zum zweiten, ganz der Wirkung klangfarblicher Kombinationen gewidmeten Hauptsatz über. Scheinbar nicht zueinander passende Klänge und Gesten werden wie unterschiedliche Zeitdimensionen wirklichkeitsfern zusammengefügt: zarte Farbtupfer des klingenden Schlagwerks, die allmählich leidenschaftlich aufbegehrende Streicherfläche, blitzartige Bläserfigurationen, crescendierende Einzeltöne, Harfenglissandi. Was aus verschiedenen Sphären herangetragen wird, vereinnahmt das Uhrwerk der kleinen Trommel. Dreimal gerät diese aufdiktierte Ordnung in BERND FRANKE/Chagall-Musik -2- aleatorischen Abschnitten aus den Fugen - ein Spiel der Zeit. Im Interludium II finden bereits drei Streicher-Soli zueinander: die Solo-Violine des "Fiedlers", die Solo-Viola des Interludiums I und ein Solo-Violoncello. Über dem dritten Hauptsatz, "sehr zart und verhalten, fließend", liegt etwas von Chagalls Melancholie der schönsten und freundlichsten Bilder - vielleicht das Liebespaar in unheimlich finsterer Nacht. Ein expressives Violinthema spinnt sich durch diesen Satz fort. Aus den Verfärbungen des Themas durch Themenableitungen in der Streicherfamilie entsteht das Quartett von Individualisten - zu den Solisten des Interludiums II gesellt sich eine zweite Solo-Violine, das Streichquartett ist somit komplett. Aus dem ungleichen Kampf zwischen Orchester und vier Solisten resultiert die Dramatik des letzten Hauptsatzes. Der Epilog gehört den Streichern und Reminiszenzen an das ursprüngliche Viertonmotiv, vorgetragen von einer aus der Ferne klingenden Solo-Trompete im Zwiegespräch mit der Solo-Violine. Einzelne Gedanken - vielleicht noch unverstanden wie der junge Chagall einst - steuern neue Ufer an und malen eine Utopie der friedlichen Welt. Die "Chagall-Musik" für Orchester stellt einen vorläufigen Abschluss der Chagall-bezogenen Kompositionen von Bernd Franke dar. Im Vorfeld entstanden – musikalisch völlig unabhängig von der „Chagall-Musik“ – „Chagall-Impressionen“, 6 Stücke für 10 Blechbläser (1985, uraufgeführt vom Blechbläserensemble Ludwig Güttler) und "Die Zeit ist ein Fluß ohne Ufer" - 6 x Chagall für 10 Instrumente (1985/86, uraufgeführt in Boston/USA und preisgekrönt mit dem "Kucyna International Composition Prize" 1987). Dr. Ulrike Liedtke (aus dem Programmheft zur UA am 10.März 1988 im Gewandhaus) Infos/Material/Kontakt: Breitkopf & Härtel Wiesbaden/Leipzig oder Bernd Franke Prellerstrasse 1 04155 LEIPZIG fon +49.341.5644.062 fax +49.341.5644.063 Email: [email protected]