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Wolfgang Weber
21.09.2015
Allgemeine versus Spezielle Betriebswirtschaft(en) - Kurzfassung
Warum dieses Thema? Die Unterscheidung zwischen allgemeinen und
speziellen Aspekten einer Disziplin ist weit verbreitet und in vielen Fächern
offensichtlich zweckmäßig. Das gilt nicht nur, aber auch für die
Betriebswirtschaftslehre.
Es ist erstaunlich und eigentlich nicht verständlich, dass sich in der
Betriebswirtschaftslehre seit 30 bis 40 Jahren ein dramatisches
Ungleichgewicht zwischen den beiden Perspektiven (allgemein / speziell)
herausgebildet hat. Oder wie Klaus Brockhoff feststellte, dass eine „Allgemeine
Betriebswirtschaftslehre“ bis zu den 1970er Jahren erkennbar war, dies aber
mittlerweile kaum noch der Fall ist.
Es stellt sich die Frage, ob sich die Betriebswirtschaftslehre als Fach auflöst und
– wenn das so sein sollte – welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Ich möchte in die Kurzfassung meines Beitrags zu diesem Thema in drei Punkte
gliedern:
- Die Herausbildung einer allgemeinen Perspektive in ausgewählten
Disziplinen, in der Entwicklung des Faches Betriebswirtschaftslehre und
in verschiedenen Scientific Communities bzw. Ländern,
- die Notwendigkeit der Spezialisierung und die Frage, ob diese
Spezialisierung innerhalb oder neben der Betriebswirtschaftslehre
erfolgen soll,
- vor diesem Hintergrund soll der gegenwärtige Umgang mit dieser
Thematik beleuchtet werden, und Schlussfolgerungen für die weitere
Entwicklung unseres Faches gezogen und zur Diskussion gestellt werden.
1. Allgemeine Aspekte
Ich möchte einen vielleicht ungewöhnlichen Weg gehen und zuerst einen Blick
auf ausgewählte Disziplinen außerhalb der Wirtschaftswissenschaften werfen
und die Hauptergebnisse festhalten. Ausgewählt habe ich die Psychologie und
vier kulturwissenschaftliche Disziplinen, die Soziologie, die
Literaturwissenschaft, die Sprachwissenschaft und die Geschichte.
Psychologie: Die Unterscheidung zwischen Allgemeiner Psychologie und
speziellen Teildisziplinen hat eine lange Tradition, ist innerhalb des Faches
akzeptiert und strukturiert den Studiengang und die Inhalte von Lehrbüchern.
In der Allgemeinen Psychologie werden die Grundlagen des Faches erarbeitet,
also insbesondere Wahrnehmung, Lernen, Gedächtnis, Denken bzw.
Problemlösen, Motivation, Emotion.
Diese Grundlagen sind die Basis für die spezielleren Bereiche des Faches, z. B.
Verkehrspsychologie, Organisationspsychologie oder Entwicklungspsychologie.
Oder abstrakter: Die Allgemeine Psychologie hat das Ziel, Erkenntnisse über das
Allgemeine im menschlichen Verhalten und Erleben zu gewinnen, zu
beschreiben, zu erklären und vorherzusagen.
Soziologie: Auch hier ist die Unterscheidung des Allgemeinen vom Speziellen
fest verankert. Die Allgemeine Soziologie liefert die allgemeineren
soziologischen Konzepte und Theorien für die spezielleren sog. BindestrichSoziologien, z. B. Betriebs-Soziologie, Bildungs-Soziologie oder Sport-Soziologie.
Der Allgemeinen Soziologie werden Sonderaspekte wie die Geschichte der
Soziologie zugeordnet.
Literaturwissenschaft: Die Unterscheidung zwischen Allgemeiner
Literaturwissenschaft und den einzelnen Literaturwissenschaften (auch:
Nationalliteratur) ist üblich. Die Allgemeine Literaturwissenschaft bemüht sich
um Erkenntnisse der Literatur insgesamt; sie ist grundsätzlich nicht auf eine
einzige Literatur gerichtet. Zum Teil wird allerdings dem Ausdruck
Literaturtheorie der Vorzug gegeben.
Sprachwissenschaft: Die Sprachwissenschaft umfasst das Gesamtspektrum der
theoretischen und angewandten Sprachwissenschaft. Dabei wird ebenfalls
zwischen allgemeinen und speziellen Aspekten des Faches unterschieden.
Ähnlich wie in der Soziologie werden „Bindestrich-Teildisziplinen“ – z. B. die
Sozio-Lingusitik bearbeitet. Die generellen Aspekte werden der allgemeinen
Sprachwissenschaft zugeordnet. Z. T. wird der Ausdruck
„sprachwissenschaftliche Theorie“ bevorzugt.
Geschichte: In der Geschichtswissenschaft taucht schon im 18. Jahrhundert der
Ausdruck „Allgemeine Geschichtswissenschaft“ auf, mit dem die Theorie der
Geschichtswissenschaft bezeichnet wird.
Die Hauptergebnisse dieses Streifzugs durch fünf Disziplinen lassen sich wie
folgt zusammenfassen:
- Es wird auch in den genannten Diszplinen zwischen einer allgemeinen
und einer speziellen Perspektive unterschieden.
- Im Rahmen des „Allgemeinen“ werden die wichtigsten Grundbegriffe
und Aussagenzusammenhänge des Faches entwickelt.
- Es werden Begriffe, Hypothesen, Theorien und Erkenntnisse entwickelt,
die eine generelle Basis für Anwendungen in den speziellen Bereichen
des jeweiligen Faches bilden.
- Die allgemeine Perspektive umfasst neben dem Zentrum der
Theorieentwicklung auch weitere allgemeine Themen, die für das Fach
insgesamt relevant sind, z. B. die Geschichte des Faches.
Diesen Weg der Herausbildung allgemeiner und spezieller Perspektiven hat die
Betriebswirtschaftslehre in ihrer ersten Entwicklungsphase eingeschlagen. Ich
übernehme hier die Zusammenfassung dieser Entwicklung von Bellinger.
Er hebt die Entwürfe von Systemen der Betriebswirtschaftslehre, den Ausbau
von Wirtschaftszweiglehren und die Fortschritte in der Unternehmenstheorie
hervor, die zu einem Erklärungssystem wachsen. Der Vergleich des Materials
über die Betriebe der verschiedenen Wirtschaftszweige führte zu dem „allen
Betrieben Gemeinsamen, das in der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre
zusammengefasst wurde.
Die Herausbildung Spezieller Betriebswirtschaftslehren und der Allgemeinen
Betriebswirtschaftslehre gehen also Hand in Hand. Diese Entwicklung reicht bis
in die 1970er Jahre als neue Ansätze und damit neue Wissenschaftsprogramme
entwickelt wurden, insbes. der Entscheidungs- und der Systemansatz.
Seit den 1990er Jahren wurde das Verhältnis von ökonomischen Theorien und
Betriebswirtschaftslehre zu einem zentralen Thema der Theoriediskussion in
unserem Fach ohne dass dies als Weiterführung der ABWL-Diskussion
wahrgenommen wurde.
Die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre ist weitgehend eine Besonderheit der
deutschsprachigen Betriebswirtschaftslehre. Ähnliche Konzepte entwickelten
sich allerdings u. a. in den Niederlanden, in Italien, mit Einschränkungen in
Skandinavien. Elemente dieser Betrachtungsweise wurden auch in Japan
übernommen.
Für den anglo-amerikanischen Raum ist die weitgehende Zersplitterung der
betriebswirtschaftlichen Teilgebiete typisch. Die Suche nach einer einheitlichen
Perspektive und die Zusammenführung der Teilgebiete in Gesamtdarstellungen
sind dort nicht üblich. Das dadurch entstehende Defizit wird allerdings im
Studium und in der Weiterbildung durch Fallstudien zumindest teilweise
aufgefangen. „Case studies“ und Unternehmensplanspiele bilden einen Ersatz
für die im konzeptionellen Bereich fehlende übergreifende Perspektive der
ABWL.
Abgekürzt und mit anderen Worten: Die BWL braucht die übergreifende
Perspektive - wie auch immer sie verankert sein mag.
2. Spezielle Aspekte
Die Spezialisierung der Wissenschaftler und der Wissenschaft innerhalb einer
Disziplin hat positive Auswirkungen auf das Niveau der Forschung und der
Lehre. Sie ist deshalb grundsätzlich wünschenswert.
Diese Spezialisierung folgt der Herausbildung Spezieller
Betriebswirtschaftslehren als Funktionslehren, als Wirtschaftszweiglehren, als
Methodenlehren und als Lehren der Entwicklungsphasen des Unternehmens.
Die Funktionen (z.B. Finanzierung), die Methoden (z. B. OR) und die
Entwicklungsphasen (z. B. Gründung, Sanierung etc.) sowie das
Rechnungswesen enthalten Wissen, das für alle Unternehmungen gültig ist
und der ABWL zugerechnet werden muss.
Damit werden Forschungs- und Lehrpakete geschnürt, die für den einzelnen
Forscher oder das einzelne Forschungsteam bewältigbar sind. In keiner
Disziplin gibt es Wissenschaftler, die das gesamte Fach mit allen Verzweigungen
kompetent beherrschen.
Ein Problem entsteht, wenn die Wissenschaft(ler) zu der Einschätzung
gelangen, dass die kleineren speziellen „Forschungspakete“ nicht mehr von
einzelnen zu bewältigen sind und deshalb aufgeschnürt werden müssen.
Hierzu zitiere ich Kirsch und Picot, die schon 1989 im Vorwort zur HeinenFestschrift unter dem Titel „Die Betriebswirtschaft im Spannungsfeld zwischen
Generalisierung und Spezialisierung“ die Gefahr ansprechen, dass die
Betriebswirtschaftslehre durch eine immer weiter getriebene Spezialisierung
ihre Identität verliert“. Weitere Autoren (u.a. Brockhoff, Schreyögg) äußern sich
ähnlich.
Als Ursachen für diese Entwicklung werden insbesondere vier Punkte
angeführt:
- Das wachsende Problemvolumen in den betriebswirtschaftlichen
Teilbereichen, das in Größenordnungen wächst, die immer
unübersichtlicher werden und nur schwer zu bewältigen sind,
- das veränderte Anreiz- und Gratifikationssystem, das die Forschung in
Spezialgebieten und Publikationen in hoch gerankten Zeitschriften,
möglichst in englischsprachigen „journals“ belohnt,
- das weltweit dominierende US-amerikanische Fachverständnis mit einer
Spezialisierung vorwiegend auf Funktionsbereiche, wobei es eine streng
abgegrenzte Betriebswirtschaftslehre in den USA nie gegeben hat
(H.M.Schoenfeld); diesem Fachverständnis zu folgen wird von der
Science Community belohnt,
- fehlende Karrierechancen bei einer Forschungsorientierung an
„allgemeinen Fragen“ des Faches und die Besetzung von
Professorenstellen mit Fachfremden (Psychologen, Volkswirte), die eine
enge Bindung an den Gesamtkomplex der Betriebswirtschaftslehre nicht
erwarten lässt.
3. Aktueller Stand und weitere Entwicklung
Der Vergleich zwischen der relativ jungen Betriebswirtschaftslehre und einigen
etablierten Disziplinen lässt erkennen, dass die Betriebswirtschaftslehre mit der
Identifizierung des „Allgemeinen“ im Fach noch immer auf der Suche ist.
Gleichzeitig wird deutlich, dass in den fünf hier betrachteten Disziplinen der
gemeinsame Kern des „Allgemeinen“ das jeweilige Theoriespektrum ist, das in
der Betriebswirtschaftslehre trotz beachtlicher Beiträge noch auf keinem festen
Boden steht.
Diese Problematik ist keineswegs neu. Sie wird im Fach seit mindestens 25 bis
30 Jahren thematisiert ohne dass sich etwas grundsätzlich geändert hätte. Vor
26 Jahren stellte der VHB die 51. Jahrestagung des Verbandes unter das Motto
„Integration und Flexibilität. Eine Herausforderung für die Allgemeine
Betriebswirtschaftslehre“. Auch die Ausrichter dieser Tagung, die Kollegen an
der Universität Münster, sahen in einer zu starken Ausdifferenzierung und
Zersplitterung der Betriebswirtschaftslehre eine gewisse Gefahr für die
gesamte Disziplin. Ihre frühere Funktion als Basis und Klammer der speziellen
Betriebswirtschaftslehren könne die ABWL nicht mehr erfüllen.
Aber: Die Impulse dieser Tagung haben nicht ausgereicht, um grundsätzliche
Veränderungen auf den Weg zu bringen (ähnlich: Klaus Brockhoff).
Das brauchten wir nicht zu beklagen, wenn uns die Ausdifferenzierung des
Faches mehr Wissen bescheren würde. Das aber ist nicht der Fall. Eine
Spezialisierung neben der Betriebswirtschaftslehre führt zu einer Verengung
der Perspektive, die zwangsläufig wichtige und relevante Zusammenhänge
außer Acht lässt.
Der nach meiner Überzeugung „richtige“ Weg ist, alle Kraft auf die Entwicklung
einer verbindenden theoretischen Perspektive zu richten, die es in Ansätzen
durchaus gibt, aber in der Praxis des Universitätsbetriebs wenig Beachtung
findet (fordert u. a. auch Schreyögg).
Die Entwicklung einer tragfähigen Theorie bedeutet die Reduktion von
Komplexität. Das Fehlen oder der Verzicht auf eine solche Theorie bedeutet,
dass mehr oder weniger zusammenhanglos Wissen gesammelt und angehäuft
wird. Dies führt in der Tat zu dem von Bellinger erwarteten wachsenden
Problemvolumen in den betriebswirtschaftlichen Teilbereichen, das in
Größenordnungen wächst, die unübersichtlich werden und das irgendwann
nicht mehr zu bewältigen sind.
Die zentrale Hypothese dieser Analyse lautet: Je theoriearmer eine Disziplin
ist, desto mehr neigt sie zur Zersplitterung und Auflösung der Disziplin;
Leistungsfähige Theorien reduzieren Komplexität und tragen dazu bei,
übergreifende Zusammenhänge aufzuzeigen und handhabbar zu machen.
Das also ist die Richtung, in die wir uns noch mehr als bisher bewegen müssen.
Es stehen – etwas vereinfacht – zwei Entwicklungen gegenüber:
- Die Auflösung der Betriebswirtschaftslehre in neue Diszplinen um solche
Themenkreise wie Finanzen, Steuern oder Marketing, wobei die
betriebswirtschaftlichen Arbeitsfelder in diesem Kontext neue „Dächer“
suchen und finden werden. Diese Entwicklung zeichnet sich in mehreren
Bereichen bereits ab. Welche Rolle die betriebswirtschaftlichen
Komponenten in diesen neu entstehenden Forschungs- und
Studienfeldern spielen werden, ist derzeit noch offen. Die Vermutung
liegt nahe, dass die theoriestärkeren Partner dominieren werden.
- Die Betriebswirtschaftslehre nimmt ihre Verpflichtung als
wissenschaftliche Disziplin ernst und widmet sich (wieder) mit großem
Einsatz dem Ausbau der theoretischen Basis des Faches. Sie knüpft an
der Diskussion in der Betriebswirtschaftslehre in den 1950er, 60er, 70er
und 80er Jahre an. Positive Beispiele sind vorhanden:
Die Gegenüberstellung und Analyse von Entwicklungsperspektiven
Spezieller Betriebswirtschaftslehren und Allgemeiner
Betriebswirtschaftslehre (z.B. Küpper, Rudolph, Meffert in Kirsch/Picot
1989), - die Prüfung von bestehenden Theorieansätzen für spezielle
Anwendungsfelder in der Betriebswirtschaftslehre (Picot 1989), - die
Beiträge zur Theorieentwicklung von Gutenberg, Heinen, Kirsch, Ulrich,
Albach, Dieter Schneider u.a., - die Darstellung des theoretischen
Angebots für die Betriebswirtschaftslehre insgesamt (Schwaiger/Meyer)
und für Teilbereiche des Faches, z. B. für den Finanzierungsbereich, das
Marketing, Organisation und Unternehmensführung oder
Personalwirtschaft sowie die Aufarbeitung der kritischen Analysen der
Thematik Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Spezielle
Betriebswirtschaftslehre.
- Dieser Prozess wird aber nur dann in Gang kommen und erfolgreich
verlaufen, wenn es Karriereperspektiven für jüngere Kolleginnen und
Kollegen gibt. D.h.: Es müssen Professuren mit der ernst gemeinten
Widmung „Allgemeine Betriebswirtschafslehre“ oder
„Betriebswirtschaftliche Theorien“ geben.
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