Carl Gustav Jung und das Grunderlebnis Zofingia "Es ist ja die Zofingia, der unser erstes und letztes Streben gilt. Das Gedeihen des Vereins ist ja der Mittelpunkt, um den sich alles gruppiert“. Dieser typische Ausspruch steht im Manuskript1 der Antrittsrede, die Carl Gustav Jung (1875 – 1961) als Präsident der Zofingia Basel hielt. Um ihn richtig einschätzen zu können, muss man auf Grossvater Karl Gustav Jung2 zurückblenden, der 1816 in Heidelberg Medizin studierte und dann in Berlin als Chirurg tätig war. 1817 wechselte er zum Protestantismus, nahm an der Wartburgfeier teil und schloss sich den Burschenschaften an. Er nannte sogar einen Hammer aus dem Besitz des KotzebueAttentäters Karl Ludwig Sand3, mit dem er befreundet war, sein eigen, der von der Polizei als gefährliches "Beil“ interpretiert wurde. Jung wurde verhaftet und ausgewiesen. Auf Empfehlung Alexander von Humboldts4 kam er nach Basel. Sein Sohn Johann5 trat in die Zofingia Basel ein, wo ihn eine tiefe Freundschaft verband mit Johann Jakob Oeri6. Die Freunde tauschten sich aus über ihre Söhne, Carl Gustav Jung und Albert Oeri, die ebenfalls Basler Zofinger wurden. Jung trat hier 1895 ein. Die Vorträge, die Carl Gustav Jung – er erhielt das Cerevis "Walze“7 – vor Mitzofingern hielt, waren so bedeutungsvoll, dass sie in mehreren Sprachen in Buchform publiziert wurden8. 1896 referierte er "Über die Grenzgebiete der exakten Wissenschaft“, was dem am Okkultismus interessierten Jung sehr entsprach. 1897 folgten "Einige Gedanken über Psychologie“ und die erwähnte Antrittsrede9 im Ettinger Bad, die er mit "Beichte“ überschrieb: "Wo sind jene Gestalten, geboren aus Feuer und Geist, die Träger einer schöpferischen Idee? Wo sind jene Männer, die mit mächtiger Hand eingreifen in die Speichen des Weltrades, welche dem Gewoge unfertiger Ideen neue Rahmen weisen?“ Jungs Vorstellung von der Politik war ernüchternd: "ein Bild, entsetzlich nackt und bloss. Eine Fratze, zu traurig, um noch lächerlich zu sein“. Die Zofingia müsse, so Jung, in dieses Chaos tüchtige Politiker hinaussenden, Bürger, die Seele und Gewissen brauchten, um "die Folie abzugeben für die Grossen und das Widerstrebende, an dem der Geist der Grossen sich zu Blitz und Donner entzünden kann.“ Die Zofingia müsse "Menschen bilden und keine politischen Tiere, Menschen, welche lachen und weinen, Menschen die sich ihres Geistes und Willens 1 Originalmanuskript in der ETH-Bibliothek in Zürich, Hochschularchiv, HS 1055:531. Die ZofingiaVorträge. 81. 2 Karl Gustav Jung (1794 – 1864) wurde Rektor der Universität Basel. 3 Karl Ludwig Sand (1795 – 1820). 4 Alexander von Humboldt (1769 – 1859). 5 Johann Paul Achilles Jung (1842 – 1896), reformierter Pfarrer. 6 Johann Jakob Oeri (1844 – 1908). 7 Fotokarte im Basler Sektionsarchiv. PA 1132b. A3c. 8 The Zofingia Lectures 1983.Die Zofingia-Vorträge. 1997. 9 Die Zofingia-Vorträge. 83. bewusst sind, Menschen, welche wissen, dass sie unter Menschen sind, die sich leiden müssen, da sie alle in gleicher Verdammnis sind, Menschen zu sein.“ Jungs Vorträge lösten höchst interessante Gespräche aus, deren Dimension man nur erfassen kann, wenn man die Protokolle im Sektionsarchiv heranzieht. Ein Zeuge, der spätere Präsident Gustav Steiner10, der als Pädagoge und Historiker bekannt wurde, schrieb in seinen "Erinnerungen an Carl Gustav Jung“ von einem "Gemeinschaftserlebnis geistiger Aufgeschlossenheit“ und davon, dass Jung "mit allen Kräften“ daran teilgenommen habe. "Er war eine Kraft, herausfordernd, streitbar, eine lebendige Kraft, ohne die ich mir die damalige Zofingia nicht denken kann“. Die Diskussionen hätten den Anfang bedeutet, "Verworrenes zu entwirren“, sich die Anerkennung unter Gleichgeachteten zu erfreuen und sich über sich selbst und den Nächsten klar zu werden. Steiner benutzte Jungs Ausdruck, als er schrieb, keine "Lebensschicht“ von Jung sei so zuverlässig aufgedeckt worden wie jene seiner Studienjahre. Nach diesem starken Grunderlebnis wurde aus Jung der grosse Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie11. Das "kollektive Unbewusste“ und die "Archetypen“ prägten als Schlüsselbegriffe sein Schaffen, das weit über die Landesgrenzen hinaus Beachtung fand. Gustav Steiner (1878 – 1967). Gesammelte Werke. Arbeiten von Gerhard Wehr 1988, Anthony Stevens 1993, Alfred Ribi 2002, usw. 10 11