Epilog Weiße, kahle Wände, chemische Gerüche, kaltes Metall

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Epilog
Weiße, kahle Wände, chemische Gerüche, kaltes Metall, schmale Betten mit harten
Matratzen. Kein Platz, um sich umzudrehen, aber das muss hier auch niemand. Überall
Flaschen und Beutel, Nadeln und Tabletten. Geräte, die laut piepsen, mal schneller, mal
langsamer und in Einzelfällen auch durchgehend, bis jemand kommt und das Piepsen
unterbindet. Die Hektik, die draußen auf den Fluren herrscht, umhüllt von hellgrünen und
weißen Kitteln, die ebenfalls seltsam riechen.
Sieben Stunden zuvor, zwei Ortschaften weiter, auf der Autobahn. Es ist dunkel, mitten in der
Nacht. Scheinwerfer, das leise Brummen des Motors, ruhige Musik aus dem Radio, das
fröhliche Lachen einer Frau. Der Fahrer des Wagens stimmt mit ein, freut sich über einen
gelungenen Abend mit seiner Frau und gemeinsamen Freunden. Es ist die Heimfahrt in einer
Samstagnacht im Anschluss an einen runden Geburtstag einer Freundin. Sie hat ein wenig
Alkohol getrunken, er hat wegen des Autofahrens darauf verzichtet. So war es vereinbart, er
hat sich daran gehalten.
Anders als der junge Mann, der in dieser Nacht ebenfalls mit seinem Fahrzeug die gleiche
Strecke befuhr, viel zu schnell unterwegs war und im Anschluss an seinen vorerst letzten
Überholvorgang ohne jegliche Anzeichen die Spur wechselte, ohne sich auch nur ein einziges
Mal umzusehen. Vielleicht hatte er es eilig, vielleicht aber auch nicht, das wird sich erst noch
zeigen. Selbst wenn niemand von den Beteiligten es eilig hatte in dieser Nacht, so ging doch
alles viel zu schnell. Irgendjemand muss angehalten haben. Autoteile liegen auf der Fahrbahn,
es riecht verbrannt. Jemand ruft den Notarzt und einen Krankenwagen, Helfer versuchen,
verletzte Menschen aus den Trümmern der Fahrzeuge zu ziehen, sie zu retten, in Sicherheit zu
bringen. Die Insassen sind schwer verletzt, sie sind bewusstlos, überall ist Blut, Gliedmaßen
sind verdreht, ihre Augen sind geschlossen, die Münder leicht geöffnet, als würden sie nach
Luft ringen. Die Fahrbahn wird geräumt, die Autowracks abgeschleppt. Die Verletzten
werden versorgt und ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht, werden notoperiert und
anschließend auf die Intensivstation verlegt.
David und Carolin bekommen von all dem nichts mit. Sie wissen nicht, dass der
Unfallverursacher wieder bei Bewusstsein ist und versucht, sich an etwas zu erinnern, von
dem er glaubt, es nie erlebt oder gar getan zu haben. Sie riechen nicht den Gestank nach
verbrannter Haut, sie spüren nicht den Schmerz, der ihre Körper durchflutet. Sie hören nicht
die Telefonate, in denen ihre nächsten Verwandten informiert werden und wissen nicht, wie
wenig Hoffnung auf vollständige Genesung die Ärzte ihnen geben.
Denn sie liegen im Koma. Beide, gemeinsam, umgeben von mehreren Maschinen, lediglich
getrennt durch eine Wand. Doch tief im Innern wissen sie, sie sind trotzdem zusammen. Sie
sind da, können sich gegenseitig spüren. Sie können sich sogar sehen und riechen, können
miteinander sprechen und einander zuhören. Sie sprechen nicht über das, was vor wenigen
Stunden geschehen ist. Auch nicht darüber, was möglicherweise noch geschehen wird. Sie
treffen lediglich eine Entscheidung: Sie gehen gemeinsam auf eine kleine Reise. Sie halten
sich an der Hand, sie schweben, sie fliegen, fühlen den kühlen Wind, der sanft ihre Wangen
streift und sind gespannt auf das, was sie auf dieser Reise erwartet…
1. Kapitel
Carolin sitzt an Davids Bett. Seine Augen sind noch geschlossen, sein Atem geht ruhig und
gleichmäßig. Carolin ist voller Tatendrang, sie will etwas tun, etwas erleben. Sie will sich
bewegen, etwas sehen, das Hier und Jetzt genießen, die Zeit nutzen, die ihr noch bleibt und
etwas für sie Sinnvolles und Wichtiges tun. Sie hat das Gefühl, von etwas oder jemandem
angespornt zu werden, irgendetwas da draußen zieht sie magisch an, sie möchte ihm folgen,
möchte sehen, wer oder was sie zu sich ruft. Aber sie kann nicht ohne ihn gehen. Sie will
nicht ohne ihn gehen. Sie nimmt Davids Hand, streicht ihm mit ruhigen Fingern über die
Wange und flüstert ihm leise zu: "David, wach auf! Die Sonne scheint, der Himmel ist blau,
die Vögel zwitschern und die Blätter der Bäume flattern sanft im Wind. Komm, lass uns nach
draußen gehen! Beeil dich, wir haben nicht viel Zeit!" David wirkt noch sehr müde und
verschlafen, fast schon zu erschöpft, um seine Augen zu öffnen und seine Frau anzusehen, die
mit einem freudestrahlenden Lächeln im Gesicht auf ihn hinabsieht und ihn dazu animiert,
das, was sie haben, in vollen Zügen zu genießen, anstatt den lieben langen Tag mit
geschlossenen Augen und ohne jegliche Bewegung seiner Gliedmaßen im Bett zu verbringen.
So war sie schon immer gewesen, munter und lebensfroh. Sie arbeitet als Immobilienmaklerin
und ist auch in ihrer Freizeit so oft es geht an der frischen Luft unterwegs. Sie liebt es, ihr
Gesicht einer warmen Sommerbrise entgegen zu strecken, liebte den Geruch von frisch
gemähtem Rasen oder bunten Blumen, die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Auch im
Winter hält sie sich gerne draußen auf und stapft mit ihren dicken Winterstiefeln durch den
Schnee während die klirrend kalte Luft ihre Nase rot färbt. Doch jetzt sitzt sie hier in einem
Gebäude, das sie gar nicht mag, ihr Körper liegt bewegungslos im Zimmer nebenan, ähnlich
wie Davids Körper in diesem Raum liegt, übersät mit Verletzungen, vollgepumpt mit
Medikamenten von denen niemand so genau weiß, was sie tatsächlich mit ihrem Körper
anstellen. Sie sitzt noch immer an Davids Bett, während dieser weiterhin damit kämpft, die
Augen zu öffnen und sich langsam aufzusetzen, damit er aufstehen und Carolins Vorschlag
folgen kann. Raus an die Luft, das ist eine gute Idee. Etwas sehen, die Augen nach schönen
Dingen offen halten und einfach ihre Nähe spüren. Sie hat recht, sie müssen sich beeilen und
jeden Augenblick nutzen, solange sie noch die Möglichkeit haben. Carolin erhebt sich
langsam von Davids Bett, noch immer seine Hand haltend, und zieht ihn sachte mit sich. Sie
laufen nicht, sie schweben. Nicht durch die Tür des Zimmers, denn das kann ja jeder. Nein,
sie schweben weiter, sie fliegen. Hinaus zum Fenster, das einen Spalt breit offen steht, hinaus
in die Natur, um ihren Gipsverbänden zu entfliehen und die Freiheit zu spüren. Sie drehen
sich nicht um, sie lassen ihre Körper in den kahlen, sterilen Zimmern hinter sich. Sie fliegen
höher und höher, über sämtliche Wiesen und Dächer hinweg, durch Bäume hindurch, beinahe
auf gleicher Höhe wie die Vögel und Schmetterlinge, die sie auf ihrem Weg ein kleines Stück
zu begleiten scheinen. David hat immer noch ein wenig Mühe, wach zu bleiben und hält
Carolins Hand ganz fest, damit sie ihn weiter mit sich ziehen kann, damit David nicht den
Halt verliert und unvermittelt wieder zu Boden stürzt. Er lässt sie nicht los, er will sie
begleiten, selbst wenn es ihn noch so große Mühe kostet. Auf keinen Fall lässt er sie alleine
weiterziehen, denn er weiß im Moment noch nicht genau, wohin die Reise geht und ob sie
jemals wieder zurückkehren werden. David hofft, dass ihre Wege sich nicht trennen werden
und im Moment sieht alles danach aus, als würden sie beide gemeinsam eine lange Reise
unternehmen, ohne zeitliche Einschränkung, ohne festes Ziel und doch überall hin.
Es gibt keinen bestimmten Grund für diese Reise, und wenn doch, so kennen sie ihn nicht
oder haben ihn weit von sich geschoben. Lediglich Carolin verspürt den Drang, sie hat das
Gefühl, dass sie es tun muss. Es ist eine seltsame Reise, ohne bestimmte Pläne, ohne Gepäck
und ohne feste Dauer, ohne ein Gefährt, das sie von einem Ort zum nächsten bringt. Sie haben
nur sich, und das ist mehr, als sie sich wünschen können und zugleich alles, was sie brauchen,
um diese Reise unternehmen zu können.
Was wird sie auf dieser Reise wohl erwarten? Was werden sie sehen, wo werden sie sich
aufhalten? Wem werden sie begegnen? Werden sie Gleichgesinnte treffen, die eine ähnliche
Reise unternehmen, wie sie beide? Werden sie etwas Aufregendes erleben oder einfach die
Ruhe genießen? Hat diese Exkursion einen tieferen Sinn oder ist es ein reiner Zeitvertreib?
Das alles sind Fragen, die sie sich unter normalen Umständen stellen würden, aber diesmal
interessiert es sie nicht. Es ist eine spezielle Reise, von der nur David und Carolin wissen.
Diese Reise soll ihr Geheimnis bleiben, bis an ihr Lebensende – und noch weit darüber
hinaus.
~
Fassungslosigkeit steht ihnen ins Gesicht geschrieben, Tränen füllen ihre Augen, ein leises
Schluchzen erfüllt den Raum und stört das Piepsen der Maschinen. Das Beben ihrer Schultern
stellt neben dem Schütteln ihrer Köpfe die einzige Bewegung in diesem Raum dar. Davids
Eltern stehen an seinem Bett, können nicht glauben, wen oder was sie sehen, können nicht
verstehen, dass dieser leblose und demolierte Körper ihrem Sohn gehört, der zwar hier in
diesem Raum liegt, aber doch nicht hier bei ihnen ist. Er kann sich nicht mit ihnen
unterhalten, er kann sie nicht ansehen und sie womöglich auch nicht hören oder fühlen, wie
sie sanft und ehrfürchtig ihre Hand behutsam auf seine freien Fingerspitzen legen während der
Rest des Arms bis hoch zur Schulter die schwere Last des Gipsverbands zu tragen hat. Sie
wissen nicht, was sie denken sollen, woran sie glauben dürfen oder wie viel Hoffnung sich in
ihnen breit machen darf. Sie bleiben eine Weile bei ihm, berühren ihn immer wieder, so gut es
eben geht, fragen sich ständig, warum das hat passieren müssen. An die Zukunft wollen sie
nicht denken, auch nicht an die kommenden Wochen oder Tage, noch nicht einmal an die
kommenden Stunden und Minuten, denn dazu ist ihre Angst noch viel zu groß, der Schock
noch viel zu tief, das Geschehene noch nicht ganz begriffen. Wenig später gehen sie in das
Zimmer nebenan, wo Carolins Vater bereits ebenfalls am Bett seiner Tochter sitzt, die als
solche kaum noch zu erkennen ist. Weinen kann er nicht, dazu ist es noch zu früh. Er kann es
nicht verstehen, es nicht begreifen und er weiß im Moment noch nicht, ob sein letzter Funken
Hoffnung, der letzte Strohhalm, an den er sich klammert, das Recht hat, sich in seinem Innern
breit zu machen. Er weiß nicht, ob er hoffen darf oder ob er damit nur seine Zeit
verschwendet während er versucht, an ein Wunder zu glauben. Reicht es denn nicht, dass er
bereits seine Frau verloren hat? Muss ihn seine Tochter vielleicht ebenfalls bald verlassen?
Schweigend sitzt er da, bemerkt kaum, dass weitere Personen den Raum betreten und ihre
Hände behutsam und voller Mitgefühl auf seine Schultern legen. Sie möchten gerne etwas
sagen, aber sie bringen kein Wort heraus, also schweigen sie gemeinsam und zeigen einander
durch einfache, kleine Gesten, dass sie füreinander da sind. So sitzen sie stundenlang da,
schweigend, hoffend, bangend. Wischen sich immerzu frische Tränen aus dem Gesicht, nur,
um Platz zu machen für neue. Sie wünschten, sie könnten ihren Kindern die Verletzungen und
die Schmerzen nehmen und ihnen das frohe Leben geben, das sie am Abend zuvor noch
gehabt hatten. Dabei wissen sie nicht, wie gut es ihren Kindern, die schon lange selbst
Erwachsene sind, eigentlich gerade geht. Dass sie glücklich sind, dass sie beisammen sind,
dass sie eine lange und beinahe unglaubliche Reise unternehmen und so viel mehr sehen, als
man es jemals für möglich halten könnte…
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