Schach dem Alzheimer Häufiges Schachspielen verzögert nach verschiedenen wissenschaftlichen Hinweisen den Alterungsprozess des Gehirns LEONTXO GARCÍA ÜBERSETZT AUS DEM SPANISCHEN VON DR. JAN PETER SCHMIDT Es gibt belastbare Hinweise darauf, dass häufiges Schachspielen den Alterungsprozess des Gehirns verzögert. Folglich könnte es auch nützlich sein für das Vorbeugen oder die Verzögerung von Alzheimer. Diese Entdeckung erscheint besonders wichtig vor dem Hintergrund, dass die Lebenserwartung in der gesamten entwickelten Welt kontinuierlich ansteigt und die Pflege bedürftiger älterer Menschen ein großes soziales und wirtschaftliches Problem darstellt. Wenn Vorbeugen besser als heilen ist, gibt es hier ein definitives Argument für die Einführung in breiter Linie von Schach in den Schulen. “Als erstes greift Alzheimer das Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit an” las ich vor etwa drei Jahren in verschiedenen Artikeln und Interviews. Und ich sagte mir: Wenn dies die beiden Fähigkeiten sind, die durch das Schach mit am meisten gefördert werden, gibt es hier ein sehr interessantes Thema für eine wissenschaftliche Untersuchung. Zudem erschienen damals bereits erste Studien über die umgekehrte Proportionalität zwischen geistiger Aktivität und dem Risiko, an Demenz zu erkranken (eine der überzeugendsten, von Wilson und anderen, wurde am 28. Mai 2008 in der Zeitschrift Neurology veröffentlicht). Mein erster Fund motivierte mich sogleich sehr stark, die Arbeit fortzusetzen: Es war die Studie, die Verghese und andere mit 469 Personen, die älter als 75 Jahre waren, im Albert Einstein Krankenhaus in New York durchführten und die am 19. Juni 2003 im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde. Ihre Verfasser hatten im Vorfeld nicht in besonderer Weise an das Schach gedacht, aber als sie die Daten analysierten, fanden sie etwas sehr Signifikantes: Diejenigen, die ihre geistigen Fähigkeiten während der Dauer des Experiments am meisten entwickelt und das Risiko einer Alzheimererkrankung um bis zu 75% reduziert hatten, waren die Personen, die Schach oder Bridge gespielt hatten, ebenso diejenigen, die häufig getanzt hatten (Tanzen erfordert eine gute Koordination zwischen dem Kopf und dem restlichen Körper). Dahinter, mit schlechteren Ergebnissen vom Standpunkt des geistigen Verfalls aus betrachtet, waren diejenigen, die (in dieser Reihenfolge) ein Musikinstrument spielten, Kreuzworträtsel lösten, lasen, spazieren gingen, schwammen, sich um Kinder kümmerten oder den Haushalt kümmerten, schrieben, Mannschaftssport betrieben, an Gruppendiskussionen teilnahmen, Treppen stiegen oder Fahrrad fuhren. Doch sollten noch Zweifel geblieben sein: Gerade heute veröffentlichte die Washington Post unter dem Titel “Die geistigen Spiele können über Alzheimer triumphieren. Eine Studie nennt die Folgen von Bridge und Schach” eine Reportage, die sich auf die Aussagen des genannten Mediziners Verghese und anderen Spezialisten stützt. Und Verghese äußerte sich sehr klar: “Der Tag ist nicht fern, an dem uns der Arzt neben Sport und gesunder Ernährung täglich eine Partie Schach und ein Kreuzworträtsel empfiehlt.” Noch aussagekräftiger war eine 2008 im Klinikum von Valencia (Spanien) durchgeführte Studie, die von der Regionalregierung finanziert worden war. Wegen unglücklicher Umstände (oder genauer gesagt, wegen der Erbärmlichkeit der spanischen Politik und der anderer Länder), lässt sich in diesem Fall leider keine wissenschaftliche Zeitschrift zitieren, weil die Studie noch nicht veröffentlicht wurde. Allerdings teilte mir die Neuropsychologin Isabel de la Fuente, die an der Durchführung der Studie beteiligt war, die höchst interessanten Daten mit: Es nahmen 120 Personen teil, deren Alter zwischen 55 und 87 Jahren lag, wobei allerdings 75% von ihnen zwischen 65 und 79 Jahren alt waren. Es erfolgte eine Aufteilung in zwei Gruppen zu je 60 Personen, von denen fast alle schachliche Anfänger waren. Eine Gruppe erhielt während eines Jahres eineinhalb Stunden Schachunterricht pro Woche; die zweite Gruppe nahm an anderen Kursen teil, zu denen aber nicht das Schach gehörte. Die Teilnehmer beider Gruppen legten vorher, währenddessen und nachher psychotechnische Prüfungen ab. In der Gruppe der neuen Schachspieler verzeichneten 65% eine Steigerung ihrer kognitiven Fähigkeiten; in der anderen Gruppe gab es hingegen in keinem einzigen Fall eine Verbesserung! Und zwei wichtige Details sind zu beachten: 1) Diejenigen, die vor der Prüfung die größten Fähigkeiten zum räumlichen Denken aufwiesen, waren genau diejenigen, die sich am wenigsten verbesserten; 2) Das Normale ist, dass die kognitiven Fähigkeiten im Alter mit jedem Jahr abnehmen, in diesem Fall aber stiegen sie. In fast jeder der vielen Vorträge, die ich während der letzten drei Jahre gehalten habe, sowie in einigen Presseartikeln habe ich dem Publikum dieselbe Frage gestellt: Kennt von meinen Zuhörern oder Lesern jemanden, der regemäßig Schach gespielt hat und an Alzheimer oder Demenz gestorben ist? Mehr als eine Million Personen haben diese Frage gelesen oder gehört, und nur zehn haben sie positiv beantwortet. Ich weiß natürlich, dass meine Umfrage nicht wissenschaftlichen Anforderungen genügt, doch die Differenz zwischen diesen zehn Personen auf der einen Seite und den 6% der französischen Bevölkerung, die älter als 65 Jahre ist (oder 7% der spanischen Bevölkerung), auf der anderen Seite ist so gewaltig, dass sie kein Zufall sein kann Und es kommt noch etwas hinzu: Einer dieser zehn Fälle, über den am 25. Februar 2005 in Neurocase berichtet wurde, ist ein Beweis zugunsten des Schachs, und nicht dagegen. Ein passionierter britischer Schachspieler zeigte kleinere Gedächtnisverluste während zweier Jahre, und sein Problem wurde daher als “leichte kognitive Verschlechterung” diagnostiziert. Er behielt ein normales und selbständiges Leben bei, auch wenn er Schwierigkeiten hatte, einem Gespräch zu folgen, er manchmal innerhalb kurzer Zeit dieselben Aussagen wiederholte und beim Schach die Fähigkeiten zur Variantenberechnung verloren hatte. Nach sieben Monaten starb er unerwartet wegen einer Krankheit, die mit der vorangegangenen nichts zu tun hatte, und die Autopsie fördere ein erstaunliches Ergebnis zutage: Die zahlreichen Amyloid-Plaques in seinem Gehirn wiesen darauf hin, dass er in Wahrheit an Alzheimer in einem sehr fortgeschrittenen Stadium gelitten hatte. Die Hypothese ist klar: Vielleicht kann Schach Alzheimer nicht vermeiden, aber doch wenigstens über Jahre verzögern. Ich habe alle vorgenannten Daten mit etwa 250 Neurologen diskutiert. Die letzte Erfahrung dieser Art, die mich in meinem Vorhaben endgültig bestätigte, war der Vortrag, den ich am vergangenen 3. Februar auf einem Kongress mit 200 Neurologen in Cádiz hielt. Zwei seiner Veranstalter, Santiago Cousido und Pablo Martínez Lage, machten jeweils interessante Vorschläge: 1) Die Schachspieler sollten ihr Gehirn der Wissenschaft spenden, damit die Autopsie eine definitive Klärung der positiven Wirkung des Schachs für den Alterungsprozess des Gehirns erbringen kann. 2) Sie sollten an Studien teilnehmen wie derjenigen, die gerade an der “CITA Alzheimer Stiftung” in San Sebastián durchgeführt wird, deren freiwillige Probanden sich in regelmäßigen Abständen einer Lumbalpunktion unterziehen (dank moderner Technik und örtlicher Betäubung ist eine solche viel weniger schmerzhaft als man es aus Filmen kennt), um den Amyloid-Pegel ihres Gehirns zu messen. Vor einigen Jahre lud mich der renommierte Mediziner José Félix Martí Massó, Chef der Neurologie des Donostia Krankenhauses in San Sebastian, zu einem Treffen mit allen seinen Mitarbeitern ein (etwa 30 Ärzte, darunter Neurologen, Psychologen, Psychiater, Epidemiologen etc.). Ich legte alle meine Argumente dar, einschließlich der wissenschaftlichen Details, und stellte mich anschließend den auf mich einprasselnden Fragen. Das Ergebnis war sehr positiv, wie ich sogleich erläutern werde, aber zu Beginn gab es eine klare Warnung: “Die Erbringung eines unwiderlegbaren wissenschaftlichen Beweises, dass Schach Alzheimer vorbeugt, würde nicht nur viel Zeit und Geld kosten (es bedürfte z.B. 5.000 Freiwilliger für einen Zeitraum von fünf Jahren), sondern wäre auch vom methodischen Standpunkt aus sehr problematisch. Dies liegt vor allem an der sogenannten ‘Verzerrung durch Selbstauswahl’, d.h. Personen mit einer natürlichen Neigung zu geistigen Spielen würden sich freiwillig zum Schachspielen melden, während diejenigen, die keinen Spaß an geistiger Übung haben, davon absehen würden, was das Ergebnis verfälschen würde”. Martí Massó wies mich dann aber auf etwas sehr Positives und viel Wichtigeres hin: “Du hast belastbare Indizien gesammelt, die darauf hindeuten, dass häufiges Schachspielen den Alterungsprozess des Gehirns verlangsamt. Dies hat gewaltige Bedeutung, denn die Lebenserwartung steigt in fast allen Ländern unaufhörlich an, und die Regierungen investieren schon jetzt enorme Summen in die Pflege älterer Menschen, die nicht mehr allein zurecht kommen und auf andere angewiesen sind. Je besser die körperliche und geistige Gesundheit der älteren Bevölkerung ist, desto weniger Steuergeld muss für sie ausgegeben werden”. Wenn vorbeugen besser und billiger als heilen ist, heißt dies also, dass wir hier ein mächtiges Argument haben, das Schach auf breiter Front in allen Schulen der Welt einzuführen, zusätzlich zur Förderung des Schachs für Bürger aller Altersklassen. Martí Massó selbst schlug den Wahlspruch für diese Kampagne vor: “Schach ist die beste Gymnastik für den Geist. Genau so wie wir durch häufigen Besuch im Fitnessstudio unsere Muskulatur stärken und vielen Krankheiten vorbeugen, stärken wir die Synapsen, also die Verbindungen zwischen den Neuronen, durch mentale Gymnastik, und können so nicht nur Alzheimer vorbeugen, dem Schlimmsten, was wir in dieser Hinsicht erleiden können, sondern auch vielen anderen geistigen Problemen.” Man könnte dagegen vorbringen, und nicht ohne Grund, dass Schach weder das universale Allheilmittel noch die Beseitigung allen Übels ist; wie wir bereits gesehen haben, gibt es andere geistige Aktivitäten, die auch sehr nützlich, um den Alterungsprozess des Gehirns zu bremsen. Das Schach kann jedoch noch weitere Vorteile für sich geltend machen. Zunächst ist es ein Spiel, dessen Grundregeln in wenigen Stunden erlernt werden können. Nehmen wir an, die spanische Regierung würde das Erlernen der japanischen Sprache fördern, deren enorme Schwierigkeit zur Stimulierung der Geisteskräfte wahrscheinlich sehr geeignet wäre. Es ist fast sicher, dass diese Kampagne zum Scheitern verurteilt wäre, weil nur weniger Spanier Japanisch studieren wollten. Eine Kampagne hingegen, die Millionen spanischer Kinder an die Schachbretter bringen möchte, hätte demgegenüber viel größere Chancen auf Erfolg. Hier sind zehn Gründe für die Förderung des Schach: 1) Es hilft in jeder Altersstufe bei der Entwicklung der Intelligenz, vor allem bei Kindern; 2) Es verzögert den kognitiven Verfall; 3) Sein Einsatz hat sich für in verschiedenen sozialen Umfeldern als sehr nützlich erwiesen (in Gefängnissen, für Drogenabhängige, für hochbegabte, hyperaktive oder autistische Kinder etc.); 4) Es ist der einzige Sport, der über das Internet praktiziert werden kann; 5) Es ist universell (es kennt keine Altersunterschiede, und es gibt 170 Ländern, die der FIDE angehören); 6) Es ist billig; 7) Es gibt seinem Sponsor ein positives, mit Intelligenz verbundenes Image; 8) Es besitzt eine dokumentierte Geschichte von mindestens 15 Jahrhunderten; 9) Es besitzt interessante Verbindungen mit Kunst und Wissenschaft; 10) Es bringt faszinierende Persönlichkeiten hervor Ich möchte mit einer persönlichen Er-fahrung abschließen, die mir sehr aussagekräftig erscheint. Wenn ich bei Turnieren als Kommentator auftrete (wie etwa beim Grand Slam Finale in Bilbao), pflege ich nicht nur über die Partien zu sprechen, sondern gehe auch auf andere mit dem Schach verbundene Aspekte. Und sehr häufig sehe ich, dass viele meiner Zuhörer vom Schach gar nichts verstehen, sich aber z.B. für das Thema dieses Artikels sehr interessieren. Ein Grund neben anderen ist, dass vielen älteren Menschen die steigende Zahl an Alzheimererkrankungen Furcht einflößt. Die größte Schwäche des Schachs war bislang sein Marketing: Wir haben ein großartiges Produkt, das wir bislang sehr schlecht verkauft haben. Wir hatten allerdings niemals so mächtige Argumente wie jetzt. Es liegt an uns. ENDE