1 Demokratie am Scheideweg Der Klimawandel schreitet ungehemmt voran, die meisten Staaten setzen auch nach Fukushima auf Atomenergie, die Armut wächst trotz steigendem BIP. All das sind Indizien dafür, dass wir es inzwischen als selbstverständlich betrachten, unsere Probleme auf dem Rücken der Zukunft auszutragen und damit deren Existenz zu gefährden. Die Arzneien gegen die benannten Krankheiten predigen verständige Menschen nun schon seit Jahrzehnten, aber verbindliche Abkommen über die Begrenzung des Klimawandels scheitern, das Bevölkerungswachstum läuft unkontrolliert voran usw. Daraus entwickelt sich die Einsicht, dass es mit Therapievorschlägen dieser Art nicht getan ist. Es gibt Gründe, warum solche Vorschläge nicht greifen können und diese liegen im Verhältnis von Arzt zu Patient. Die Ärzte in unseren politischen Systemen sind die Politiker in Regierungsämtern und diese können dem „Patient Bürger“ nicht verordnen, was ihm Angst oder kurzfristige Beschwerden bereitet, denn der Patient kann die Ärzte mit Abwahl bestrafen. Unsere bislang so erfolgreichen demokratischen Strukturen selbst müssen Gegenstand der Diagnose und Therapie werden, wenn der Patient Menschheit gerettet werden soll. Die Anreize für Politiker im demokratischen System lauten: Machterhalt und Wiederwahl. Und beides ist mit verantwortlicher Zukunftspolitik nicht zu erreichen. Politiker werden sich im Regelfall gemäß den Anreizen verhalten, denn sie haben auch ihre Eigeninteressen im Auge. Diese Misere setzt sich auf Ebene der Wähler fort: Diese versuchen meist ihre eigenen kurzzeitigen Interessen (weniger Steuern, weniger Vorschriften, weniger Arbeitslose) durchzusetzen und damit können sie der Zukunft nachhaltig schaden. Sind Opfer für die Zukunft nicht mehrheitsfähig, da nur Maßnahmen mehrheitsfähig sind, die mehr Rechte oder Güter für die heutigen Wähler bringen? Das Wohl der Zukunft erhält in unserem System keine Stimme, ihm fehlt die Lobby. Sind unsere derzeitigen demokratischen Strukturen also nicht fähig, Zukunftsverantwortung zu ermöglichen? Sind sie im System auszutarierender Teilinteressen gefangen, sind sie zu kurzfristig, zu populistisch ausgerichtet? Wie ist von diesem System die Durchsetzung großer Einschnitte zu erwarten, die es braucht, damit die Menschheit überleben kann? Eine vernünftige Rechtschreibreform zu entwickeln, überfordert uns ja schon. Haben wir also eine Systemkrise? Worin besteht sie genau? Diese Fragen bilden den ersten Themenschwerpunkt dieses Sammelbands, den wir „Diagnose“ taufen. Einen möglichen Lösungsansatz für diese Probleme bieten Modelle für die Reform demokratischer Institutionen. Zwei davon sollen kurz vorgestellt werden: 1) Seit Jahren werden „Zukunftsräte“ diskutiert. Gemeint sind dritte Kammern im parlamentarischen System. Deren Mitglieder sollen unabhängig von den herrschenden 2 Parteien nominiert und dann z.B. für lange Perioden demokratisch gewählt werden. Sie sollen das Recht haben, Gesetzesinitiativen zu starten, Informationen zu sammeln und die Öffentlichkeit zu informieren. Ihre Befugnisse sollen in einem Vetorecht bei Gesetzen, welche die Nachhaltigkeit betreffen, gipfeln. Das macht die Idee herausfordernd, denn es wären Verfassungsänderungen nötig und das etablierte System müsste z.B. durch öffentlichen Druck „gezwungen“ werden, reale Macht abzugeben. Das erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit nicht. 2) Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Interessen der Zukunft im politischen System der Gegenwart durch Anwälte zukünftiger Interessen (Ombudspersonen) repräsentieren zu lassen. Die angedachten Befugnisse dieser Personen variieren, primär müsste es sich um Politikberater/Politikberaterinnen handeln, deren Kompetenzen im Prinzip denen der Zukunftsräte entsprächen würden, wenngleich ein Vetorecht nicht notwendig zur Konzeption von Zukunftsanwälten/Zukunftsanwältinnen hinzugehört. De facto gibt bzw. gab es solche Ombudspersonen in einigen Ländern wie Israel und Ungarn. In Ungarn und Israel waren diese Personen de facto mit einem Vetorecht ausgestattet. Allen Ombudspersonen ist gemeinsam, dass sie nicht jenseits der Parteienpolitik ins Amt gelangen, sondern von den herrschenden Mehrheiten beauftragt werden. Das macht die Institution durchsetzbarer, aber auch anfälliger dafür, dass die Interessen der Zukunft den Machtkalkülen der Gegenwart untergeordnet werden. Zudem besteht die Gefahr, dass lediglich ein weiteres Beratungsgremium ohne Macht geschaffen wird, wenn nicht von vornherein auf reale Machtmitteln wie ein Vetorecht bestanden wird. Bieten diese Ideen die Lösung unserer Systemkrise? Wo liegen ihre Stärken und Schwächen? Wie kann man ihre Einführung fördern? Gibt es bessere Modelle als diese beiden? Die Fragen bilden den zweiten zentralen Themenkomplex des Bandes, den wir „Therapie“ nennen. Wir erhoffen uns von diesem Band nicht nur neue Erkenntnisse über die beiden Themenschwerpunkte. Das darüber hinausgehende Ziel ist ein Doppeltes: 1) Bislang zu wenig behandelte wichtige Fragen durch prominente Mitglieder der Gesellschaft diskutieren zu lassen, um eine breite öffentliche Debatte anzustoßen. Eine erste Welle dieser Debatte fand in den 80ern und 90ern statt und verpuffte wirkungslos. Das kann sich die Menschheit nicht weiter leisten. Das Thema muss auf die Agenda der Medien, in die Köpfe und Herzen der Menschen und in die Realpolitik, das scheint uns alternativlos. 2) Diese Fragen von Autoren mit sehr unterschiedlichen Hintergründen beleuchten zu lassen, so dass ein Diskurs der ganzen Gesellschaft abgebildet wird, um die Debatte halbwegs repräsentativ anzulegen. So werden für möglichst viele Leser verschiedene Standpunkte 3 präsentiert, mit denen sie sich identifizieren können. Daher haben wir Stimmen von Naturwissenschaftlern, Schriftstellern, Politikwissenschaftlern, Unternehmern, Politikern, Philosophen, Richtern und von Bürgern „auf der Straße“ zu Wort kommen lassen.