Nationale Regierungen im Gefangenendilemma und eine spieltheoretische Lösung mit politischen Hindernissen Bei der Ausgestaltung ihrer Steuer- und Sozialpolitik befinden sich Nationalstaaten in einem Dilemma. Ruinöser Steuerwettbewerb und Sozialabbau sind die Folge. Die Spieltheorie zeigt auf, dass die EU prädestiniert wäre, diese Probleme zu lösen. Einige Politiker bzw. politische Parteien legen sich quer. Warum tun sie das und verweigern eine rationale Lösung des Dilemmas. Das Gefangenendilemma gilt zu Recht als das berühmteste Gleichnis der Spieltheorie. Zwei mutmaßliche Einbrecher werden gefangen und getrennt voneinander verhört. Da man ihnen ihre Verbrechen nicht mit Sicherheit und nicht vollständig nachweisen kann, bietet der zuständige Staatsanwalt einen Deal an: Gesteht einer der beiden Angeklagten und belastet den anderen, so kann jener die Kronzeugenregelung in Anspruch nehmen und ist nach Anrechnung der Untersuchungshaft ein freier Mann. Verstockte und nicht geständige Verbrecher hingegen müssen mit der vollen Härte des Gesetzes rechnen und bekommen zehn Jahre. Sind beide geständig, so können mildernde Umstände geltend gemacht werden und das Strafausmaß würde sich auf acht Jahre verringern. Halten beide Angeklagte dicht und leugnen standhaft, so wird es für den Staatsanwalt schwer, ihnen alle Einbrüche nachzuweisen, und er kann in diesem Fall auf nur zwei Jahre Haft plädieren. Für die beiden Angeklagten ist die Entscheidung klar: Gestehen ist, egal, was der jeweils andere tut, die vorteilhafteste Strategie. Beide gestehen daher und müssen acht Jahre hinter Gittern verbringen. Hätten sie aber beide geleugnet, so wären sie mit nur zwei Jahren davongekommen. Die Analyse von Gefangenendilemmata geht auf die Spieltheoretischen Arbeiten des Mathematikers John Nash zurück. Er hat dafür gemeinsam mit Reinhard Selten und John Harsanyi den Nobelpreis 1994 bekommen. Was ist so großartig an diesem Gefangenendilemma, dass es den Nobelpreis verdient hat? Das illustriert eine Sequenz aus dem Kinofilm „A beautiful mind“ in welcher der Doktorvater von John Nash ungefähr folgendes sagt. „Wenn das stimmt was sie in ihrer 32 seitigen Dissertation behaupten – und ich kann es nicht überprüfen, weil mir selbst die mathematischen Fähigkeiten dazu fehlen – dann setzen sie ein 200-Jahre gültiges Gesetz der Wirtschaftstheorie außer Kraft.“ Es ist die unsichtbare Hand von Adam Smith bzw. der erste Hauptsatz der Wohlfahrtsökonomik der modernen mathematischen Wirtschaftswissenschaften. Dieser besagt, dass rationales, egoistisches Verhalten des Einzelnen zu einer kollektiv, gesamtgesellschaftlich optimalen Lösung führt. Das Gefangenendilemma zeigt auf, dass das nicht so sein muss. Das Dilemma besteht darin, dass die individuell rationale Entscheidung zu einem sozial (für beide Gefangene) unerwünschten Ergebnis führt. Hätten die beiden Gefangenen kooperiert – d.h. dicht gehalten – dann wären sie mit nur zwei Jahre davongekommen. Da sie sich aber individuell rational verhalten und daher – entsprechend ihrer dominanten Strategie – leugnen müssen sie für acht Jahre einsitzen. In solch einem Dilemma befinden sich auch Regierungen. Für den einzelnen Finanzminister mag es attraktiv erscheinen, Vorreiter im Steuerwettbewerb zu sein, die Körperschaftsteuer oder die Vermögensbesteuerung zu reduzieren und durch attraktive Steuerregelungen wie Privatstiftungen oder Schachtelbegünstigungen Unternehmen und Vermögende anzulocken. Durch eine derartige Erhöhung der Steuerbasis kann sogar das eigene Steueraufkommen zulasten der Staaten, die im Steuerwettbewerb nachhinken, gesteigert werden. Seine Rechnung geht aber nur dann auf, wenn die Finanzminister der anderen Staaten davor zurückschrecken, sich am Steuerwettbewerb zu beteiligen. Rationale Finanzminister aber müssen beim Steuerwettbewerb mit dabei sein – wenn es geht, ganz vorne. Und weil das eben alle tun, gibt es für keinen einen Wettbewerbsvorteil und unser Finanzminister kann nur noch resignieren oder aber weiter an der Steuerdumping-Schraube drehen. Als Österreich im Jahr 2005 den Körperschaftsteuersatz um neun Prozentpunkte gesenkt hat, um Standortvorteile gegenüber den neuen EU-Mitgliedstaaten Ungarn, Tschechien und Slowakei zu verteidigen, brüstete sich der damalige Finanzminister K.-H. Grasser mit den Worten: „Österreich macht vor, wie es geht.“ Auf die Frage, was er vom Steuerwettbewerb hielte, antwortete derselbe: „Ich liebe Wettbewerb.“ Da K.-H. Grasser ja vor kurzem zugegeben hat, dass er von Steuern nichts verstehe – gilt auch für diesen Sager die Unschuldsvermutung. Nun gibt es einige Stimmen – auch unter Wirtschaftswissenschaftern – die dem Steuerwettbewerb – the race to the bottom – auch eine gute Seite abgewinnen können: das Gefangenendilemma zwingt die Nationalstaaten die Steuerquote zu reduzieren und hält die Finanzminister ab den Bürgern noch mehr Steuergeld herauszupressen. Dabei wird aber vergessen, dass das Gefangenendilemma auch eine Strukturwirkung hat: Die Unternehmenssteuern sowie die Vermögenssteuern sinken – aber dafür steigen die anderen Steuern wie z.B. die Lohn- und Einkommenssteuern. Dieser Struktureffekt ist in allen OECDStaaten seit Jahren deutlich sichtbar. Die Steuerlast wird vermehrt den Konsumenten und dem Faktor Arbeit aufgehalst – die Unternehmen und die Vermögenden hingegen werden entlastet. Darüber hinaus zeigt sich auch, dass die Länder mit günstiger Unternehmensbesteuerung nicht notwendigerweise ausländische Investoren und Betriebsstätten ins Land bringen und damit Arbeitsplätze schaffen sondern ausländische Headquaters anlocken bzw. einen Anreiz bieten erzielte Gewinne bilanztechnisch dorthin zu verschieben wo die Steuern gering sind. Aber nicht nur die Finanzminister befinden sich in einem Gefangenendilemma. Ähnlich geht es auch jenen Ministern, die für Beschäftigung und Soziales zuständig sind. Durch „Flexibilisierung der Arbeitswelt“, wie z.B. freiwilligem Zeitausgleich statt bezahlten Überstunden, das heißt durch Abbau von Sozialstandards und Reduktion der Lohnkosten, soll die Wirtschaft „entfesselt“ werden. Das macht uns wettbewerbsfähig, stärkt den Standort und bringt viele neue Arbeitsplätze. „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s uns allen gut.“ Auch diese Rechnung geht nur dann auf, wenn das Sozialdumping in den anderen Ländern nicht mitgemacht wird. Senken die anderen Länder ebenfalls die Sozialstandards und reduzieren die Lohnkosten, so werden die auf dem Rücken der Werktätigen erkämpften Standortvorteile wieder wegkonkurrenziert und unser Sozialminister müsste über weitere „Flexibilisierungen“ nachdenken. Aber Gott sei Dank hat die Spieltheorie eine Lösung für solche Gefangenendilemmata parat. Eine „übergeordnete Institution“, welche Regeln erlässt und eine Nichtbefolgung derselben auch sanktionieren kann, soll verhindern, dass sich die Akteure zwar individuell rational, aber kollektiv falsch verhalten. Im Falle unserer eingangs erwähnten Einbrecher wäre das die Mafia. Die sorgt mit der bewährten Betonpatscherlmethode dafür, dass Kronzeugen zwar nicht ins Gefängnis, aber in die Leichenhalle kommen. Um dem Gefangenendilemma bei Staaten beizukommen würden sich internationale Organisationen anbieten. Tatsächlich sind die Probleme die durch den Steuerwettbewerb verursacht werden weder unbekannt noch neu und werden auch von internationalen Organisationen als schädlich wahrgenommen. Die OECD hat eine eigene Arbeitsgruppe betraut und schlägt eine Unitary Taxation nach dem Vorbild der USA vor. Diese unitary taxation könnte zwar die willkürliche Gewinnverschiebung in Steuerparadiese eindämmen – ist aber kaum in der Lage den Steuerwettbewerb zu verhindern. Darüber hinaus kann die OECD nur Vorschläge machen – aber keine verbindlichen Richtlinien erlassen geschweige denn Verstöße sanktionieren. Da ist die Europäische Union schon potenter. Ihre genuine Aufgabe ist es, den fairen Wettbewerb zwischen Wirtschaftsunternehmen, welche in unterschiedlichen europäischen Nationalstaaten operieren, zu gewährleisten. Eine EU-weite koordinierte Fiskal-, Sozial- und Steuerpolitik würde für alle Unternehmen in Europa die gleichen Bedingungen schaffen und so dem „race to the bottom“ Einhalt gebieten. Die gemeinsame europäische Geldpolitik haben wir ja bereits erreicht. Auf eine gemeinsame Fiskal- und Steuerpolitik müssen wir vermutlich noch sehr lange warten – da fehlt der politische Wille. Das einzige wozu sich die EU bislang durchgerungen hat – ist ein brustschwacher und unverbindlicher Verhaltenskodex zur Steuergesetzgebung. Auch die gemeinsame Sozialpolitik ist noch eher rudimentär. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten gibt es in Deutschland (wie auch in Österreich) keinen Mindestlohn. Es ist daher erlaubt, dass osteuropäische Arbeiter in deutschen Schlachthöfen 60 Stunden in der Woche für einen Hungerlohn schuften. Dies bringt den deutschen Schlachtern Kostenund Wettbewerbsvorteile. Die belgischen oder französischen Schlachter können sich zwar wütend bei der EU-Kommission über diese unfaire Wettbewerbssituation beschweren. Die Beschwerde wird aber wenig Wirkung zeigen, denn die Kommission hat kaum Sanktionsmöglichkeiten. Um einen fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen in unterschiedlichen Staaten Europas sicherzustellen, sollte die europäische Sozialpolitik daher dringend vertieft und zentral koordiniert werden. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Es wird sogar heftig zurückgerudert. Eine konservativliberale Phalanx unter der Federführung der CDU und der britischen Tories, welcher sich auch die rechtsliberale VVD Hollands und nun auch unsere ÖVP angeschlossen haben, beruft sich auf das Subsidiaritätsprinzip und fordert, dass „gewisse“ Kompetenzen von der EU wieder an die Nationalstaaten übertragen werden sollten. In diesem Zusammenhang meldete sich auch der damalige Staatssekretär für Europafragen, Reinhold Lopatka, zu Wort. Er meint (Die Presse, 20.8.2013), dass im Bereich der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die europäische Zusammenarbeit einfach keinen Sinn mache, weil es aufgrund unterschiedlicher Einkommensniveaus in den Mitgliedstaaten schwierig sei, gemeinsame Standards zu setzen. Dem kann man nur zurufen: Werfen Sie nicht so vorschnell das Handtuch, Herr Staatssekretär, diese konstatierten Schwierigkeiten sollten sich doch mit ein bisschen gutem Willen aus dem Wege räumen lassen. Supranationale Untergrenzen für Sozialstandards oder national ausdifferenzierte Mindestlöhne, die sich an nationalen Medianeinkommen orientieren, wären da praktikable Möglichkeiten. Auch ist nicht einzusehen, warum unterschiedliche Einkommensniveaus in den einzelnen Ländern Europas so unüberwindliche Schwierigkeiten für die Definition einer gemeinsamen Obergrenze für die Normalarbeitszeit aller Europäer verursachen würden. Reinhold Lopatka und Angela Merkel haben jedoch durchaus Recht, wenn sie einen Konvent verlangen. Auf dem soll dann diskutiert und streng überprüft werden, ob das in Artikel 5 des Vertrages über die EU enthaltene Prinzip der Subsidiarität auch tatsächlich eingehalten wird. Dieses Prinzip besagt, dass die EU dann tätig werden soll, wenn sie – die EU – die vertraglichen Ziele besser und effizienter erreichen kann, als dies die einzelnen Mitgliedstaaten tun könnten. Spieltheoretische Überlegungen zeigen jedenfalls, dass die EU für die Bekämpfung von Steuerwettbewerb und Sozialdumping und damit für die Gewährleistung des fairen Wettbewerbs prädestiniert ist und Nationalstaaten dabei versagen müssen. Aber vielleicht wollen ja liberal-konservative Parteien bzw. deren Klientel keine vernünftige europäisch koordinierte Sozial- und Fiskalpolitik – vielleicht ist die Konsequenz der Nationalisierung derselben, der Wettbewerb um die kostengünstigsten Standorte, das daraus resultierende Sozialdumping und ein für die Budgets ruinöser Steuerwettbewerb, ja durchaus erwünscht.