Frasch_Bürger aller Länder

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Seitenüberschrift: Zeitgeschehen
Ressort: Politik Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.05.2010, Nr. 103, S. 8
Bürger aller Länder, ertüchtigt euch!
Neue Diplomstudiengänge an der Karlsruher Staatlichen Hochschule für Gestaltung / Von Timo
Frasch
Der Oberbürgermeister von Pforzheim hat zuletzt in seiner Apologie des kommunalen
Doppelhaushalts 2010/11 die Bürger seiner Stadt aufgerufen, ihren Teil beizutragen, damit die völlig
marode Kommune wieder auf die Beine komme. Die Zeiten, in denen der Staat oder eine Stadt alle
Aufgaben bewältigen könne, seien vorbei, "vollständig und unwiederbringlich". Pforzheim brauche
also engagierte Bürger - diese "wahren Helden unserer Gesellschaft".
Als ein paar Tage später unweit von Pforzheim, an der Karlsruher Staatlichen Hochschule für
Gestaltung (HfG), neue Diplomstudiengänge eröffnet wurden - Bürger-, Patienten-, Rezipienten-,
Gläubiger- und Konsumentenkunde -, erwähnte deren Inspirator Bazon Brock die Pforzheimer
Bürgermeisterrede: um die Sinn- und Ernsthaftigkeit seines Studienprojekts zu unterstreichen. Auch
der Ästhetikprofessor ist nämlich der Ansicht, dass Errettung nur aus der Gesellschaft selbst, also von
den Bürgern, kommen könne. Wen er zu diesem Kreis in besonderer Weise zählt? Alle, die wohl auch
der FDP-Vorsitzende Westerwelle zähneknirschend als "Leistungsträger" gelten lassen würde:
Krankenschwestern, Elektriker, Hausmeister, Polizisten, Feuerwehrleute. Nach Brock sind das
diejenigen, die dafür Sorge tragen, dass im besten Sinne des Wortes nichts passiert: kein Unfall, kein
Anfall, kein Ausfall. Auf all die Aktionisten - Politiker, Manager, Künstler - könne die Gesellschaft im
Zweifel verzichten; nicht aber auf das Krankenhauspersonal oder auf die Müllabfuhr. Nur habe eben
noch keiner anerkannt, dass in einer Zeit, in der sich jeder zweite Einwohner Berlins für einen
Schriftsteller oder Schauspieler hält und in der ein bisschen Sprengstoff ausreicht, um das
größtmögliche Ereignis zu bewerkstelligen, gerade das Nichtereignis der Reibungslosigkeit und des
Friedens am allerschwersten herbeizuführen ist. Souverän, so Brock, müsste also nicht sein, wer über
den Ausnahme-, sondern wer über den Normalfall entscheidet.
So weit, so schön. Das Problem ist nur: Die Epoche der bürgerlichen Ereignisabwehr ist längst vorbei,
und eigentlich ist darüber auch kein Wort mehr zu verlieren. Wo früher einmal Bürger gewesen sein
mögen, sind heute Jobber, Untote und Apathiker, die ständig machen und tun und ansonsten
gänzlich ungerührt noch über die größten Ungeheuerlichkeiten hinwegvegetieren. Das absolute
Spezialistentum der modernen Gesellschaft habe zum größtmöglichen Dilettantismus all ihrer
Mitglieder in fast allen Bereichen geführt. Nach Brock: Jeder weiß nichts, kann nichts, hat nichts,
zuvorderst derjenige, der, wie etwa die Politiker im Wahlkampf, behauptet, er wisse, könne, habe
etwas oder gar alles. Trotz dieses erschütternden Befunds glaubt Brock aber an die Erziehbarkeit des
Menschen - genauso wie sein Karlsruher Mitstreiter Peter Sloterdijk, der in der allerersten Vorlesung
des Studiengangs Diplombürgerkunde die anthropologischen Pessimisten dieser Welt der sozialen
Phantasielosigkeit und Menschenfeindlichkeit zieh. Wie Brock votiert auch Sloterdijk für eine
bürgerliche "Reeducation" und "Reanimierung", die nun von den neuen HfG-Studiengängen geleistet
werden soll. In vier Semestern mit zwei Vorlesungsstunden in der Woche sollen die Bürger Karlsruhes
(und auch alle anderen) in ihren unterschiedlichen Rollen professionalisiert, das heißt: wieder zum
Bürgersein ermächtigt werden, um so den Eliten auf Augenhöhe begegnen zu können. Wie sagte
doch Brock bei der Vorstellung der Studiengänge, die naturgemäß vom entmündigenden Staat nicht
anerkannt werden können: Wenn ein Patient die Syphilis hat und es bei ihm schon "tropft", wisse er
besser über die Krankheit Bescheid als sein Arzt, der zum nämlichen Thema allenfalls zwei Stunden in
irgendeiner Vorlesung gehört hat (ohne, wie möglicherweise der Patient, vorher im Internet
recherchiert zu haben). Ähnliches mag auch für das Verhältnis von Politiker und Bürger oder von
Priester und Kirchgänger gelten.
Was aber heißt bürgerlich? In einer "entfesselten Aktivitätskultur" ist dafür nach Sloterdijk die
"Passivitätskompetenz" das entscheidende Kriterium. Als Konsument müsse man sich etwas anbieten
lassen, als Rezipient etwas sagen oder zeigen lassen, als Patient müsse man sich behandeln, als
Bürger regieren und als Gläubiger Hoffnung machen lassen. Das alles könne man können oder eben
nicht. Dem Brockschen Desiderat entsprechend, wonach die Sprache der Wissenschaft alltäglich sein
müsse, erhellte Sloterdijk - ganz Begründer des philosophischen Kabaretts - seine Thesen mit
eingängigen Beispielen: Wer im Auto neben seiner Frau sitze, müsse genauso passivitätskompetent
sein wie ein Passagier jenes Flugzeugs, in dem ein Staatspräsident dem Piloten gerade einzureden
versucht, dass die Maschine unter allen Umständen landen müsse.
Dass der Staatsbürger überhaupt in eine passive Rolle gedrängt wurde und sich resigniert und
demoralisiert in sie gefügt hat, zeigt sich laut Sloterdijk vor allem in seiner Funktion als Steuerzahler,
der angeblich intensivsten Beziehung des Bürgers zum Staat, der allein deshalb Steuern erhebe, weil
es nun einmal zum Wesen des Staates gehöre, Steuern zu erheben. Der moderne Fiskus beruht
demnach keineswegs auf demokratischer Legitimation, sondern auf "spätabsolutistischen
Nehmerroutinen", deren einzige Begründung die Tatsächlichkeit sei: "Souverän ist, wer über die
Zwangsvollstreckung entscheidet." In seiner Vorlesung, die wegen des ungeahnt großen Interesses
der Karlsruher Bürgerhelden in spe in eine größere Räumlichkeit verlegt werden musste,
differenzierte Sloterdijk aus, was er Mitte des vergangenen Jahres in einem Beitrag für diese Zeitung
schon anbuchstabiert hatte: Der Staat müsse nach und nach auf eine neue, demokratische Grundlage
gestellt werden, und die Zwangsabgaben seien durch ein System freiwilliger, projekt- und
objektbezogener Spenden zu ersetzen, wobei es keinerlei Grund gebe anzunehmen, dass auf diese
Weise mittelfristig nicht genug Geld in die Staatskasse komme oder in sinnlose Unternehmungen
investiert werde.
Bei so viel Zutrauen in ihre eigene Vernunftbegabtheit klatschten die Karlsruher Bürger - ganz
untypisch für Studenten - Beifall, was Sloterdijk zu der Bemerkung veranlasste, dadurch hätten sie
sich dem Verdacht ausgesetzt, in Sachen Diplombürgerkunde bloß Publikum und nicht richtig
Studierende zu sein. Ganz unrecht schien ihm das bisschen Camouflage aber nicht zu sein. Jedenfalls
habe er sich schon gegen kritische Fragen von staatlicher Seite gewappnet - für den Fall, dass etwa
das Kultusministerium wissen wolle, was denn da in Karlsruhe an der HfG so passiere. Aus dem
besten bürgerlichen Geist der Ereignisabwehr könnte der Happening-Philosoph dann antworten:
nichts.
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