Es gibt keine Gene für die Moral

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Es gibt keine Gene für die Moral
Sloterdijk stellt das Verhältnis von Ethik und Gentechnik schlicht auf den Kopf
Von Ernst Tugendhat
Nun hat also die Erregung über Sloterdijks Vortrag sogar bewirkt, dass er in der vorigen
ZEIT abgedruckt worden ist, unverdientermaßen, finde ich, denn der Text ist assoziativ
und weder nachdenklich noch argumentativ. Nun muss man sich also mit ihm
auseinander setzen.
Er lässt sich etwa so zusammenfassen:
1. These: Heidegger habe ganz Recht, dass der Humanismus heute zu Ende sei, aber
Unrecht, wenn er meine, zugunsten des Andenkens ans Sein, vielmehr müsse
2. These: gesehen werden, dass die Funktion des Humanismus darin bestand, das
"Wilde" der Menschen zu "zähmen"; diese Aufgabe
3. These: müsse jetzt von einem Programm genetischer Züchtung wahrgenommen
werden.
Es war natürlich der dritte Punkt, der Befremden und Bestürzung hervorrief. Sloterdijks
Reaktion auf die Kritiken, die in der Presse erschienen, war: Man habe nicht richtig
gehört und gelesen. Außerdem fand sich in einem offenen Brief in der ZEIT Jürgen
Habermas unversehens von einer Flut von Vorwürfen, Gehässigkeiten und
Anbiederungen übergossen, mit der Begründung, er sei an allem schuld und habe die
Kritiken veranlasst. Damit habe er ihn, den armen Peter Sloterdijk, "verdinglicht", er
habe ihn zu einem "ausgedehnten Ding" gemacht und so das Grundprinzip seiner
eigenen Dialogischen Theorie verletzt; habe er doch über ihn statt mit ihm gesprochen,
und so sei "die Kritische Theorie an diesem 2. September gestorben". Was für ein
Quatsch.
Die Moral als ein Set von Normen ist etwas Kulturelles
Eine Person wird nicht schon dadurch verdinglicht, dass man sie in der dritten Person
kritisiert, und es ist gewiss ein Irrtum zu meinen, der Diskurstheorie zufolge dürfe man
immer nur in der zweiten Person sprechen. Wo kämen wir hin, wenn Kritik immer zuerst
das Placet des Autors einholen müsste? Im gegenwärtigen Fall ist anzunehmen, dass
Habermas wohl der Meinung war, Sloterdijks Vortrag sei nicht nur schlecht und irrig,
sondern politisch problematisch. War er dann nicht, selbst wenn er sich objektiv
getäuscht haben sollte, subjektiv geradezu verpflichtet, andere auf ihn aufmerksam zu
machen?
Aber ich meine, er hat sich nicht getäuscht, und damit komme ich zum sachlichen Teil
dieser Stellungnahme. Die Gentechnik stellt uns schon jetzt (und wird das in den
nächsten Jahren noch mehr tun) vor überaus schwierige Beurteilungs- und
Entscheidungsprobleme. Durch ihre großartigen Fortschritte hat sich ein ganz neuer
Handlungsspielraum eröffnet, bei dem wir wegen der Neuartigkeit der Probleme nicht
ohne weiteres zurückgreifen können auf tradierte Richtlinien über das, was als
erwünscht und unerwünscht, als zulässig oder unzulässig angesehen werden soll. Aus
verschiedenen Perspektiven wird hier vielerorts über Gründe und Gegengründe
nachgedacht und argumentiert. Es ist eine ernste und tief beirrende Situation, und ich
weiß von niemandem, der sich bereits ein ausgewogenes Urteil gebildet hätte. Da sollte
es, meine ich, nicht als zulässig angesehen werden, dass jemand, ohne zu
argumentieren, einfach sein Tintenfass über die neue Materie ausgießt und glaubt, sie
in der Weise eines Rorschachtests angehen zu dürfen. Man wird etwa folgende
Möglichkeiten unterscheiden können, wie man hier Stellung beziehen kann:
1. Verbot aller genetischen Veränderungen von Lebewesen.
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2. Verbot aller genetischen Veränderungen an Menschen. Für 1. und 2. gibt es gute
Gründe, aber vielleicht noch bessere Gegengründe.
3. Einschränkung der zulässigen genetischen Eingriffe an Menschen auf die negative
Eugenik, das heißt auf die Veränderung von Genen, die für Erbkrankheiten
verantwortlich sind. Gegen die Möglichkeit dieser Begrenzung wird eingewandt, dass
sich negative und positive Eugenik nicht scharf unterscheiden lassen. Aber auch wenn
die Trennlinie nicht scharf ist, ist die Unterscheidung wichtig, und die meisten werden
hier stehen bleiben wollen.
4. Die kritischste Schwelle ist die zur positiven Eugenik: Zulassung der genetischen
Veränderung beliebiger körperlicher und seelischer Eigenschaften, die man für
verbesserungsfähig hält. Natürlich stellen sich hier sofort die Fragen: Wer ist "man"?
Und vor allem: Gibt es konsensfähige Kriterien für Verbesserungswürdigkeit? Und
haben wir das Recht, unsere Nachkommen als unsere Artefakte anzusehen?
Niemand in der bisherigen Diskussion - egal ob er pro oder contra argumentiert bezweifelt, dass es für alle vier Schritte normative Kriterien geben muss, und die Frage
ist nur, welche. Sloterdijk hingegen spricht zwar an einer Stelle von einem "Codex der
Anthropotechniken", aber dieser wird vermutlich von ihm als technischer Codex, nicht
ethisch verstanden, weil ja Sloterdijk zufolge der "Humanismus" - und dieser steht bei
ihm offenbar für die gesamte tradierte Ethik - zu Ende ist. Der "Codex" kann also bei
ihm nur das Ergebnis der Machtverhältnisse sein. Während es in der allgemeinen
Diskussion darum geht, welche ethischen Gesichtspunkte für die zulässigen
genetischen Veränderungen maßgebend sein sollen, kann sich Sloterdijk aufgrund
seiner These vom Ende des Humanismus mit dieser Frage gar nicht befassen, sondern
meint, dass wir uns umgekehrt eine Ethik oder einen Ersatz von Ethik nur von der
"Züchtung" selbst erwarten können.
Er überspringt also einfach die genannten vier Stufen und steht von vornherein auf
einer 5. Stufe, auf der die Aufgabe der Gentechnik nicht die Verbesserung beliebiger
Eigenschaften wäre, sondern die Verbesserung oder sogar Erneuerung der Moral
selbst. Also nicht nur, dass die Gentechnik ohne moralische Kriterien ins Auge gefasst
wird, sondern - schlimmer noch: Die Moral soll künftig das sein, was immer sich als
Moral aus der "Züchtung" ergibt. Diese einigermaßen fantastische Vorstellung folgt aus
dem Gedankengang des Vortrags. Sloterdijk geht ja nicht von dem durch die
Gentechnik eröffneten Handlungsbedarf aus, obwohl er nachträglich auf ihn mit Recht
verweist, sondern von der These, dass der Humanismus am Ende ist, einer These, die
nur dadurch begründet wird, dass angeblich Heidegger das meinte (was nicht einmal
stimmt und im Übrigen belanglos wäre).
Von daher ergibt sich die Anlehnung an Nietzsche und Platon. Deswegen wird die
Aufgabe der Genetik überhaupt als Züchtung und nicht nur als Verbesserung im
Einzelnen gesehen. Die Genetik soll dafür herhalten, das von Sloterdijk postulierte
ethische Vakuum zu ersetzen. Dabei übersieht er aber (oder vorsichtiger formuliert: Er
scheint zu übersehen), dass Platon und Nietzsche, jeder auf seine Weise, von einem
ethischen Ideal ausgehen, während für ihn die genetische Züchtung an die Stelle der
Moral treten soll, sodass es kein Zufall ist, dass bei ihm die Frage, wie die
Menschenzüchtung ihrerseits moralisch zu begründen und zu lenken ist, gar nicht
aufkommt.
Man beachte den Unterschied zu Nietzsche: Auch Nietzsche meinte, die tradierte Moral
sei am Ende. Aber er konzipierte deswegen eine neue Moral, die Moral der
"Vornehmen" oder des "Übermenschen", und man mag diese Moral für noch so
verschwommen halten, so war doch der Gedanke wenigstens konsistent, dass die ins
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Auge gefasste Züchtung von dieser neuen Moral geleitet werden sollte - denn von
irgendeiner Moral musste sie geleitet werden -, während Sloterdijk dieses
Bedingungsverhältnis zwischen Moral und Züchtung auf den Kopf stellt. Es scheint mir
klar, dass das nicht nur, wie Nietzsches Konzept, ablehnungswürdig ist, sondern gar
keinen Sinn mehr ergibt.
Möglich, dass Sloterdijk gerade das als Vorzug seiner Position ansieht (was weiß ich).
Möglich aber auch, dass er sich auch hier missverstanden fühlt, weil er doch wiederholt
im Vortrag sagte, was er unter dem Ethischen verstanden wissen will, nämlich die
"Zähmung" des "Wilden". Dann wird man aber jetzt wissen wollen:
Erstens: Erwartet Sloterdijk von der Züchtung eine neue Form der Zähmung der
Wildheit - so klingt es an einer Stelle - oder aber - wie eine andere Stelle suggeriert - die
rechte "Homöostase" zwischen den beiden gegensätzlichen Faktoren des Zahmen und
des Wilden? In beiden Fällen wäre nur etwas über die Bestandteile gesagt, nichts über
das Wie; dieses bliebe eben der Züchtung überlassen beziehungsweise den Kräften,
die über diese entscheiden.
Zweitens: Ist es denn so klar, dass Ethik primär in der Zähmung des Wilden besteht und
die verschiedenen denkbaren Ethikkonzepte sich also durch die verschiedenen Weisen
oder Proportionen dieses Verhältnisses unterscheiden?
Daran schließt sich nun, drittens, die wichtigere Frage, inwieweit man sich überhaupt
denken können soll, dass das ethische Selbstverständnis von Menschen genetisch
bestimmt ist (und das wäre doch die Voraussetzung dafür, dass man meint, es soll
genetisch erneuert werden). Handelte es sich um solche Unterschiede wie mehr oder
weniger phlegmatisch ("zahm") und mehr oder weniger cholerisch ("wild"), so ist es
relativ leicht vorstellbar, wie solche Eigenschaften und ihr Mehr oder Weniger genetisch
bedingt sein können. Aber man wird Moral eher als etwas Normatives ansehen, und
eine Moral als ein Set von Normen ist etwas Kulturelles: etwas, was gelernt und
begründet werden muss. Verschiedene Moralen unterscheiden sich kaum als
verschiedene Zusammensetzungen von Temperamenten oder Weisen ihrer Zähmung,
sondern als verschiedene normative Systeme wie zum Beispiel Universalismus und
Partikularismus. Es erscheint nicht gut denkbar, dass es ein Gen für Universalismus
und ein anderes für Partikularismus gibt.
Mit den Normen ist es wahrscheinlich ähnlich wie mit den Zahlen: Was man sich als
genetisch bedingt denken kann, ist das Vermögen, zählen zu lernen, und das
Vermögen, Normen zu lernen. Man kann sich Gene vorstellen, die das Lernen und
Begründen genetisch bedingen, erleichtern, verhindern. Aber man kann es sich nicht
gut als genetisch bestimmt vorstellen, dass dann entweder das eine oder das andere
normative System für richtig gehalten wird. Sloterdijk verlegt also etwas in die Gene,
worauf die Gene vermutlich keinen Einfluss haben. Ist es dann aber nicht, so könnte
man einwenden, wenigstens ein harmloses Stück philosophical fiction? Es scheint mir
nicht harmlos, weil ich meine, dass es heute wirklich ein Problem ist, wie wir uns
moralisch verstehen sollen oder wollen, und es ist eine Irreführung des Publikums, die
Antwort an einer Stelle festzumachen, an der sie wahrscheinlich gar keinen Sinn ergibt,
und sie auf diese Weise unserer eigenen Verantwortung zu entziehen.
Zuletzt möchte ich noch eine Kleinigkeit in der Diktion erwähnen. Warum verwendet
Sloterdijk das Wort "Selektion"? Wenn ich dieses Wort in diesem Kontext höre, denke
ich unwillkürlich an die Selektion an der Rampe von Auschwitz. Ist das nur mein
Problem?
Natürlich wird Sloterdijk beteuern, er habe daran überhaupt nicht gedacht, und ich
gestehe ihm das zu, doch wer im heutigen deutschen Sprachraum dieses Wort benützt
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(es gibt, rein semantisch gesehen, gute Äquivalente), sollte daran gedacht haben. Es
war ja nicht nur die Rampe: Ein gut Teil von Hitlers Programm war ein Programm der
Selektion. Gewiss ist eine Selektion durch Züchtung ungleich humaner als eine
Selektion durch Ausmerzung, aber die Kategorie des Humanen soll ja nach Sloterdijk
nicht mehr verfügbar sein, und was die beiden Fälle verbindet, ist, dass nur noch die
Macht bestimmend sein soll, bei Nietzsche und Hitler explizit, bei Sloterdijk implizit.
Gewiss ist auch das ein wesentlicher Unterschied. Aber gehört es nicht, um zum
Ausgangspunkt zurückzukommen, zur Aufgabe der Kritik, auch auf implizite Tendenzen
und Gefahren eines Denkens aufmerksam zu machen?
Und das Explizite? Ich muss gestehen, dass ich nicht verstanden habe, worum es dem
Autor überhaupt geht. Was will er eigentlich? Und gibt es irgendetwas in diesem
Aufsatz, was wir jetzt besser verstehen würden? Irgendetwas, das er geklärt hätte? Ich
habe nichts gefunden.
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