Babylonischer Kraftakt - Widmanns neue Oper in München uraufgeführt - Buhs für Librettist Sloterdijk München (dapd-bay) Von Georg Etscheit Babylonischer Karneval mit Oktoberfestambiente: Vor mächtigen Zyklopenmauern mit Keilschriftzeichen tanzt eine aufgekratzte Volksmengen zu Variationen über den Bayerischen Defiliermarsch und "Wir sind die lustigen Holzhackerbuam". Bier in Maßkrügen wird gereicht. Der Skorpionmensch, der zu Beginn als einziger Überlebender aus den Trümmern einer zerstörten Stadt gekrochen war, legt einen Schuhplattler aufs Parkett. Das Neujahrsfest war einer der musikalischen und optischen Höhepunkte von Jörg Widmanns neuer Oper "Babylon", die am Samstagabend im Münchner Nationaltheater mit großem Erfolg uraufgeführt wurde. Die Erwartungen an das neue Werk des in München geborenen, mit Ehrungen und Auftragskompositionen reichlich gesegneten Komponisten und Klarinettisten waren hoch. Mit Kent Nagano stand ein ausgewiesener Experte fürs Zeitgenössische am Pult des Bayerischen Staatsorchesters. Kein Geringerer als der Philosoph Peter Sloterdijk hatte das Libretto verfasst. Die katalanische Theatergruppe La Fura dels Baus um Regisseur Carlus Padrissa war für die Inszenierung verantwortlich. Dreistündiges Spektakel Fast drei Stunden dauerte das Spektakel, eine musikalische und visuelle Materialschlacht sondergleichen. Sloterdijk hatte in seinem ersten Opern-Textbuch dem Babylon-Mythos eine musiktheatertaugliche Lovestory implantiert: Tammu, der als jüdischer Exilant in Babylon lebt, verliebt sich in Inanna, Priesterin im Tempel der treuen Liebe. Als die Götter die Menschen mit Sintflut und Meteoritenhagel bedrohen, wird Tammu geopfert, um die zornigen Götter zu besänftigen. Doch Inanna gelingt es, den Tod zu bezirzen und Tammu aus der Unterwelt ins Leben zurückzuholen. In Widmanns Klangsprache spiegelt sich ganz konkret die Vielsprachigkeit und Vielstimmigkeit auf der Dauer-Baustelle am Turm zu Babel. Der Komponist frönt über weite Strecken einem unbefangenem Eklektizismus, macht Anleihen beim barocken Choral, beim Jazz, beim Volkslied, bei der Militärmusik. Blechgedröhn, das Geklappere von Geigenbögen auf Holz und derbe Schlagzeug-Salven akzentuieren die immer wieder sich auftürmenden Steigerungswellen. Nagano lotste das Staatsorchester sicher und inspiriert durch die monströse 600-Seiten-Paritur, für die sein Dirigentenpult extra umgebaut worden war. Reichlich Premierenjubel aus dem Publikum Zu diesem opulenten Klanggeflecht lieferten La Fura dels Baus ihre notorischen Bilderfluten. Ständig wuseln lemurenhafte Gestalten über die weite Bühne, türmen riesige Quader zu Mauern und Türmen, die krachend wieder zusammenbrechen. Über allem schwebt ein riesiger, mit babylonischen Schriftzeichen verzierter, zunächst nutzloser Kubick-Würfel, der später zu Tammus Opferkammer mutiert. Inanna, Verkörperung der Wollust, schwebt am Trapez ein, angetan mit Leuchtdioden-Flügeln und riesigen Eierstöcken. Zum Ende schienen Widmann und seinem Librettisten ein wenig die Ideen auszugehen. Warum die beiden Liebenden in einem Plexiglas-Raumschiff ins Nirgendwo entschweben, bleibt rätselhaft. Leider droht beim Happy End, das eine neue Ordnung zwischen Himmel und Erde begründen soll, die Musik ins Banale, Kitschige abzugleiten. Trotzdem reichlich Premierenjubel, für Widmann, Nagano, Chor, Regie- und Sängerteam sowie wenige Buhs für Sloterdijks bedeutungsschwangeren Libretto-Erstling. Das gesamte Ensemble hatte die Uraufführung dem am Samstag im Alter von 86 Jahren in Dresden verstorbenen Komponisten Hans Werner Henze gewidmet. Widmann ist ein Schüler des bedeutenden Tonkünstlers.