RICHARD DAVID PRECHT: Wir brauchen eine Bildungsrevolution! 24. September 2012 Kinder werden in Deutschland immer noch nach den gleichen Methoden unterrichtet wie vor 50 Jahren. Unsere Schulen zerstören die angeborene Neugier. Eine Revolution muss her, auf die Barrikaden! Kinder, die heute eingeschult werden, gehen im Jahr 2070 in Rente. Welche Bildung werden sie für ihr Leben brauchen? Was müssen sie wissen, und was müssen sie können? Welche Herausforderungen werden sie in ihrem Zusammenleben meistern müssen und welche in ihrem Berufsleben? So naheliegend es ist, sich diese Fragen zu stellen, und so wichtig es ist, sie zu beantworten, so wenig beschäftigen sich unsere Schulen, unsere Lehrer und unsere Bildungspolitiker damit. Kinder lernen heute nahezu das Gleiche in der Schule wie die Generation ihrer Eltern und Großeltern. Die alten Sprachen sind etwas unwichtiger geworden, die Fremdsprachen wichtiger, der Biologie-Unterricht enthält heute mehr und anderen Stoff – aber das sind auch schon die wichtigsten Unterschiede. Selbst die Schullektüre gleicht fast durchgehend der von vor 40 Jahren: Goethes „Werther“, Max Frischs „Homo faber“, Friedrich Dürrenmatts „Physiker“. Aber behandeln diese Bücher wirklich die Probleme, die Sorgen, die Ängste, Träume und Sehnsüchte unserer Kinder? Die „Bildungshochstapler“, wie der Psychologe Thomas Städtler sie nennt, packen im Zweifelsfall immer mehr Stoff in die Lehrpläne, ohne dabei den alten Stoff auszumisten. Die Folge ist das, was der Bildungsexperte Reinhard Kahl als „Bulimie-Lernen“ bezeichnet: schnell füttern, schnell wieder in Klausuren von sich geben und danach schnell vergessen. Mehr als 100 000 Stunden geht ein deutsches Kind bis zum Abitur zur Schule – aber bis dahin hat es bereits den überwiegenden Teil des Gelernten vergessen. Noch verheerender sieht die Bilanz einige Jahre später aus. Welcher Erwachsene kann heute noch den Stoff, den er mit 13 gelernt hat? Wovon handelt das ohmsche Gesetz? Was ist der Inhalt der „Goldenen Bulle“? Wer kann als Erwachsener noch den „Höhensatz“ in der Geometrie anwenden? Gewiss, all dies ist wichtiger Bildungsstoff. Doch so wie er an unseren Schulen gelehrt und gelernt wird, bleibt im Regelfall kaum etwas davon hängen. Denn, wie bereits Konfuzius wusste: „Das, was man erklärt bekommt, vergisst man. Das, was einem vorgemacht wurde, daran erinnert man sich. Nur das aber, was man selber gemacht hat, kann man.“ Selber machen, das heißt bezogen auf den Schulstoff, mit Neugier und Begeisterung ausführen, nicht aber aus Pflicht repetieren. Welchen Sinn macht es, 100 000 Stunden zu lernen, wenn so wenig davon in Erinnerung bleibt? Welche ungeheure Verschwendung von Zeit und Energie liegt hier vor? Wie viel angeborene Neugier wird dabei von der Schule zerstört? Wären unsere Schulen Unternehmen, sie wären längst pleite. Sie sind viel zu ineffizient. Wären unsere Schulen Staaten, wären sie längst implodiert. Gescheitert am Widerstand ihrer Bürger. Die Anforderungen der zukünftigen Lebens- und Arbeitswelt verlangen nach kreativen Problemlösern und nicht nach Köpfen, die wie Aktenordner mit totem Wissen angefüllt sind. Doch statt Kinder als individuelle Rennpferde zu behandeln, schulen wir sie zu geduldigen Postpferden, wie der Mathematiker und Managementberater Gunter Dueck anmahnt. Unsere Schulen bereiten nicht nur schlecht auf das Leben vor, sie zerstören sogar gezielt jene Potenziale an Neugier, Begeisterungsfähigkeit und Kreativität, die später für ein erfülltes Leben gebraucht werden. Nach alldem, was die moderne Entwicklungspsychologie, die Lerntheorie und die Hirnforschung über das Lernen wissen, lässt sich schlussfolgern: Genauso wie unsere Schulen glauben, Wissen zu vermitteln – genau so geht Lernen nicht. Doch warum werden diese Erkenntnisse an unseren Schulen bis heute kaum berücksichtigt? Warum dressieren wir immer noch Postpferde, anstatt den Charakter und die Fähigkeiten der Rennpferde zu stärken? Die Antwort ist vermutlich recht einfach: Weil unser Bildungssystem selbst in hohem Maße unkreativ ist! Die Anzahl der Begeisterten, Neugierigen und Kreativen unter deutschen Lehrern ist sehr überschaubar. Gar nicht zu reden von Kultusbürokraten und Kulturpolitikern. Statt über ein völlig neues Lernen nachzudenken, finden sich in den öffentlichen Debatten noch immer uralte Freund-Feind-Linien von vermeintlich „linker“ oder „rechter“ Bildungspolitik. Dabei geht es um „linke“ Gesamtschulen gegen die „rechten“ Bildungsprivilegien der Besserverdienenden – aber es geht kaum um die Frage, was inhaltlich an unseren Schulen passiert. Wer ändert unsere Lehrpläne? Wer macht unsere Klassenzimmer zu architektonisch gelungenen Lernräumen? Wer schafft unsere völlig absurde Lehrerausbildung ab, die den Referendaren den gleichen fleißigen Konformismus abnötigt, den sie später von ihren Schülern einfordern werden? Was dagegen ist ein guter Lehrer? Einer, der selbst weiterlernen möchte, hätte Wilhelm von Humboldt geantwortet. Was sind seine wichtigsten Voraussetzungen? Fachwissensfülle? Didaktik? Nein, die wichtigsten Voraussetzungen eines Lehrers sind 1) dass er Kinder mag und 2) dass er ein Mensch ist, dem man gerne zuhört und der mit seiner eigenen Begeisterung andere begeistert. Alles andere ist demgegenüber sekundär. Aber: An wie viele solcher Lehrer erinnern wir uns aus unserer eigenen Schulzeit? An einen, zwei oder bestenfalls drei. Ein guter Lehrer begleitet seine Schüler auf ihrer Entdeckungsreise durch die faszinierende Welt des Wissens, Glaubens und Meinens, die man Kultur nennt. Und nur was dabei mit Neugier gelernt wird, wird unseren Kindern wichtig und bedeutsam. Und nur was ihnen bedeutsam ist, weckt ihre Kreativität und spornt die Leistungsbereitschaft an. Ein guter Unterricht, so sagt der Hirnforscher und Bildungskritiker Gerald Hüther, ist einer, der die allen Kindern angeborene Begeisterungsfähigkeit erhält statt sie zu zerstören. „Leben ist mehr als die Jagd nach guten Zensuren. Leben ist mehr als die Vorbereitung auf ein Examen. Kinder können mehr, als auf Zeugnisse zu schielen. Wir demütigen sie, wenn wir ihre Leistungen nur auf die in der Schule erzielten Noten reduzieren“, schreibt Hüther in seinem soeben erschienenen Buch „Jedes Kind ist hochbegabt“. Ungezählte Bildungsreformen hat die Bundesrepublik Deutschland bisher erlebt bis hin zu den jüngsten Verfehlungen des Bologna-Prozesses und zur flächenweisen Abschaffung des 13. Schuljahrs. Das, was heute ansteht, ist keine neue Reform. Unsere Schulen müssen nicht reformiert werden. Sie müssen völlig anders werden als bisher. Wir brauchen andere Lehrer, andere Methoden und ein ganz anderes Zusammenleben in der Schule. Mit einem Wort: Wir brauchen keine weitere Bildungsreform, wir brauchen eine Bildungsrevolution!