Suizidales_Verhalten_Prof._Häßler_Rostock_2011

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Suizidales Verhalten
Suizidales Verhalten
„Sehr geehrter Herr! Da Sie sich so auffällig opferwillig zeigen,
darf ich Sie vielleicht um 7M oder gleich um den Revolver
bitten. Nachdem Sie mich zur Verzweiflung gebracht, sind Sie
doch wohl bereit, mich dieser und sich meiner rasch zu
entledigen. Eigentlich hätte ich ja schon im Juni krepieren
sollen…. „Vater“ ist doch ein seltsames Wort, ich scheine es
nicht zu verstehen. Es muß jemand bezeichnen, den man
leiben kann und leibt, so recht von Herzen. Wie gern hätte ich
eine solche Person!...“
Hermann Hesse 1892, mit 15 Jahren
Suizidales Verhalten - Epidemiologie
Suizidprävalenz:
♂ 0.9 (5-14 J.); 14.2 (15-24 J.) pro 100 000
♀ 0,5 (5-14 J.); 12.0 /15-24 J.) pro 100 000
Pelkonen & Marttunen 2003
Parasuizide:
♂127 pro 100 000
♀376 pro 100 000
Schmditke et al. 1996, 15-19jährige Jugendliche
5,2 % Wunderlich et al. 2001, 3021 14-24 Jährige
2,0 % Shaffer & Gutstein 2002
9,2 % Pagés et al. 2004, 11718 Schüler, Ø 16.6 J.
Suizidraten:
21 pro 100 000 Preussen 1891 – 1893
13,1pro 100 000 Pfeffer 1996 USA, 15-24 Jährige
Suizide in UK
(Windfuhr et al. 2008)
UK general population youth suicide rates (per 100,000 per year) by year and gender,
General population Males 10–
19 years
General population Females 10–
19 years
N
Rate (95% CI)
N
Rate (95% CI)
1997 195
5.27 (4.56–6.07)
54
1.51 (1.14–1.98)
1998 209
5.55 (4.83–6.36)
74
2.04 (1.60–2.56)
1999 195
5.13 (4.44–5.91)
62
1.70 (1.30–2.17)
2000 207
5.42 (4.71–6.21)
72
1.97 (1.54–2.48)
2001 179
4.62 (3.97–5.35)
52
1.41 (1.05–1.85)
2002 167
4.24 (3.62–4.94)
65
1.74 (1.34–2.22)
2003 136
3.42 (2.87–4.04)
55
1.46 (1.11–1.90)
Total 1288
4.79 (4.54–5.06)
434
1.69 (1.53–1.86)
Year
4% aller Suizide in UK in diesem Zeitraum
Suizidales Verhalten - Definitionen
Suizid:
Selbstintendierte Handlung mit tödlichem
Ausgang
Parasuizid:
Handlung mit nicht-tödlichem Ausgang, bei
der ein Individuum entweder gezielt ein
nicht habituelles Verhalten zeigt, das ohne
Intervention von dritter Seite eine
Selbstschädigung bewirken würde, oder
absichtlich eine Substanz in einer Dosis
einnimmt, ….die zum Ziel hat, durch die
aktuellen oder erwarteten Konsequenzen
Veränderungen zu erwirken
(WHO – Definition)
Parasuizidale Gedanken und Affekte:
nicht mit Handlungen verknüpft
Suizid
Risiko
Parasuizid
jung, ♀
alt, ♂
alt, ♂
jung, ♀
Gruppen mit erhöhtem Risiko für
suizidales Verhalten






Menschen mit psychischen Erkrankungen
(Depressionen: 28–66%, Suchtkranke: 3–54%,
Schizophrenien: 2–12%, )
Menschen mit bereits vorliegender Suizidalität
(Suizidankündigungen, nach Suizidversuch: 10–30%)
Alte Menschen (vereinsamt, krank)
Junge Erwachsene mit Entwicklungskrisen,
Drogenproblemen, Beziehungsproblemen)
Menschen in traumatischen und Veränderungskrisen
Menschen mit chronischen, terminalen,
schmerzhaften Erkrankungen
Wolfersdorf und Mäulen 1992
Foley et al. 2008, n=1420 subjects, aged 9 – 16 years,
6676 records in 8 waves, Great Smoky Mountain Study
Todeskonzepte

3 – 5 Jahre
kein reifes Todeskonzept
(reduziertes Leben, Reise, Schlaf)

6 – 8 Jahre
Verständnis der Subkonzepte:
Universalität, Irreversibilität,
Nonfunktionalität, Kausalität)

9 Jahre
richtiges Todeskonzept
Kinder unter 6 Jahren haben kaum Angst vor dem Tod.
Suizide vor dem 8. Lebensjahr sind sehr selten.
Todeskonzepte
Dimensionen nach Hoffmann u. Strauss 1985, Wittkowski 1990





Tod als Stillstand bzw. Aufhören aller biologischen und
psychischen Lebenszeichen
Notwendigkeit des Todes – biologischer Tod ist
unvermeidlich
Irreversibilität des Todes
Kausalität – Ursachen sind physikalisch bzw. biologisch
Universalität des Todes – jedes Lebewesen stirbt
Suizidales Verhalten - Warnsignale
• subjektiver Eindruck, nicht ausreichend geliebt zu werden
• Gefühl der Einsamkeit, Isolation und Verzweiflung
• Ängste
• Gefühl der Ausweg- bzw. Sinnlosigkeit
• Grübelzwänge
• Teilnahmslosigkeit
• Sehnsucht „weg zu sein“
• ausschlafen wollen
• Leistungsabfall in der Schule
• frühere Suizidversuche
• Weglauftendenzen
• Fantasien über das „Danach“
Suizidales Verhalten – Präsuizidales
Syndrom Löchel 1984
• konkrete Vorstellungen über die Durchführung
• Suizidgedanken in der Anamnese: intensive gedankliche
Beschäftigung mit dem eigenen Suizid, Vorstellung
davon gewinnt zunehmend an Vertrautheit
• dysphorische Verstimmung: Gefühl des Traurigseins, sich
nicht mehr freuen können, Niedergeschlagensein,
Aggressivität
• psychosomatische Äquivalente: Schlafstörungen,
Veränderungen des Essverhaltens, Müdigkeit,
Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörungen,
vegetative Irritierbarkeit
• „Ruhe vor dem Sturm“
Foley et al. 2008, n=1420 subjects, aged 9 – 16 years, 6676 records
in 8 waves, Great Smoky Mountain Study
Suizidales Verhalten – Auslöser
• Familienkonflikte (Einengung durch die Eltern, Liebesentzug,
Disharmonie in der Familie) (31%)
• Partnerverlust (Liebeskonflikt) (16%)
• Schulschwierigkeiten und Ausbildungsprobleme (11,5%)
• Entwicklungskrisen (8,5%)
• Sexuelle Konflikte (7%)
• Psychische Erkrankungen (3,8%) (70-91% Gould et al. 1995)
• Belastende Ereignisse
Suizidales Verhalten – eigene
Untersuchungen
• Hauk: stationäre Aufnahmen KJPP Rostock
1973 – 1989 48 Mädchen, 37 Jungen, ø Alter 14;8 Jahre
• Göhre: stationäre Aufnahmen KJPP Rostock
1990 – 1993 22 Mädchen, 8 Jungen, ø Alter 16;5 Jahre
1988 – 1993 73 Mädchen, 29 Jungen, ø Alter 15;1 Jahre
• Hartmann: stationäre Aufnahmen nach Notarzteinsatz
Schwerin
1986 – 1993 62 Mädchen, 16 Jungen, ø Alter 15;1 Jahre
Häßler et al. 1995, 2006
Suizidales Verhalten – eigene
Untersuchungen/ aktueller Anlass
Streit mit Eltern Liebeskummer
Schulprobleme
HARTMANN
23,0%
26,0%
25,0%
GÖHRE
31,0%
20,7%
16,1%
HAUK
23,7%
10,0%
15,0%
Suizidales Verhalten – eigene
Untersuchungen/ weiche Methoden (100%)
GÖHRE 70% incl.
HARTMANN 93%
Suiziddrohungen
ein Medikament
mehrere
Medikamente
51,3%
30,0%
26,8%
56,1%
Chemikalien
Chemikalien+
Medikamente
5,0%
1,3%
6,1%
-
Pilze
1,3%
1,2%
1,3%
10,0%
1,2%
8,5%
Alkohol
Med.+Alkohol
Suizidales Verhalten – eigene
Untersuchungen/ harte Methoden
GÖHRE 30%
Strangulationsversuch
10,0%
Pulsaderschnitt
10,0%
HAUK 3,5%
-
3,5%
Stromschlag
6,6%
-
Fenstersprung
3,3%
-
Suizidales Verhalten - Risikofaktoren
• schwer mögliche Einschätzung – gut möglich
• allein, geplant, harte Methode – nicht allein, eher spontan,
weiche Methode
• hohe Letalitätsabsicht – niedrige
• vorhandene und schwere Psychopathologie – leicht bzw. nicht
vorhanden
• schlechtes Urteilsvermögen, geringe Impulskontrolle, stark
ausgeprägte Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit
• schlechte oder ambivalente Kommunikation – gut und eindeutig
• fehlende oder unsichere familiäre Unterstützung
• zusätzliche Stressoren
Parasuizidales Verhalten
HARTMANN
GÖHRE
HAUK
Anzahl
78 (79,5% w.)
102 (72,5% w.)
85 (57% w.)
Alter
w 15;2 Jahre
m 14;8 Jahre
w 15;1 Jahre
m 15;2 Jahre
w 15;4 Jahre
m 14;5 Jahre
im Elternhaus
lebend
37,3%
50%
68,7% (s. 0,01)
jüngstes Kind
25,6%
57,1%
37,5% (s.0,01)
ungelernte M.
ungelernter V.
14,0%
11,6%
8,0%
4,3%
26,9% (s.0,1)
17,6% (s.0,5)
vitale Gefahr
Wiederholer
18,0%
37,2%
33,7%
32,6%
22,8% (s.0,5)
37,5% (n. s.)
Parasuizidwiederholer




7% der Jugendlichen innerhalb des 1. Jahres
24% der Jugendlichen mit mehreren Vorversuchen
kein Geschlechtsunterschied (Hultén et al. 2001)
Depression, Substanzabusus und psychotische
Störungen erhöhen des Risiko (Chitsabesan et al. 2003,
Vajda und Steinbeck 2000)


erhöhte sexuelle Aktivität (Patton et al. 1997)
psychische Störungen der Eltern (Chitsabesan et al.
2003)

Sexueller Missbrauch und körperliche Misshandlung
(Brown et al. 1999)


harte Methoden
höhere intention to die
Suizidales Verhalten – Parasuizid und
psychiatrische Diagnose
Diagnose
g.Stichprobe*
Schizophrenien
Parasuizid°
Signifikanz
106 (19,7%)
24 (14,7%)
0.07
Essstörungen
91 (16,9%)
14 ( 8,7%)
-0.001
Substanzmissbrauch
12 (9,8%)**
38 (23,3%)
PS
57 (10.6%)
25 (15,4%)
0.03
Belastungsreaktionen 56 (10.4%)
34 (20.9%)
0.0000
Emotionale Störungen 45 ( 8,4%)
22 (13,5%)
0.009
Affektive Störungen
14 ( 8,9%)
0.005
29 ( 5,3%)
*Gesamtstichprobe n=537, **KG n=123, ° n=163
Braun-Scharm et al. 2004, Rottmannshöhe
ADHS bei erwachsenen
Alkoholabhängigen






314 Abhängige, Durchschnittsalter 43 Jahre, 17% w.
21,3% zeigten ADHS (22% der Männer, 17% der Frauen
ADHS Gruppe wies um 6 Jahre frühere Abhängigkeit auf
Tägliche Trinkmenge war in ADHS Gruppe ca. 30%
höher, Rekordtrinkmenge um 20% höher (345,8g EtOH)
Doppelt so hohe Suizidalität (25 vs. 11%)
51% zeigten Hinweise auf antisoziale PS vs.19%
Wodarz et al. 2004, Nervenheilkd. 23: 527-32
Suizidales Verhalten – Parasuizid und
psychiatrische Diagnose
(Jugendliche – Erwachsene)
Diagnose
Jugendliche
Schizophrenien
Erwachsene
14,7%
2 - 12 %
Störungen
22,4%
28 - 66%
Alkohol
14,7%
3 - 54%
Affektive/emotionale
Braun-Scharm et al. 2004, Rottmannshöhe, Wolfersdorf 1998
Parasuizide Erwachsener
1986 – 1993, n=858, Alter 18;0 – 93;11 Jahre, 53% männlich
weiche Methoden: 95,9%
harte Methoden:
Fenstersprünge 11 (9 m, 2 w)
Schnittverletzungen 8 (4 m, 4 w)
Schussverletzungen 8 m
Strangulationsversuche 6 (5 m, 1 w)
Ertränkungsversuche 2 w
Essen von Glas 1 w
Monate: männlich - Jan., März, Febr., Okt., Nov. … Mai
weiblich - Jan., März, Okt., Nov. … August
Suizidales Verhalten – Regeln für einen
Dialog
•
Offenes Ansprechen auf die Suizidgedanken (Entlastung durch
Verbalisierung)
•
Akzeptieren des Patienten (zur Stützung des Selbstwertgefühls)
•
Angstfreies Benennen der Suizidgedanken nach Art und Intensität (schafft
Distanzierungshilfe)
•
Einbringen der eigenen Person des Helfers – empathisches Verständnis,
stellvertretende Hoffnung (entspricht antisuizidaler Haltung)
•
Besprechung von Hilfs- und Therapiemöglichkeiten (Anregung von
Kollaboration)
•
Festlegung der nächsten Zeitstrecke mit Kontaktvereinbarung
(Brückenschlag)
•
Fragen und Benennen persönlicher Bezugspersonen (Bindung an
Begleitpartner)
•
Absprache über Notrufmöglichkeiten in akuten Krisen (Krisenbewältigung)
Suizidales Verhalten – Rückfallprophylaxe
• Ständiges Aufrechterhalten eines therapeutischen Konzeptes
• Kooperation mit der Familie bzw. Umgebung des Gefährdeten
• Therapievereinbarung
• Schaffung einer Behandlungskette nach dem 1. Suizidversuch
• Sorgfältige Planung des Überganges von der stationären zur
ambulanten Behandlung
• Vorbereitung der Familie und der Umgebung auf die Reintegration
nach der stationären Entlassung
• Behandlung einer möglichen zugrunde liegenden Erkrankung,
Beseitigung von Konflikten, die zum Suizid führten
Remschmidt 1992
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