Kommunikation im institutionellen Kontext

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Kommunikation im
institutionellen Kontext
Stephan Wolff
Institut für Sozial- und Organisationspädagogik
Universität Hildesheim
Sommersemester 2007
Kommunikation im institutionellen Kontext
Zeit: Do 10-12 Uhr
Raum: D 017 Spl
Teilnehmer: BA/SOP/OP Modul 20, MA SOP/OP Modul 5
Inhalt: Im Seminar wird die konversationsanalytische Forschung zur institutionellen
Kommunikation an Hand von beispielhaften Untersuchungen behandelt. Der Veranstalter
wird etwa ein Drittel des Seminar als Vorlesung mit Übungen gestalten.
Die Teilnehmer werden

in die besondere analytische Mentalität der ethnomethodologischen Konversationsanalyse
und in deren ‚Methodologie‘ eingeführt

das konversationsanalytische Vorgehen bei der Datenerhebung und Transkription kennen
lernen und üben

Einblicke in Analysestrategien und Maßnahmen zur Qualitätssicherung bekommen

mit Feldern und Ergebnissen der „angewandten Konversationsanalyse“ bekannt gemacht

über die Kombinierbarkeit von Konversationsanalyse mit anderen Forschungsstrategien
nachdenken

sich möglichst viele der genannten Punkte aktiv, d.h. im Umgang mit eigenem
Datenmaterial und durch Lektüre exemplarischer Untersuchungen erarbeiten.

Soweit wie möglich soll mit Originalmaterialien (Videos, Tonbändern, Transkripten)
gearbeitet werden.
Scheinanforderungen

Aufzeichnung, Transkription (bis 24.5.!) und konversationsanalytische Interpretation (bis
zum Semesterende) zweier Ausschnitte aus natürlichen Gesprächen von jeweils 5 Minuten
Länge. (50%)

Präsentation einer konversationsanalytischen Untersuchung zu einem Gesprächstyp in
Zweiergruppen (auf Folien). Die Präsentation soll exemplarisch Einblicke in die
Besonderheiten der betreffenden institutionellen Gesprächsform geben.(50%)

Alternative zur Präsentation: eine mündliche Prüfung (15-20 Minuten) zum Stoff des
Vorlesungsteils und zweier Seminarstunden.
Literatur zur Orientierung:
Bergmann, Jörg (2004): Konversationsanalyse. S.524-537. In: U. Flick, E. v. Kardorff, I.
Steincke (Hg.), Qualitative Forschung. 2. Auflage. Reinbek.
Heritage, J. (1997): Conversation Analysis and Institutional Talk: Analysing Data. In: D.
Silverman (Ed.), Qualitative Research: Theory, Method and Practice (pp. 161-182).
London.
Wolff, Stephan (1986): Das Gespräch als Handlungsinstrument. Konversationsanalytische
Aspekte sozialer Arbeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38: 55-84.
Literatur zur Vertiefung:
Ten Have, Paul (1999): Doing Conversation Analysis. A Practical Guide. London, Thousand
Oaks, New Dehli.
Hutchby, Ian, Wooffitt, Ron (1998): Conversation Analysis: Principles, Practices and
Applications. Cambridge.
Ablaufplanung und Präsentationsthemen
Themenblock I: Einführung in die Konversationsanalyse (Wolff)
Themenblock II: Institutionelle Frageaktivitäten (7. und 14. 6.)
1.
Gericht (I): Wie sichern Richter ihre Neutralität? (Atkinson 1992)
2.
Interview: Objektives und parteiliches Fragen in Interviews (Clayman 1988) (Bitsch, Fröhlich)
3.
Schule: Pädagogisches Fragen (Kroner/Wolff 1989)
4.
Psychiatrie: Diskrete Erhebung von psychischen Störungen (Bergmann 1999) (Römermann)
Themenblock III: Institutionelle Reaktionen (21. und 28.6.)
1.
Beratung: Ein Klient wird gemacht (Bittner 1981) (Riemere)
2.
Arzt-Patient (I): Blicke und Gestik während der Diagnose (Heath 1986*)
Themenblock IV: Institutionelle Frage-Antwort-Spiele (5. und 12.7.)
1.
Gericht (II): Prüfung der Glaubwürdigkeit (Wolff/Müller 1995) (König, Bühnemann)
2.
Notrufe: Klärung von Hilfsbedürftigkeit (Bergmann 1993) (Häßler, Dopke)
3.
Arzt-Patient (II): Wie überbringt man schlechte Nachrichten? (Maynard 1992) (Rüter, Saupe)
4.
Politische Rhetorik: Wie man Applaus macht (Atkinson 1984*) (Seidler, Terhorst)
(Für die meisten Präsentationsthemen gute Zusammenfassung in Hutchby/ Wooffitt 1998!)
Interview:
Objektives und parteiliches Fragen
Clayman 1988
Bitsch, Fröhlich
Psychiatrische Exploration:
Diskrete Erhebung von psychischen Störungen
Bergmann 1999
Römermann
14.6.
Beratung:
Ein Klient wird gemacht
Bittner 1981
Riemere
21.6.
Therapie:
‚Mhms‘ und andere hilfreiche Interventionen
Wolff/Meier 1995
Rosenkranz, Seidel
Maynard 1992
Rüter, Saupe
Feuerwehr-Notrufe:
Klärung von Hilfsbedürftigkeit
Bergmann 1993
Häßler, Dopke
Gericht :
Prüfung der Glaubwürdigkeit
Wolff/Müller 1995
König, Bühnemann
05.7.
Arbeitsbesprechungen:
Fokussierung der Aufmerksamkeit im Team
Meier 1997
Gunkel, Brückner
12.7
Politische Rede:
Wie man Applaus macht
Atkinson 1984
Seidler, Terhorst
07.6.
Arzt-Patient-Gespräch:
Wie überbringt man schlechte Nachrichten?
28.6.
Literaturliste
Atkinson, Maxwell J. (1992): Displaying Neutrality: Formal Aspects of Informal Court Proceedings. S.
199-211 in: Paul Drew/ John Heritage (eds.): Talk at Work. Interaction in Institutional Settings.
Cambridge: Cambridge University Press.
Atkinson, Maxwell J. (1984): Our Masters Voices. Language and Body Language of Politics. London
and New York: Routledge.
Bergmann, Jörg R. (1993): Alarmiertes Verstehen. Kommunikation in Feuerwehrnotrufen. S. 283-328
in: T. Jung/S. Müller-Doohm (Hg): Wirklichkeit im Deutungsprozess. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Bergmann, Jörg R. (1999) Diskretion in der psychiatrischen Exploration - Beobachtungen über Moral
in der Psychiatrie", in: Psychotherapie und Sozialwissenschaft, 1: 245-264.
Bittner, Ulrike (1981): Ein Klient wird "gemacht". S. 103-137 in: E.v. Kardorff/E.Koenen (Hg.),
Psyche in schlechter Gesellschaft. München, Wie, Baltimore: Urban & Schwarzenberg.
Brannigan, Augustine/ Lynch, Michael (1987): On Bearing False Witness. Credibility as an
Interactional Accomplishment. Journal of Contemporary Ethnography Vol. 16: 115-146.
Clayman, Steven E. (1988): Displaying Neutrality in Television News Interviews. Social Problems 35:
474-492.
Drew, Paul (1992): Contested Evidence in Courtroom Cross-Examination: The Case of a Trial for
Rape. S. 470-520 in: Paul Drew/ John Heritage (eds.): Talk at Work. Interaction in Institutional
Settings. Cambridge: Cambridge University Press.
Drew, Paul/ Heritage, John (1992): Analyzing Talk at Work: An Introduction. S. 3-65 in: dies. (eds.),
Talk at Work. Interaction in Institutional Settings. Cambridge: Cambridge University Press.
Heath, Christian (1986): Body Movement and Speech in Medical Interaction. Cambridge: Cambridge
University Press.
Heritage, John/Clayman, Steven/Zimmerman, Don H. (1988):
Jefferson, Gail/Lee, John R.E. (1981): The Rejection of Advice: Managing the Problematic
Convergence of a 'Troubles-Telling' and a 'Service Encounter'. Journal of Pragmatics 5:
399-422.
Kroner Wolfgang/Wolff, Stephan (1989):Pädagogik am Berg. S. 72-121 in: U.Beck/W. Bonß
(Hg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Maynard, Douglas W. (1992): On Clinicians Co-implicating Recipients' Perspective in the
Delivery of Diagnostic News. S. 331-358 in: Paul Drew/ John Heritage (eds): Talk at Work.
Interaction in Institutional Settings. Cambridge: Cambridge University Press.
Meier, Christof (1997): Arbeitsbesprechungen. Opladen: Westdeutscher Verlag
Suchman, L./Jordan, B. (1990): Interactional Troubles in Face-to-Face Survey Interviews.
Journal of the American Statistical Association 85: 232-241.
Wolff, Stephan (1986): Das Gespräch als Handlungsinstrument. Konversationsanalytische
Aspekte sozialer Arbeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38: 55-84.
Wolff, Stephan/Meier, Christof (1995): Das konversationsanalytische Mikroskop:
Beobachtungen zu minimalen Redeannahmen und Fokussierungen im Verlauf eines
Therapiegesprächs. S. 49-91 in: M.B. Buchholz (Hg.), Psychotherapeutische Interaktion.
Qualitative Studien zu Konversation und Metapher, Geste und Plan. Opladen:
Westdeutscher Verlag.
Wolff, Stephan/Müller, Hermann (1995): Interaktive Aspekte der
Glaubwürdigkeitskonstruktion im Strafverfahren. Kriminologisches Journal 27: 209-226.
Wolff, Stephan/Müller, Hermann (1997): Kompetente Skepsis. Eine konversationsanalytische
Untersuchung zur Glaubwürdigkeit in Strafverfahren. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Eigene konversationsanalytische Arbeiten






Prüfungen (1977)
Sozialarbeit (1983)
Pädagogik (1984)
Beratung (1989)
Text (1991)
Witz (1993)






Gutachten (1995)
Ironie (1995)
Therapie (1995)
Gericht (1997)
Focusgroups (2000)
Medien (2006)
Ethnomethodologie als theoretisches Bezugsfeld

Apostrophierungen: West-Coast-Approach, Hippie-Soziologie,
Eulenspiegeleien, Protosoziologie (60er Jahre)

Rekrutierungsfeld: Soziologen, Linguisten, Anthropologen, Psychologen

Späte Rezeption im deutschsprachigen Raum (ab 1975)

Gründervater: Harold Garfinkel

‚Abspenstiger Sohn‘ von Talcott Parsons
 Strukturell-funktionale Theorie:
 Soziale Ordnung gewährleistet durch Sozialisation in kulturelles
Wertesystem (normativer Konsens als gemeinsamer Bezugspunkt)
 ‚Sitz‘ der Ordnung: in Institutionen/Wertsystemen
 Ethnomethodologische Kritik
 Over-socialized concept of man
 Under-interactionalized concept of social action
Harold Garfinkel (geb. 1917-2004)
Garfinkel‘s These

Das, was wir im alltäglichen Handeln als objektive soziale Tatsachen, d.h. als
unabhängig von unserem Zutun existierende Realitäten (Beispiel ‚Familie‘,
‚Organisation‘, ‚Objektivität‘) wahrnehmen und behandeln, wird erst in unseren
Handlungen und Wahrnehmungen als solche produziert.

Der Vorgang der Wirklichkeitserzeugung muss, da alle Gesellschaftsmitglieder an
ihm teilhaben, einzelne formale und als solche beschreibbare Strukturen
aufweisen. D.h., dieser Vorgang muss methodisch ablaufen.

Kompetente Mitglieder (‚member‘) verfügen über eine Vielzahl von ‚Methoden‘
mittels derer sie die sozialen Gegebenheiten, auf die sie sich in ihrem Handeln
beziehen und verlassen, erst in ihrem Handeln erzeugen.

Gegenstand der Ethno-Methodologie ist es, diese praktizierte Methodologie
zu rekonstruieren und ihren Einsatz zu beschreiben.

Andere Perspektive als die gängigen (Variablen-)Sozialwissenschaft, die von
sozialen Tatsachen ausgeht und diese dann (z.B. statistisch) verarbeitet
(Korrelation Religion-Selbstmordrate). Die ETH macht also deren analytische
Ressourcen zum eigentlichen Gegenstand (topos) -> Protosoziologie
Beispiel: Geschworenen-Studie (Garfinkel 1967)

Zusammen mit Fred Strodtbeck Untersuchung einer Gruppen von
Geschworenen.

Vermutung: Geschworene verfügen über bestimmte angemessene und
nachvollziehbare Methoden, um mit Geschworenen-relevanten Dingen
sichtbar kompetent umzugehen. Dazu gehören u.a.
 die Gewichtung von Informationen,
 die Glaubwürdigkeit von Zeugen,
 was man klar sieht,
 was in Anbetracht der Sachlage gerecht ist,
 was man hätte erwarten können,
 mit welchem Ernst man die Dinge betrachtet,
 wie kompromissbereit man den anderen Geschworenen gegenüber ist.

Ethnomethodologische Forschungsfrage: Was macht eine Gruppe von
Entscheidern zu einer Gruppe von Geschworenen?

Kontrast zum BALESsche Untersuchungsparadigma von Gruppenaktivitäten
Praktische Verstehbarkeit sozialer Szenen

" ... in some way the good sense of somebody's inquiries was
for them observable and notable. It was available, somehow
or other, for that peculiar way of looking that a member has.
The peculiar way of searching, of scanning, of sensing, of
seeing finally but not only seeing-reporting. It is 'observablereportable'. It was available to observation and report."
(Garfinkel 1974: 17)

Beispiele für Selbst-Organisation sozialer Szenen:
 Raucher sein und als Objekt für Angebote in Frage kommen
 Eintritt in ein Amtszimmer
 Paare beim Einkaufsbummel
Konsequenzen aus Garfinkel‘s These*

Gesellschaftliche Wirklichkeit ist eine Vollzugswirklichkeit

Das heißt: diese Wirklichkeit wird
 andauernd (ongoing),
 in der Situation (local)
 audio-visuell (durch Hören und Sprechen, Wahrnehmen und
Agieren)
 in der Interaktion erzeugt, bestätigt und weiterentwickelt

Mitglieder („members“) sehen sich ständig mit zwei praktischen
Fragen konfrontiert:
 What to do next?
 Why that now?
Die ethnomethodologische Grundfrage
"The ethnomethodologist continually ask the technical
question, 'How is that social activity done?'. Harvey
Sacks keeps this question in front of him by using the
verb 'to do' in thinking about social activities'. He refers to
arguing as doing arguing; being embarrased as doing
embarrasment; exclaiming as doing exclaiming,
questioning as doing questioning etc. In this way he tried
to keep focused on the methodical ways in which
social activities are produced by members of the
culture."
(CHURCHILL 1971: 183)
Frühe Untersuchungen des „Wie“

Ryave/Schenkein (1974):
 Die Kunst des Gehens auf der Straße

Garfinkel (1967):
 Doing gender im Falle einer Transsexuellen

Sacks (1974):
 Wie macht man einen Witz?

Sacks (1984):
 On doing ‚being ordinary‘
Gruppenarbeit

Überlegen Sie, wie eine ethnomethodologische
Konzeptualisierung von „Familie“ aussehen würde und
welche Konsequenzen sich daraus für die empirische
Familienforschung ergeben?

Analog für die folgenden Konzepte unterschiedlicher
Disziplinen:
 „Glaubwürdigkeit“ (Forensische Psychologie)
 „Klientenorientierung“ (Sozialpädagogik)
 „Professionalität“ (Berufssoziologie)
 „Selbstmord“ (Medizin)
 „Schuld“ (Rechtswissenschaft)
Andere ethnomethodologisch respezifizierbare
„soziale Tatsachen“




Prüfung

Bildungssoziologie
Authentizität

Kunstwissenschaft
Hilfebedürftigkeit

Sozialarbeit
Behinderung

Rehabilitationswissenschaft



Motive
 Rechtssoziologie
Interview/Test
 Testtheorie und
Methodenlehre
Exklusivität
 Medienforschung
Kontextgebundenheit von Äußerungen (Indexikalität)

Indexikale Äußerungen (z.B.: ich, wir; jetzt, dann, dies; Flasche, Baby,
Heinz; es zieht, mach die Türe zu) nur verständlich, wenn man den
Kontext in Rechnung stellt.

Kommunikation besteht wesentlich aus solchen kontextgebundenen
Äußerungen

Eine Reinigung der Sprache von solchen Ausdrücken nicht möglich.

Sprachlichen Interaktion daher strukturell vage und auf Entfaltung
von Bedeutung ausgerichtet (wesensmäßige Vagheit zeigt sich bei
Erschütterungsexperimenten).

Verstehen: andauernder Prozess der gegenseitigen Vergewisserung
Frühe Konversationsanalyse

Protagonisten: Sacks und Schegloff; Studenten von Harold Garfinkel
in Los Angeles und Erving Goffman in Berkeley

Tradition der formalen Soziologie (Ahnherr Georg Simmel)

Programm,
„die Möglichkeit für die Begründung einer naturalistisch
beobachtenden Disziplin zu erforschen, die in rigoroser,
empirischer und formaler Weise mit den Einzelheiten und Feinheiten
von sozialen Handlungen umgehen konnte“
(Schegloff/Sacks 1974: 233)

Reproduktive Forschungstechnologie: Tonband und Video

N.B.: Konversationsanalyse ist Interaktionsforschung (talk-ininteraction) und keine Gesprächs-Forschung
Warum sich Sacks für Gespräche interessierte…
His concern was with
 how ordinary activities get done methodologically and
reproductibly, and
 the organization of common sense theorizing and
conduct which was relevant to those enterprises.
 Clearly, he found talk, or what was being done through talk, of
interest before coming upon taped materials - else he would
not have been jotting overheard bits in notebooks. But the
taped material had clear attractions when it became
available as a resource, and the talk invited being dealt with as
an activity in its own right.
 But that was something that turned out from experience, not
something that had been aimed at, or 'theoretically projected'.
(Schegloff: Introduction in Sacks 1992, xvii)
Georg Simmel (1858 - 1918)
Erving Goffman (1922 - 1982)
Goffman und Sacks
Goffman soll auf die Frage, ob Sacks sein Schüler gewesen
sei, geantwortet haben: "What do you mean; I was his
student!". Auf jeden Fall hat Goffman Sacks nach sich
selbst und dem San Francisco Chronicle am häufigsten
überhaupt zitiert.
Ab etwa 1961 war die Auseinandersetzung mit ihm für die
Entwicklung und Ausarbeitung des Goffman‘schen
Forschungsprogramms von zentraler Bedeutung.
Allerdings entwickelte sich später eine erhebliche
Spannung, die sich u.a. darin ausdrückte, dass Goffman aus
dem Ph.D.- Commitee von Sacks ausschied (allerdings
nach langen Überredungsversuchen von Aaron Cicourel
überhaupt daran teilzunehmen).
Harvey Sacks (1938 - 1975)
Emanuel Schegloff (* 1938)
Konversationsanalytische Heuristik
Wir gingen und gehen immer noch von der Annahme aus (einer Annahme, die sich
aus unserer Forschung ergab), dass das Material, mit dem wir arbeiten, wenn es eine
Geordnetheit zeigte, diese Geordnetheit nicht nur uns zeigte, ja nicht einmal in
erster Linie uns, sondern den Beteiligten, die dieses Material produziert hatten
Wenn das Material (Aufzeichnungen natürlicher Gespräche) geordnet war, dann
deshalb, weil es die Mitglieder einer Gesellschaft füreinander auf methodische
Weise produziert hatten. Und es war ein - von uns als Untersuchungsobjekt
betrachtetes - Merkmal der Gespräche, dass sie in einer Weise produziert wurden,
die es den Gesprächsteilnehmern möglich machte, wechselseitig füreinander sowohl
die Geordnetheit dieser Gespräche aufzuzeigen, als auch offen zu legen, wie sie
diese Geordnetheit analysierten, verstanden und benutzten.
Dementsprechend versuchen wir mit unserer Analyse zu explizieren, mittels
welcher Methoden unser Material von den Gesellschaftsmitgliedern als geordnetes
Material produziert wird, - als Material, das seine Geordnetheit offenbart, dessen
Geordnetheit von den Gesprächsteilnehmern erkannt und benutzt wird, und in
dem dieses Erkennen zum Ausdruck gebracht und als Grundlage für nachfolgende
Handlungen in Anspruch genommen wird.
Schegloff/Sacks 1974, S. 234
Konversationsanalytische Heuristik

Es geht der Konversationsanalyse um die empirische Ermittlung

von systematischer Verfahren mittels derer

die Teilnehmer an einem Gespräch

im Vollzug ihrer sprachlichen Handlungen

die Geordnetheit der sprachlichen Interaktion herstellen

mit denen sie das Verhalten ihrer Handlungspartner auf die in ihm
zum Ausdruck kommende Geordnetheit hin analysieren

Und mit Hilfe derer sie das Resultat ihrer Analyse wiederum in ihren
Äußerungen manifest werden lassen.
‚Methodologie‘

Rekonstruktion der Methodologie im Feld und der Kompetenz der
Mitglieder. Dazu benötigen CAer eine Technologie der Entdeckung.

Entdeckungsschritte und analytische Verfahren sind aber untrennbarer
Bestandteil des Phänomens selbst. Die Mitglieder müssen dasselbe tun, um
mit ihrer Handlungssituation fertig zu werden.

Vorgehen muss seinem Gegenstand angepasst sein (unique adequacy requirement).
Sie sind dies in dem Maße, in dem sie selbst ihrem Gegenstand angehören.

Die opportunistische Anwendung festgelegter Methodologie verbietet sich

Programmatisch ‚theorielos‘ und uninteressiert an materialfreien
Grundlagendiskussionen; auch an entsprechender Selbstverteidigung.

Dennoch eines der härtesten Forschungsprogramme in den
Sozialwissenschaften und vermutlich das mit dem höchsten Grad an
Kumulativität.
„Analytische Mentalität“ (Schenkein)*

CAs share a number of central methodological commitments and
substantive orientations ...

rooted in the close scrutiny of naturally occuring interactions,

that have been recorded and transcribed in their productional details

materials not elicited, remembered or invented for illustration

collected in their natural environments

with no prefigured hypothesis.

Erklärt werden soll nur das Material (nicht Beleg für "größere" Themen)

Akzent auf der Methodizität der Interaktion in ihrem sequentiellen Ablauf
„Analytische Mentalität“ (Schenkein)

Suche nach der Grammatik der ‚natural conversation‘.

nach der Vermittlung von allgemeinen organisierten Strukturen und den
Besonderheiten des jeweiligen lokalen Kontextes

Beschränkung auf Beschreiben und nicht auf Erklären oder Verstehen (das
bleibt den Mitgliedern!) sozialer Handlungsvollzüge.

Kein Rückgriff auf Kontextvariablen oder analytische Unterstellungen

Alle Praktiken sind fundamental unabhängig von den motivationalen,
psychologischen und soziologischen Charakteristika der Beteiligten.

Der Leser soll in der Tendenz alle Unterlagen der Analyse einsehen können.

Diese Haltung einer „disziplinierte Subjektivität“ kann man eigentlich nur
durch praktische Arbeit bzw. den Nachvollzug von bestehenden Studien sich
aneignen (wie Klavierspielen, Operieren und Uhren herstellen).
Interview:
Objektives und parteiliches Fragen
Clayman 1988
Bitsch, Fröhlich
Psychiatrische Exploration:
Diskrete Erhebung von psychischen Störungen
Bergmann 1999
Römermann
14.6.
Beratung:
Ein Klient wird gemacht
Bittner 1981
Riemere
21.6.
Therapie:
‚Mhms‘ und andere hilfreiche Interventionen
Wolff/Meier 1995
Rosenkranz, Seidel
Maynard 1992
Rüter, Saupe
Feuerwehr-Notrufe:
Klärung von Hilfsbedürftigkeit
Bergmann 1993
Häßler, Dopke
Gericht :
Prüfung der Glaubwürdigkeit
Wolff/Müller 1995
König, Bühnemann
05.7.
Arbeitsbesprechungen:
Fokussierung der Aufmerksamkeit im Team
Meier 1997
Gunkel, Brückner
12.7
Politische Rede:
Wie man Applaus macht
Atkinson 1984
Seidler, Terhorst
07.6.
Arzt-Patient-Gespräch:
Wie überbringt man schlechte Nachrichten?
28.6.
Diskussionsfrage
Warum sind reale Abläufe
für Sozialwissenschaftler
so langweilig?
Aufzeichnungen von Daten

Das revolutionär Neue (gegenüber Sprachsoziologie, Linguistik und
Sprachphilosophie): Interesse für das, was in realen Gesprächen abläuft.

Vermeidung von Interview, Experiment, Beobachtung und anderen Formen
rekonstruierender Konservierung von Ereignissen.

Erzählung, Interview, Tagebuch sind Formen der retrospektive
Sinnstiftung (‚rekonstruktive Gattungen‘)

CA-Material: rohe, nicht transformierte Aufzeichnung, gewonnen durch
eine registrierende Konservierung (Bergmann 1985).

Material soll wiedergeben, was und wie etwas gesagt wurde; alles das, was
die Beteiligten in der Situation gehört bzw. wahrgenommen haben.

Analyse soll dem Prozess des sequentiellen Vollzugs sozialer
Wirklichkeiten analog sein (nie retrospektiv verfahren!).
Transkriptionen von Aufzeichnungen (1)

Unsere Ohren und Augen sind zu langsam, zu interpretativ und zu
schnell ermüdend für eine direkte Analyse der Bänder.

Deshalb ist die Transkription nicht nur hilfreich, sondern
unumgänglich. Sie soll Inhalt und Realisierungsform wiedergeben.

Transkriptionen sollen ‚lesbar‘ bleiben (Gegensatz: phonetische Analyse)

Transkriptionen sollen detailliert sein und ggf. auch andere Einsichten als
die des Untersuchers ermöglichen (Detaillierungsüberschuss).

Transkriptionen sollen pragmatisch und ökonomisch realisierbar sein.

Transkripte stellen immer einen Kompromiss dar.
Transkription von Aufzeichnungen(2)

Gail Jefferson entwickelte das CA-Standardtranskriptionssystem

Dieses bietet eine orthographisch kontrollierte Transkription,

die die gesprochenen Äußerungen in ihrem Inhalt bewahrt, und darüber
hinaus

mit einer Reihe diakritischer Zeichen die Art der
Äußerungsrealisierung und

des Gesprächsablaufs zu erfassen sucht.

Varianten: Einbeziehung von Blick (Charles Goodwin), Gestik
(Christian Heath) sind bislang nur additiv und wenig elaboriert.
Transkriptionssymbole
[
Beginn einer Überlappung, gleichzeitiges Sprechen mehrerer
Teilnehmer
]
Ende der Überlappung
(1,5)
Pause in Sekunden
(-)
kurze Pause von ca. ¼ Sek.
=
schneller Anschluss, schnelles Sprechen
::::
Dehnung, Anzahl der Doppelpunkte entspricht in der Dehnungslänge
Ja
betont
JA
laut
º werº leise
°°wer°° sehr leise
.;
stark bzw. schwach sinkende Intonation
?,
stark bzw. Schwach steigende Intonation
weshal- Abbruch einer Äußerung
(sehr) unsichere Transkription
()
Äußerung unverständlich
((hustet))Anmerkung des Transkribenten zu Phänomenen, die nicht direkt im
Transkript notiert sind; Situationskommentare
Notationssystem eines aktuellen Forschungsprojekts
1.
Sprechersiglen bestehen in der Regel aus zwei Grossbuchstaben, die jeweils für eine
bestimmte Teilnehmerkategorie (z.B. R für Richter) und „M“ oder „W“ für männlich oder
weiblich stehen. Sollte der Sprecher nicht identifizierbar sein, dann wird die Äußerung markiert
mit „?“M oder „?W“ bzw. mit „??“ markiert.
2. Charakteristika der Äußerungsrealisation
wie wir.
stark fallende Intonation
wie wir;
schwach fallende Intonation
wie wir,
schwach steigende Intonation
wie wir?
stark steigende Intonation
nein!
angeregter/ heftiger Tonfall
nei:n
Dehnung des vorhergehenden Lautes (Länge entsprechend der Zahl
der Doppelpunkte)
nein
Betonung
NEIN
größere Lautstärke (außer bei den Anfangsbuchstaben von
Substantiven und bei Abkürzungen)
nein
leise
und waAbbrechen einer Äußerung
>und was<
schnellere Sprechgeschwindigkeit zwischen den Keilen
<und was>
langsamere Sprechgeschwindigkeit zwischen den Keilen
3. Weitere hörbare Phänomene
pt
Laut beim Öffnen der Lippen
tch
Schnalzlaut
.hhh
hörbares Einatmen durch den Mund (Länge entsprechend der Zahl der „h“)
hhhhörbares Ausatmen (Länge entsprechend der Zahl der „h“)
(h)
Lachimpulse innerhalb eines Wortes
@
Lachen bzw. lachend gesprochen
£
lächelnd gesprochen; kann auch mit „smiley voice“ kommentiert werden.
Lautliche Phänomene, die nicht verschriftet werden können, werden in doppelte Klammern
gesetzt, wie z.B. „((hustet))“ oder aber in der letzten Spalte erklärt.Nicht verständliche Äußerungen
werden in runden Klammern und Leerzeichen, also (
) oder (xxxxxxxxx) wiedergegeben;
Mutmaßungen darüber, was gesagt wurde, stehen ebenfalls in runden Klammern: (wissen Sie).
4. Übergänge zwischen Äußerungen und Äußerungseinheiten
Lücken im Redefluss werden in Intervallen von jeweils zwei Zehntelsekunden
angegeben; z.B. (1.2). Eine Klammer mit einem einzelnen Punkt, also (.) kennzeichnet
Eine Mikropause von etwa 0,1 Sekunden.
Überlappungen zwischen Sprechern werden mit eckigen Klammern, also [
angegeben.
5. Interaktion zwischen Sprechern
Wenn ein Sprecher einen anderen Teilnehmer oder den Moderator anguckt, wird dies
in der letzten Spalte mit einem ► markiert.
Arbeitsempfehlungen
Arbeitsempfehlung 1: Schätze die Oberfläche!
Behandle soziale Tatsachen grundsätzlich als interaktive Leistung.
Die Geordnetheit des Geschehens darf nicht "hinter" diesem - etwa in den Köpfen der
Beteiligten oder in gesellschaftlichen Funktionserfordernissen - gesucht und sollte auch
nicht von den sozialwissenschaftlichen Interpreten aus ihrer Kenntnis der
Rahmenbedingungen der betreffenden Situation heraus ergänzt werden (jede Art von
Motivunterstellung verbietet sich).
Arbeitsempfehlung 2: Order at all points
Versuche, das gesamte Material in die analytische Rekonstruktion einzubeziehen, d.h.
kein noch so irrelevant erscheinendes Datum oder Detail von vorneherein aus der
Analyse auszublenden. Die von den Beteiligten interaktiv hergestellte Geordnetheit
prinzipiell überall zu finden ist, d.h. dass alle sozialen Tatsachen, selbst die banalsten,
einen sich selbst organisierenden Charakter haben. Analysen sollten das gesamte
Material einbeziehen.
"It is perfectly possible (...) to suppose (...) that wherever one happens to attack
the phenomenon one is going to find detailed order. That is, one may (..) take it
that there is order at all points." (Harvey Sacks zit. nach Jefferson 1983: 1)
Ungeahnte Relevanz von ‚sweet little nothings‘

Mhm (Wolff/Meier 1995)

Nyem,Nya (Jefferson 1978)

So (Meier 1997)

Oh (Heritage 1984)

(...) (Bergmann 1980)
Beobachtungen unter demMikroskop:
Was leisten ‚mhms‘?

Großer Anteil an den Äußerungen (nicht nur) von Therapeuten

Ermöglichung längerer Redebeiträge

‚Verstärkung‘ bestimmter Äußerungen (Referenz auf Empfinden)

Positionierung an Übergabe relevanten Stellen (ähnlich Husten,
Gestik, Nicken etc.)

Vorenthalten von ‚mhms‘:
 Induzieren Innehalten, tags und Nachfragen
 ‚Operatives Schweigen‘ löst Reformulierungen aus
Vorenthalten
von
‚mhms‘
Einfordern
des ‚Mhm‘
durch ein tag
‚Mhm‘ als Verstärker
‚Mhms‘ als Mittel,
um wieder in die Zuhörerposition zu kommen
Schweigen (Bergmann 1982: 144)

Schweigen erhält seine Bedeutung ausschließlich aufgrund seiner
Einbettung in andere Äußerungen.

Isoliert von seinem Kontext im Gespräch ist Schweigen buchstäblich
nichts (ähnlich Minimaläußerungen, "so").

Frage: "wie kann dieses Nichts, das wir Schweigen nennen, für die am
Gespräch Beteiligten überhaupt bedeutungshaft werden?

Wenn Schweigephasen durch ihre Extraktion aus dem Gesprächskontext,
in dem sie lokalisiert sind, bedeutungsleer werden, muss umgekehrt gelten,
dass die spezifische Gesprächsumgebung, in der ein Schweigen sich
entwickelt, als primäre Ressource seiner Interpretation dient.

Schweigen ist damit eines jener Gesprächsobjekte, bei denen die
Beantwortung der Frage, was sie zu bedeuten haben, ganz entscheidend
davon abhängt, wo sie platziert sind."
Kontextunabhängig-kontextsensitiv

Soziale Interaktion ist immer kontext-gebunden. Gesprächsmaschine muss
gleichwohl kontext-unabgängig funktionieren

Lösung: Zwillingscharakter von Kontextunabhängigkeit und
Kontextsensitivität.

„Es ist die kontextunabhängige Struktur, die festlegt, wie und wo die
Kontextsensitivität sich entfalten kann. Die Besonderheiten des Kontext
werden aus systematisch organisierte Weise und an systematisch organisierten
Stellen zum Ausdruck gebracht, und wie und wo dies geschieht, wird durch
die kontextunabhängige Organisation bestimmt.“
(Sacks/Jefferson/Schegloff 1974: 699)

Kontextabhängigkeit ist in der Weise zu untersuchen, dass aufgezeigt wird,
dass und wie die Interaktionsteilnehmer den Kontext analysieren und das
Ergebnis ihrer Analyse bei der Abwicklung ihrer Interaktion anwenden.

Daher: Kontext nicht von außen in die Analyse importieren!
Arbeitsschritte
1.
‚Einfache‘ Beobachtungen
Schegloff (1968): Der Angerufene spricht zuerst
Pomerantz (1978): Zustimmungen sind anders konstruiert als
Ablehnungen
Sachs, Schegloff, Jefferson (1978): Nicht alle reden gleichzeitig
Notwendig: Befremden des Selbstverständlichen
2.
Wiederkehrende Muster
Frage: Steckt hinter den Beobachtungen eine Ordnung?
Anlegen einer Kollektion von Fällen
Bergmann (1991): Beginn von psychiatrischen Aufnahmegesprächen
3.
Ist die Ordnung von den Beteiligten methodisch erzeugt?
Bloße Häufigkeit oder gemachte Ordnung?
Heuristische Frage: welches strukturelle KommunikationsProblem wird hier gelöst?
Schegloff/Sacks (1974): Gesprächsbeendigung
A: Okay
B: Okay
A: Bye, bye
B: Bye, bye

Frage: Für welches strukturelle Problem ist das eine
methodische Lösung? (‚Oberfläche‘ als Lösung behandeln)

Beendigungsproblem: Wie halte ich die Gesprächsmaschinerie
an?

Aufgabe der Analyse: Beschreibung eines methodischen
Apparats, der dafür sorgt, dass die strukturellen Probleme für
die Interagierenden ‚unproblematische Probleme‘ bleiben
(member competence)
Techniken der Validierung
1.
Eigene Intuition (armchair ethnomethodology)
Sacks 1974: „The baby cried. The mommy picked it up“.
2.
Verstehen der Teilnehmer im nächsten Redezug als Evidenzquelle.
A:
Hast schon von dem neuen Angriff der Serben gehört
B:
Nein. Was ist passiert?
A:
Nein. Das war eine Frage.
3.
Beobachtung abweichender Fälle (deviant case analysis)
Versuchen die Mitglieder die Irregularität zu reparieren?
Ziehen sie aus dem Nichteintreten des erwarteten Ereignisses
Schlussfolgerungen?
Liefern Sie Erklärungen für die Verletzung der erwarteten Ordnung?
Beispiel: Einladung - Ablehnung




CA und Statistik

CA kein Ort für statistische Analysen

Variationen werden nicht als Fehlervarianz gesehen

Jeder Fall wird als geordnet betrachtet ("order at all points“ - Maxime).

Die Grundgesamtheit ist das jeweils zur Verfügung stehende Material.
Die Feststellungen gelten aber für das gesamte Material.

Darüber hinaus gehende Aussagen über Generalisierbarkeit werden
nicht getroffen. Deshalb Variabilität des Datenmaterial wichtig.

Ein anderer Grund ist, dass sich ein Gegenstand ("oh„,
Unterbrechungen) je nach Intonation und vor allem nach sequentieller
Einbindung seine Bedeutung verändern kann.
Redezugverteilungssystem (1) (turn-taking-system)

Interaktionen bestehen aus einer Vielzahl wechselseitiger Redezüge
(turns), die Zug-um-Zug abgewickelt werden.

Ein zentrales Strukturmerkmal von Interaktion ist demnach die Ordnung
der Verteilung der Redezüge unter den beteiligten Interaktionspartnern

Der klassische Text der CA beschäftigt sich mit diesem Thema: Sacks,
Harvey/Jefferson; Gail/Schegloff, Emanuel: A Simplest Systematics for
the Organization of Turn Taking for Conversation. Language 50 (1974):
696-735 (abgedruckt auch in Schenkein 1978)

Was beobachten wir diesbezüglich? (Einfache Beobachtungen)
 dass von den Sprechern hauptsächlich immer nur einer spricht
 dass der Sprecherwechsel relativ bruchlos erfolgt, und
 dass beim Übergang kaum Überlappungen und Pausen auftreten.
Redezugverteilungssystem (2) (turn-taking-system)

Konversationsanalytiker fragen nach der ‚Maschinerie‘, die es den
Beteiligten erlaubt, Sprecherwechsel abzuwickeln.

Beispiele zeigen, dass der Sprecherwechsel bei unvollständigen, ja sogar bei
abgebrochenen Äußerungen in außerordentlicher Schnelligkeit funktioniert,
dass er ganz unabhängig von der Länge der Redebeiträge, unabhängig von
den betreffenden Situationen, Gesprächsgegenständen oder der Zahl und
den Identitäten der Beteiligten glückt.

Das gesuchte System muss kontext-frei und zugleich, weil es in allen
möglichen Situationen eingesetzt werden kann, kontext-sensitiv sein.

Die Maschine ("simplest systematics") besteht aus zwei Bestandteilen:
 einem Aggregat für die Redezugkonstruktion ("turn constructional
component"), das angibt, wann ein Redezug zu Ende, d.h. grundsätzlich
abgebbar ist und wann demzufolge ein Wechsel möglich wird
("completion point")
 TRP: Transition relevant points: Übergabe-relevante-Stellen
Redezugverteilungssystem (3) (turn-taking-system)

einem Aggregat der Redezugverteilung, über das bestimmt wird, wer als
"nächster Sprecher" an der Reihe ist ("turn allocation component"). Diese
Komponente sagt dem Sprecher, wie er verfahren soll an Stellen, an denen ein
Wechsel von einem gegenwärtigen zu einem nachfolgenden Sprecher möglich
wäre)

Es besteht aus drei basalen Regeln:
1.
Wenn der bisherige Redezug so organisiert ist, dass der gegenwärtige Sprecher
einen nächsten Sprecher auswählt, dann hat diese Person das Recht den
nächsten turn zu beginnen.
2.
Wenn der bisherige Redezug keine solche Komponente "current speaker selects
next" enthält, dann kann eine Selbstauswahl eines der Beteiligten geschehen
nach dem Motto "wer zuerst kommt, mahlt zuerst".
3.
In diesem Fall hat auch der bisherige Sprecher das Recht, sich selbst als den
nächsten Sprecher auszuwählen (d.h. fortzufahren)

Das System ist rekursiv, d.h. wenn 3. eintritt und dann der Redezug des
ursprünglichen Sprechers einen möglichen "completion point" erreicht, wird es
wieder in Kraft gesetzt. Dies wird rekursiv fortgesetzt, bis ein Transfer zwischen
den Sprechern stattgefunden hat.
Implikationen

Allein der Umstand, dass der erste Sprecher das Recht hat,
den nächsten auszuwählen, verhindert, dass es zu
massenhaften Selbstauswahlen der anderen kommt.

Wer ungefragt drankommen will, muss seine
Unterbrechung genau an einer Übergabe relevanten
Stelle platzieren.

Wer nicht unterbrochen werden will, hat seinen Redezug
entsprechend "zu armieren" (etwa über Intonation,
Beschleunigung, Stimmhebung, Einbau von „und“).

Auf der anderen Seite ist von strategischer Bedeutung, wer
die Sprecherwahl vornimmt.
Blick auf Gesprächsanfänge




Beginn mit dem Gesprächsanfang am Material aufgezeichneter
Telefongespräche.
A:
B:
Hier spricht Frau Wolff; kann ich Ihnen helfen
Ja, hier spricht Frau Bittner. Ich hätte gerne ...
C:
D:
C:
D:
Hier spricht Frau Wolff; kann ich Ihnen helfen
Ich kann Sie nicht verstehen
Hier spricht Frau Wolff
Wolff
Beispiel 1: Frage nach dem Namen von B ohne Frage
Beispiel 2: D signalisiert Schwierigkeiten mit der Angabe des Namens ('deviant
case').
Analytischer Schluss: Das, was Leute in zweiten Redezügen tun, hat etwas
damit zu tun, was der andere im ersten gesagt hat.
Aufforderung-Antwort-Sequenzen

A: Hallo
B: Hallo

X: (Läuten)
A: Hallo



A: Bill?
B: Was?
Aufforderung-Antwort-Sequenzen

Sie sind 2 Rede-Züge lang

Der erste Sprecher produziert den ersten Paarteil. Der zweite den zweiten Paarteil

Sie tauchen am Beginn von Interaktionssequenzen auf

Sie sind nicht-abschließend insoweit, als sie die Begegnung nicht beenden können

Der Sprecher, der den ersten Zug (Aufforderung) getan hat, ist verpflichtet wieder zu
sprechen, nachdem der zweite fertig ist

Der zweite Sprecher ist verpflichtet zuzuhören, obwohl er die Zugänglichkeit
kurzfristig aussetzen kann ("einen Moment bitte")

Solche Sequenzen sind nicht wiederholbar, nachdem die Antwort erfolgt ist. Sie
werden aber wiederholt, wenn keine Antwort erfolgt

Sie müssen nicht verbal ausgeführt werden (ganz analog organisiert sind Winken,
Handschlag, Kopfnicken)
Typische Paarsequenzen










Gruß - Gegengruß
Aufforderung - Anerkennung (Klingeln-Melden)
Verabschiedung -Verabschiedung
Frage - Antwort
Bitte - Befolgung
Feststellung - Zustimmung/Widerspruch
Einladung - Annahme/Ablehnung
Beschwerde - Entschuldigung/Rechtfertigung
Kompliment - Rücknahme/Akzeptierung
Selbstherabsetzung - positive Wertung
Eigenschaften von Paarsequenzen
1. Sie bestehen (mindestens) aus zwei Redezügen
2. Sie haben (mindestens) zwei Bestandteile
3. Der erste Teil wird von einem, der zweite Teil von einem anderen Sprecher
produziert.
4. Die Sequenzen finden sich in unmittelbar aufeinander folgenden Redezügen
5. Die zwei Teile sind relativ zueinander geordnet (zuerst Klasse der first pair
parts - dann Klasse der second pair parts)
6. Die zwei Teile sind diskriminativ aufeinander bezogen (the pair type of
which the first is a member is relevant to the selection among second parts)
Konditionelle Relevanz

Die beiden Teile befinden sich in einer Beziehung einer konditionellen
Relevanz; der erste Teil etabliert eine normative Erwartung im Hinblick auf
die von Gesprächspartner zu formulierende Nachfolgeäußerung
A: Erster Paarsequenzteil
Konditionelle Relevanz
B: Zweiter Paarsequenzteil
Beispiel:
A: Kommen sie jetzt von zu Hause?
B: Ja
"Ja" erhält seine Bedeutung als Antwort nur durch seine sequentielle
Position.

Konditionelle Relevanzen bilden ein sinnstiftendes Korsett, in das wir von
unseren Interaktionspartnern eingezwängt werden; andererseits aber bilden sie
eine wichtige Interpretationsstütze. (Kinder im Fragealter)
Member‘ Problems
als methodische Ressource
Die Teilnehmer arbeiten selbst mit dem Apparat:
sie versuchen bei der Handlungsausführung bestimmte
"nexts" für den Interaktionspartner relevant zu machen;
sie reagieren ihrerseits
auf solche strukturellen Erwartungen und
analysieren die Beiträge ihrer Partner
bzw. machen ihre Analyse in ihren darauf folgenden
Reaktionen deutlich.
Wie Grüße die Welt verändern

Der erste Gruß verändert eine soziale Szene und zwar für beide. Der
Gegengruß seinerseits verändert die Szene wiederum und treibt je
nach seiner Realisation die Szene weiter.

Der Prozess der Selbstorganisation der Szene geht weiter oder bricht
im Falle des Grüßens bei gleich bleibender Schnelligkeit der
Vorübergehenden ab.

Der Rezipient des ersten Grußes ist notwendig in einer Wahlsituation
"gefangen", weil die Situation eine andere geworden ist und so jede
seiner Reaktionen als Wahl sichtbar macht. Die Norm, einen Gruß zu
erwidern, dient als Ressource für das Verstehen der Reaktion des
Rezipienten.

Das gilt auch und gerade für "abweichende Reaktionen".
Einschubsequenz

Es gibt Möglichkeiten, durch Expansion von Paarsequenzen die
konditionelle Relevanz vorübergehend aufzuheben.

Dies funktioniert wiederum über den Einschub von
Paarsequenzen, insbesondere solchen, die erklärtermaßen der
Klärung von Voraussetzungen dienen, die der zweite Sprecher zur
Realisierung des zweiten Paarsequenzteils benötigt.
I
a
b
II
A:
B:
A:
B:
Willst du nicht die Reste da auch noch aufessen
Hat der Horst schon gegessen
Ja ja der hat schon vorher
Ja dann nehm’ ich mir das da noch
Pre-Sequenzen

Paarsequenzen finden sich gehäuft an strategisch wichtigen Punkten der
Interaktion (Anfang, Schluss, Themenwechsel). Dort finden wir oft
vierteilige Strukturen:
a
b
a
b

1
1
2
2
A:
B:
A:
B:
Hast Du schon was vor heute?
Eigentlich nicht
Geste mit ins Kino?
Gute Idee
A:
B:
A:
B:
Okay
Okay mein Lieber
Tschüs
Tschüs
Man spricht hier von Pre-Sequenzen, (Pre-Invitation; Pre-Closing). Sie
bestehen aus zwei hintereinander geschalteten Paarsequenzen, bei denen
die erfolgreiche, d.h. positive Beendigung der ersten Teils die zweite
Paarsequenz konditionell relevant macht.
Präferenz für Zustimmung
A: Why don't you come to our party on Saturday?
(pause)
B: Well I'd like to but it's Hannah's birthday [marked rejection]

Dies wäre eine 'dispreferred' response. Die Zurückweisung ist markiert
durch ein Zögern und eine Erklärung, warum die eigentlich präferierte
Antwort nicht gegeben wurde.

Die Markierung selbst genügt als Ablehnung. Durch die Pause wird A die
kommende Ablehnung signalisiert. Er könnte auch von sich aus einlenken,
etwa mit „wahrscheinlich hast Du schon was vor ….

Eine bloße Ablehnung hat hingegen, da sie die Präferenzorganisation
erkennbar nicht berücksichtigt, ganz andere interaktive Konsequenzen:
A: Why don't you come to our party on Sunday?"
B: No
A: Whats the matter…
Pädagogische Kommunikation

Eine weitere Variationsmöglichkeit: eine Paarsequenz als erster Bestandteil
einer übergeordneten Paarsequenz. Damit kann diese Paarsequenz selbst
zum Gegenstand bestimmter Aktivitäten gemacht werden.

Das prototypische Beispiel bietet das typische Interaktionsmuster in der
Schule, das aus zwei aneinander gehängten Paarsequenzen besteht:
A:
(Lehrerfrage)
1. Paarsequenz
B:
(Schülerantwort)
2. Paarsequenz
A:
(Kommentar/Urteil des Lehrers)

Diese Strukturen sind rein formal und sequentiell. Sie lassen sich für/an
/von unterschiedlichsten Zwecke/Situationen/Beteiligten nutzen.

Man kann "Schule" auch auf einer Bergtour machen (Kroner/Wolff
1989).
Verständigungssicherung (1)

Kontextsensitivität manifestiert sich im rezipientenspezifischen
Zuschnitt von Äußerungen (recipient design)

Erkennbare Orientierung auf Merkmale der Interaktionspartner
und des Interaktionskontextes
 Beispiel: Grüßen in Hannover und in Wien (Guten Tag vs. Grüß
Gott); Grüßen am Berg (je nach Höhe und Entfernung von der
Seilbahn)

Bei der Interpretation von Äußerungen wird die Berücksichtigung
dieses Prinzips unterstellt bzw. erwartet
 Beispiele: Witz erzählen, wenn einzelne Beteiligten ihn schon
kennen; Texte, die sich an verschiedene Lesergruppen wenden;
ortsensible Bezeichnungen von Personen in Gutachten.
Verständigungssicherung (2): Reparaturmechanismen

Repairables: Fehler und Nicht-Fehler

Selbst- und Fremdkorrektur. Präferenz für
Selbstkorrektur. Fremdkorrekturen erfolgen vorzögert.
[aus Levinson 1983]
A: So I was wondering would you be in your office in Monday
by any chance
(2.0)
A: Probably not
Verständigungssicherung (3): Reparaturmechanismen

Vermeidung vom Fremdkorrekturen erlaubt Gesichtswahrung
unter Gleichen.

In asymmetrischen Verhältnissen (Schule, Militär) oder bei
Auseinandersetzungen (Talkshow) dagegen massiver Einsatz
von Fremdkorrekturen. Dies impliziert eine De-Qualifizierung
des Partners.

Repair-Maschine kann also zur Gestaltung einer Situation
eingesetzt werden.
Entwicklungstendenzen der CA

Untersuchung natürlicher Gespräche als baseline

Untersuchung institutioneller Gespräche (Gericht, Therapie,
Beratung, Interview)

Untersuchung von Phänomenen geringerer interaktiver Dichte
(Witze, Reden, Briefe, Gutachten)

Kategorisierungsanalyse bzw. konversationsanalytische Semantik:
(Akten, Medientexte, Filme)

Erweiterung der berücksichtigten Interaktionsmodalitäten
(Gestik, Blick, Mensch-Maschine-Kommunikation)

Verwendung von innovativer Software zu Transkription (cool edit)
Institutionelle Kommunikation

Institutionelle Kommunikation stellt eine situative Modifikation der
Gesprächsmaschinerie dar.

Frage: Was macht aus einem PrüfungsGESPRÄCH ein
PRÜFUNGSgespräch?

Institutionelle Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass die Zuweisung
von Rederechten, die Art der Äußerung und die Redefolge nicht locally
managed (wie im Gespräch), sondern vorgeregelt (turn- bzw. turn-type preallocation) ist. Zudem gliedern sich institutionelle Gespräche in sequenziell
abzuwickelnde Teilaktivitäten.

Im Gerichtsverfahren erfolgt die Zuweisung nur durch den Richter; kein
Verfahrensbeteiligter hat das Recht zur Selbstauswahl hat. Richter, Staatsanwalt
und Verteidiger äußern sich in Fragen und Feststellungen, Zeugen nur in Form
von Antworten auf Fragen. Nach dem Redezug fällt die Initiative immer an den
Richter zurück.

Dadurch sind Überlappungen bzw. Kämpfe um das Rederecht sehr selten.
Wann kann man von Kommunikation im
institutionellen Kontext sprechen?

wenn wenigstens einer der Teilnehmer eine Orientierung auf die mit
der jeweiligen Institution assoziierten Aufgabe zeigt;

wenn die institutionelle Interaktion eine spezifische Beschränkung
gegenüber einem alltäglichen Gespräch aufweist, die von wenigstens
einem der Teilnehmer so akzeptiert wird.

wenn von speziellen Interpretationsweisen (inferential
frameworks) ausgegangen werden kann.

Beispiel: So werden fehlende Mitleidsbezeugungen von Ärzten nicht
als mangelndes Einfühlungsvermögen angesichts des geschilderten
persönlichen Leids, sondern als Ausdruck professioneller Neutralität
interpretiert.
Institutionelle Gespräche (1)



Ein institutionelles Gespräch ist in der Regel in erwartbarer und
bedeutsamer Weise auf ein bestimmtes relevantes Ziel hin
ausgerichtet.
Die Beteiligten müssen sich an bestimmten Rollen und
Verantwortlichkeiten orientieren und sich so verhalten, dass
bedeutsame institutionelle Aufgaben oder Funktionen erfüllt
werden können In dem Maße, im dem diese Ziele unklar sind,
entsteht die Notwendigkeit, gemeinsam vor Ort eine Vorstellung
darüber zu entwickeln, um was es in der betreffenden
Interaktion eigentlich gehen soll.
Institutionelle Gespräche unterscheiden sich von
Alltagsgesprächen durch bestimmte Einschränkungen hinsichtlich
der Reihenfolge der Beteiligung, der Art der von den
verschiedenen Beteiligten verwendbaren Redezüge, aber auch
der Zuteilung von Handlungsmöglichkeiten durch bestimmte
Teilnehmer. Diese Einschränkungen bestimmen, was in der
betreffenden Situation getan werden kann ohne aus dem Rahmen
zu fallen.
Institutionelle Gespräche (2)

Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) schlagen vor, von einem „linearen
Ordnung“ dreier Redezugverteilungssysteme auszugehen.




An der einen Extremposition finden wir Gespräche, in denen alle
Redezüge schon vorgängig zugeteilt sind (wie im Kreuzverhör).
In der Mitte sind solche Gespräche lokalisiert, die sich durch einen
Mix von vorbestimmten und lokal zugeteilten Redeoptionen
auszeichnen (wie Teamsitzungen).
Schließlich gibt es noch solche Sprechsituationen, wo keinerlei
Vorbestimmtheit gegeben ist und die Redefolge und der Zuschnitt
der Äußerungen vor Ort geregelt werden müssen. Jedes dieser
Systeme hat bestimmte Funktionen und stellt besondere
Anforderungen an seine interaktive Realisierung.
Institutionelle Gesprächsformen zeichnen sich durch bestimmte
Ablaufformen bzw. Ablaufsequenzen aus. Sie müssen aus dem
alltäglichen Gesprächsfluss ausdifferenziert und am Ende wieder darin
eingefädelt werden, Themen sind zu finden und in methodischer Weise
gemeinsam abzuschließen, bestimmte Teilnehmerrollen müssen
eingenommen, durch Handeln bestätigt und aufeinander abgestimmt
werden usw..
Institutionelle Gespräche (3)



Ein institutionelles Gespräch ist zumeist durch die
asymmetrische Verwendung eines bestimmten Vokabulars durch
die verschiedenen Beteiligtenkategorien gekennzeichnet. So
verwendet ein Arzt, der sich zur Untersuchung zu einem
Kollegen begibt, zwar die medizinische Nomenklatur, markiert
aber seine Wortwahl so, dass die Asymmetrie der Arzt-PatientKonstellation gewahrt bleibt.
Um institutionelle Identitäten anzusprechen bzw. zu
konstituieren eignet sich der kontextsensible Einsatz von
Personalpronomina („ich“ oder „wir“). Daneben findet man in
institutionellen Gespräche eine Reihe von Qualifizierungsformen
der Rede, die zur Feineinstellung der Gesprächssituation, etwa
als einer, in der taktvoll delikate Themen behandelt werden,
dienen können (wie z.B. Litotes; Bergmann 1999).
Schließlich manifestiert sich das Besondere einer
institutionellen Interaktion noch durch die dort herrschenden
Formen der Bedeutungszuschreibung und des Schlussfolgerns.
Institutionelle Gespräche (4)


Während es in Alltagsgesprächen zum „guten Ton“
gehört, den Gegenüber nicht darüber im Unklaren zu
lassen, wie dessen Aussagen bei einem angekommen
sind, und ihm durch entsprechende Äußerungen
Überraschung, Sympathie, Zustimmung, oder
Solidarität zu signalisieren, halten sich institutionelle
Akteure diesbezüglich – z.B. wenn Laien ihre Probleme
schildern, Informationen geben oder Bitten formulieren
– auffallend zurück.
Da eine derartige Zurückhaltung in alltäglichen Verkehr
als Gemeinheit, Taktlosigkeit oder zumindest als NichtBeachtung ausgelegt werden kann, müssen Klienten
gelegentlich erst lernen, diese Zurückhaltung als
Ausdruck professioneller Kompetenz und
institutioneller Angemessenheit zu werten.
Institutionelle Gespräche (5)




Die Variationsmöglichkeit auf allen diesen Dimensionen bringt es mit sich,
dass institutionelle Gespräche auf der Skala von sehr weitgehender
Vorherbestimmtheit und Geordnetheit bis hin zu freien Aushandlung
variieren, bei denen die Differenz zur alltäglichen Konversation kaum mehr
erkennbar ist, so dass im Extremfall nur mehr die wechselseitige
Orientierung an der gemeinsamen Aufgabe das betreffende Gespräch als
besonderes kennzeichnet.
Auch in solchen Gespräche entwickeln sich vielfach lokale Identitäten und
kennzeichnende Asymmetrien zwischen den Beteiligten, aber eben nicht
solche, die in irgendeiner Weise normativ erwartbar oder gar sanktionierbar
wären.
Schegloff’s „procedural consequentiality“ lässt sich hier vor allem in der
Gestaltung des Gesprächsbeginns (der Festlegung der Agenda und der
wechselseitigen Aufgaben) bzw. der Beendigung von Begegnungen, in der Art
wie Informationen nachgefragt, bereitgestellt und aufgenommen werden,
sowie in der Form von Sachverhaltsbeschreibungen und Referenzierungen
erkennen.
Atkinson (1982): Formalität erweist sich insbesondere in solchen
Situationen als funktional erweist und auch vermehrt beobachten lässt, in
denen die Beteiligten vor Publikum agieren, d.h. eine „overhearing audience“
vorhanden ist.
Strategische Abschnitte bei der Untersuchung
institutioneller Gespräche

Gesprächseröffnung


Etablierung der institutionellen Identitäten
Übergang von einem alltäglichen zu einem institutionellen
Gespräch schaffen (doppelter Beginn)

Einführung des eigentlichen Themas und die Wortwahl
(relevantes Lexikon)

Gesprächsbeendigung (Übergang in die
Alltagskommunikation und in die diesbezüglichen
Identitäten)

Störungen aller Art
We are only able to
perceive
the environment
as composed of separate
things
by suppressing
our recognition of the
nothings
Edmund Leach
which fill the interstices
Beispiel: Psychiatrische Aufnahmegespräche

Beobachtung von Störungen: konditionelle Relevanz wird nicht
eingelöst.

Problem: zu bestimmen, wem die Pause ‚gehört‘
 Redezug interne Sprechpause (bei der Wortsuche)
 Freie Gesprächspause (schwer zu fassen; retrospektiv definierbar)
 Redezugvakanzen (beim Aktenausfüllen)

Klärung des Gründe für die Redezugvakanz
 Einladung zur Äußerungskomplettierung
 Selbstkorrektur des Sprechers im Hinblick auf Lautstärke und Inhalt
seiner Voräußerung, Reformulierung
 Korrektur initierende Äußerung
 Wiederholung der Aufforderung (Hm)
Beispiel: Psychiatrische Aufnahmegespräche

Der ‚dreimalige Versuch‘ als Verfahren der Normalitätsprüfung.

Das Schweigen des Gegenüber wird zum Interaktionszug (s.
Pollner/Winkler 1978).

Das Aufnahmegespräch vollzieht die soziale Tatsache ‚Aufnahme‘
sogar bei Verweigerung eines Teilnehmers, insofern dessen Schweigen
in konditionelle Relevanzen eingebaut und damit interaktiv bedeutsam
gemacht wird.
Beispiel: Wie sich Zeugen zu Zeugen machen
Notruf 1:
F:
Z:
F:
Z:
Feuerwehr
Grüss Gott, hier ist Hohlbrei.
Äh, ich bin grade die Grünstrasse lang gefahren, und zwar die Kurve
den Wald hoch,
Ja
und ist rechter Hand ne starke Rauchbildung mitten im Wald,
wollt ich nur melden
Notruf 2:
F:
Z:
Feuerwehr
Ja hier ischt Frau Köpf.
Sie, äh, ich war jetzt gerade mit den Hunden spazieren
und da, wo die Grillhütte ist in Kleinstadt, da ist eine sehr starke
Rauchentwicklung
Bekehrungserlebnis
X Saulus verfolgte noch immer mit fanatischem Hass alle
Christen. …
Y kurz vor Damaskus umgab Saulus plötzlich ein blendendes
Licht vom Himmel. Er stürzte zu Boden. Dabei hörte er
eine Stimme: "Saul, Saul, warum verfolgst du mich?„ "Wer
bist du, Herr?" fragte Saulus. “Ich bin Jesus, den du
verfolgst!" antwortete die Stimme. "Steh auf und geh in die
Stadt. Dort wird man dir sagen, was du tun sollst …
(Apostelgeschichte 9, 1ff)
Zeugenaussage
RM:
ZM:
RM:
ZM:
X
Y
Herr Schulze. Sie wissen worum‘s geht.
Ja.
Was können sie aus ihrer Erinnerung dazu sagen.
(1.8)
Ja - ich kann sagen wie es abgelaufen ist.
Wir sind sonntags (0.3) wollten wir (.) weggehen, spazieren
gehen; (1.3) und bei der Gelegenheit hatt‘ mer en Müll mit runter
genommen und alle Mülltonnen waren wieder mal (.) belegt,
mit Kisten (.) und so weiter. Ich hab die Kisten genommen; hab se
runter, getan; in den Kabuff der da (.) abgegrenzt war,
(1.5)
und auf einmal stand der Herr Kunz vor mir (1,0) und= dann flog
mir der erste Kasten auf den Kopf.
(1.6)
Das kanonische Format von Zeugenaussagen
Ich machte gerade X
etwas, was ich immer tue
 was ganz normal ist
was gar nichts mit der Sache zu tun hatte
 was meine Aufgabe war


als Y passierte
plötzlich
 von außen
 unvermeidlich
 unvorhersehbar

Das Problem des Zeugen

Während sich früher Zeugen auf verfahrensexterne Belege zur Begründung der
Wahrheit ihrer Aussagen berufen können (wie Gott, Ehre oder Reputation),
müssen sie heute ihre Glaubwürdigkeit wie die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen im
Verfahren und durch ihr dortiges Reden und Tun belegen.

Für die Zeugen besteht somit ein Darstellungsproblem. Sie müssen glaubwürdig
erscheinen. Das heißt praktisch: sich als glaubwürdig vor-führen

Dies ist schwierig, weil andere Beteiligte eine entsprechende Absicht in Rechnung
stellen und weil die Anforderungen an die Konsistenz der Darstellungen vor
Gericht höher sind als im alltäglichen Leben

„Ein-glaubwürdiger-Zeuge-sein“ ist keine Eigenschaft, sondern eine
voraussetzungsvolle Leistung der betreffenden Person. Ob sie gelingt, hängt aber
letztendlich von den anderen Beteiligten ab.

Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit sind soziale Tatsachen, die vor Ort von
den Beteiligten interaktiv etabliert und reproduziert werden müssen
Einsichten

Die Glaubwürdigkeit von Personen und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen
sind elementare Aspekte jeder sozialen Kommunikation

Wenn Menschen Dritten von Ereignissen berichten, deren Zeugen sie wurden,
dann verwenden sie immer bestimmte sprachliche Methoden der
Absicherung gegen Zweifel (practical epistemology)

Zweifel an dem Bericht beeinträchtigen den Status der Person und gefährden
die Beziehung zwischen dem Zweifler und dem Bezweifelten.

Glaubwürdigkeit/Glaubhaftigkeit und ihre Überprüfung sind für viele
Organisationen von Bedeutung (Sozialverwaltung, Kirche, Schule, Sport).
Besondere Relevanz kommt ihnen im Rechtsystem und dort vor allem im
Strafverfahren zu.

Die KA kann wichtige Alternative zur forensischen Psychologie bieten, indem
sie Glaubwürdigkeit als Interaktionsproblem respezifiziert.
Feuerwehrnotrufs als Mittel zur Wahrheitsprüfung

Im Anruf wird nicht nur Information übermittelt

Authentisierung des Anrufers
 Selbstidentifizierung
 Adressenangabe
 Phatische Elemente

Beteiligtenstatus
 Betroffene (eigene Problem, dankt selbst)
 Boten (Bezug zur Informationsquelle, keine Garantie für Wahrheitsgehalt,
kein Eigenanteil)
 Zeugen (Geschichte der ‚zufälligen‘ Wahrnehmung, sorgt sich um
‚Objektivität‘ nimmt Anerkennung entgegen)
 Identitäten und ihre Beziehung werden vor Ort etabliert

Orientierung der Beteiligten auf den strukturellen Zweifel in öffentlicher
Dienstleistungskommunikation (vgl. Zimmerman 1974 zu Sozialämtern)
Vorlaufsstruktur von Notrufgesprächen
A/F: Gesprächseröffnung
A: Bitte/Wunsch
F/A:
Abklärung der
F/A:
A
Voraussetzungen
zur Wunscherfüllung
F: Erfüllung bzw. Nichterfüllung
A/F: Gesprächsbeendigung
Beispiel: Politische Rhetorik

Retrospektive Definition sozialer Aktivitäten (Lachen beim
Witz)

Applaus wird analog dem Lachen als kollektiver Ausdruck der
Wertschätzung behandelt.

Typischer Applaus beginnt fast gleichzeitig mit voller Stärke
und hält diese etwa 8 Sekunden.

Frage: was sind Applaus würdige Äußerungen?
 Positive Bezugnahmen auf Personen
 Positive Bezugnahmen auf „uns“
 Unvorteilhafte Bezugnahmen auf „die anderen“
Politische Rhetorik (2)

Formate der kollektiv applaudierten Äußerungen
 Erwähnung von Namen
 Dreier-Liste
 Kontrast-Struktur
 Rätsel-Lösung

Charismatische Redner
 Beispiel: Martin Luther King

Zitierbarkeit
 Witze, Sprichwörter und Slogans
 Zeitungsmeldungen und TV-Berichte

Leistungsfähigkeit der Formate
 Sie erlauben eine exakte Antizipation des Endpunktes
 Sie sind ein ökonomischer Weg zur Zusammenfassung von Inhalten
 In Konflikten erlauben sie die Lage auf den Punkt zu bringen
 Deviant Case: Paraphrasierungen zerstören die Wirkung
Kontrast-Struktur
Dreierliste
Rätsel-Lösung-Format
Positionsübernahme
Format-Kombinationen
Slogans und berühmte Zitate
(1)-(2)-(3)Mitbürger! Freunde! Römer! hört mich an:
(1)–(2)
Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen.
(1)
Was Menschen Übles tun, das überlebt sie,
(2)
Das Gute wird mit ihnen oft begraben.
(Shakespeare, Julius Caesar, Grabrede des Antonius)
(1)-(2)-(3)Liberté, égalité, fraternité
Blut, Schweiss und Tränen
Ich kam, sah und siegte
(1)-(2)
Fly high, pay low. (German Wings)
(1)-(2)
Wie Kleingeld, nur besser (Geldkarte)
(1)-(2)
Bald ist es soweit …! (VW, Teaser-Werbung)
(1)-(2)-(3)Nimm gutes Mehl, nimm bessres Mehl, am besten
nimm gleich Rosenmehl
(1)-(2)-(3)Schöner machen, selber machen, D-C-Fix auf 1000 Sachen
Ehemann begeht Selbstmord,
Frau erwacht aus Koma
Beispiel:
Wie funktioniert eine Schlagzeile?
(Auszug aus Wolff (2005): Textanalyse, in: R.Ayaß/ J.Bergmann: Qualitative Methoden der
Medienforschung.Reinbek: Rowohlt (im Erscheinen)
Überschriften von Zeitungsartikeln (und andere Parolenartige Äußerungen auf Wahlplakaten oder in
Werbeanzeigen) sind ein beliebtes Thema der konversationsanalytischen Textanalyse. Sie bieten sich nicht nur wegen
ihrer leichten Zugänglichkeit, sondern auch deshalb als Untersuchungsgegenstand an, weil sie im Zusammenhang
der Mediennutzung eine bedeutsame Rolle spielen. Überschriften ermöglichen es die Aufmerksamkeit des Lesers auf
eine bestimmte Geschichte zu lenken; sie überreden ihn dazu, den annoncierte Bericht tatsächlich zu lesen, und
bereiten ihn schließlich auf eine bestimmte Lesart des Geschriebenen vor und instruieren ihn, wie er die folgende
Geschichte verstehen soll. Diese Punkte wollen wir an folgender (zufällig über Google News ausgewählten)
Schlagzeile nachvollziehen:
Ehemann begeht Selbstmord, Frau erwacht aus Koma
Diese hiermit annoncierte, ursprünglich aus Italien stammende Meldung erschien im Januar 2005 in den meisten
deutschsprachigen Tageszeitungen. Gut ein Viertel aller Überschriften war so wie wiedergegeben formuliert. Eine
weiteres Viertel ersetzt „Mann“ durch „Ehemann“. Manchmal wird noch ein „dann“ eingefügt. Bei der anderen
Hälfte der Überschriften werden dem Satz die Worte „Erschütterndes Ehedrama:“ vorangestellt, oder es ist von
„Romeo und Julia“ die Rede, verbunden meist mit einer Ortsangabe („in Italien“ oder „aus Padua“). Die analysierte
Schlagzeile stellt somit die knappste, d.h. die am meisten auf die rekonstruktive Mitarbeit des Lesers angewiesene
Variante dar.
Die Wirkungsweise des von Sacks angesprochenen ”Teilnehmer-Kategorisierungs-Apparats” (MCD) wird deutlich,
wenn man sich vor Augen führt, dass mit der Auswahl einer bestimmten Beschreibungskategorie zugleich auf
andere dazu passende ‚natürliche’ Kategorien verwiesen wird, mit denen zusammen sie eine ”Kollektion’ bildet In
unserem Beispiel verweisen die Bezeichnungen „Mann“ und „Frau“ auf die Kategorie „Ehepartner“ und beide
zusammen auf die Kollektion „Ehepaar“. Dieser Kollektionsbildung helfen manche Zeitungsredakteure noch
dadurch nach, dass sie ausdrücklich von „Ehemann“ sprechen. Wir haben somit eine Geschichte vor uns, die mit
der Beziehung beiden Personen als Ehepaar zu tun hat, nicht etwa mit einer Familienangelegenheit.

In einem standardisiertes Beziehungspaar gehen beide Partner typischerweise bestimmte
gegenseitige Verpflichtungen ein. Sacks spricht deshalb von einer R(esponsibility)Kollektion, in Abgrenzung zu K(nowledge)-Kollektionen, bei denen eine Wissensdifferenz
im Vordergrund der Beziehung steht (wie bei Arzt-Patient oder Professor-Student).

Von den beiden in der Überschrift genannten Personen kann man konventioneller Weise
erwarten, dass sie sich zu gegenseitigen Fürsorglichkeit, Unterstützung und
dauernder Gemeinsamkeit verpflichtet fühlen.

Sacks formuliert noch zwei Anwendungsregeln für die Handhabung des MCD: die
Konsistenzregel besagt, dass, wenn eine Population von Personen kategorisiert ist, und
eine Kategorie dieses MCD benutzt wurde um die erste Person zu charakterisieren
(„Mann“), dann sollte man die folgenden Kategorisierungen als aus diesem MCD
stammend hören. Dies macht verständlich, warum in keiner der Überschriften von
„Ehefrau“ die Rede ist bzw. sein musste. Ein kompetentes Gesellschaftsmitglied wird
nämlich zunächst einmal dieser „Hörermaxime“ folgen, d.h. beide Personen einer einzigen
Kollektion zuordnen. Dies schließt den Fall aus, dass die Frau zu einer ganz anderen
Paarbeziehung gehört.

Die Ökonomieregel besagt, dass grundsätzlich eine Kategorie zur Kennzeichnung einer
Person ausreicht. Der Ehemann mag noch Jäger, Parteimitglied oder Autofahrer sein, diese
Eigenschaften sind aber für die folgende Geschichte nicht relevant, die sich also primär
um den Aspekt ihrer Paarbeziehung dreht.

Die Kategorisierung geht über eine bloße Etikettierung insoweit hinaus, als mit einer Kategorie
bestimmte sozial erwartbare Handlungsweisen und Attribute verbunden sind. Dies gilt
ebenso umgekehrt: Wenn wir von einer Person hören, dass sie eine bestimmte
kategorienbezogene Aktivität ausübt, können wir auf eine bestimmte Kategorie bzw. Kollektion
schließen, der diese Person angehört.

Von einem Ehemann beispielsweise kann man erwarten, dass sich um seine kranke Partnerin
kümmert. Diese Frau ist aber nicht bloß krank, sondern lag über längere Zeit im Koma. Für
einen offenbar kinderlosen Ehemann ist ein Selbstmord in dieser Situation eine durchaus
nachvollziehbare Tat. Er ist Ausdruck einer besonderen, aber zu dieser Kategorisierung durchaus
passenden Emotionalität, nämlich des Wunsches dem geliebten Partner in den scheinbar sicheren
Tod zu folgen. Der Selbstmord ist eindeutig der Selbstmord eines Ehemanns, nicht etwa der
einer psychisch gestörten oder einer in möglicherweise verwerflicher Weise selbstbezogenen
Person. Man stelle sich die Veränderung der impliziten Moral der Aussage vor, wenn in der
Schlagzeile von einem „Vater“ die Rede gewesen wäre, insoweit als „Väter“ kategorisierte
Personen der institutionellen Erwartung unterliegen primär für ihre Kinder zu sorgen.

Wir können allein aufgrund der vorgenommenen Kategorisierungen und der weiten geschilderten
Aktivitäten darauf schließen, dass die Situation für den Ehemann hoffnungslos erschien und es
niemand gab, an den er sich noch um Trost wenden konnte.

Der Autor der Überschrift macht sich die implizite Leseregel zu Nutze, dass zuerst genannte
Begebenheiten auch vor den danach genannten abgelaufen sind (nur eine von etwa 50
Überschriften verwendete ein „dann“). Jeder kompetente Leser weiß nach diesen sechs knappen
Worten, dass ihn eine tragische Geschichte eines Liebespaars erwartet, denen es – wie Romeo und
Julia - nur im Tod vergönnt sein wird, wieder zusammen zu kommen.
Analyse der Überschrift: „Vater und Tochter im Schneechaos“
Konzept
Erklärung
Überschrift
Kategorie
Jede Person kann in vielen Formen korrekt
bezeichnet werden
Personen werden später als „Manager eines
Supermarkts“ und als „Studentin“
beschrieben
Membership
Categorization
Device
Kategorien lassen sich zu Kollektionen
gruppieren
MCD = „Familie“
Ökonomieregel
Eine einzige Kategorie reicht um eine Person
zu beschreiben
Es wird jeweils nur eine Kategorie verwendet
Konsistenzregel
Wenn eine Person als Mitglied einer
Kollektion identifiziert ist, dann rechne die
nächste Person auch dieser Kollektion zu!
„Tochter“ gehört zum selben MCD wie
„Vater“
Duplikative
Organisation
Wenn Kategorien als Team hörbar sind, dann
höre es so!
Diese „Tochter“ ist die Tochter dieses
„Vaters“
Kategorien
bezogene
Aktivitäten
Handlungen werden als mit bestimmten
Kategorien verbunden empfunden
Schneechaos hat nichts mit den Kategorien
„Tochter/Vater“ zu tun. Das macht den
Neuigkeitswert der Geschichte aus
Standardisierte
Beziehungspaare
(SRP)
Kategorienpaare sind miteinander in einer
Standardisierten routinemäßigen Weise
verbunden
„Vater“ und „Tochter“ sind verbunden durch
„Fürsorglichkeit“ und „Unterstützung“; wie
konnten sie gleichwohl in ein Schneechaos
geraten?
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