Lehrstuhl für Didaktik der Mathematik Grundbegriffe der Schulgeometrie SS 2008 Teil11 (M. Hartmann) Mathematik für die Lebenswelt handhabbar machen Fragestellungen aus Alltag und Arbeitswelt • Welche Menge an Farbe benötige ich für das Streichen des Zimmers? • Welche Menge an Sand darf auf den Hänger geladen werden? • Kann dieser Felsblock noch von diesem Kran gehoben werden? • … Charakteristika der Bearbeitung In der Realität • grobe Schätzungen • ohne Hilfsmittel (TR, FS, Stift, …) • schnelle Ergebnisse • zuverlässig Im Unterricht • exakte Ergebnisse • komplexe Lösungswege • Vielzahl an Hilfsmitteln • lange Lösungszeiten • geringe Erfolgsquote • Interpretationsprobleme Wie kann Unterricht handhabbare Mathematik vermitteln? 1. Stärkere Gewichtung von Schätzen und Überschlagen 1. Stärkere Gewichtung von Schätzen und Überschlagen • Benötigte Werte für Berechnungen werden in Aufgaben nicht vorgegeben, sondern müssen mit einfachen Mitteln geschätzt werden – Schätzwerte gewinnt man durch Vergleich mit bekannten Stützpunktgrößen – Eine Reihe von Stützpunktgrößen müssen auswendig beherrscht werden (Allgemeinbildung!) – Auf zentrale Stützpunktgrößen wie Körpermaße (Handspanne, Schrittlänge, …) oder andere typische Größenrepräsentanten wie Tafel Schokolade für 100g, Tetrapack Milch für ein Liter bzw. 1 kg, etc. muss permanent zurückgegriffen werden • Überschlägiges Rechnen wird nicht als exotisches Randthema in zwei Schulstunden abgehandelt, sondern durchgängig als Werkzeug in Sachaufgaben genutzt und trainiert 1. Stärkere Gewichtung von Schätzen und Überschlagen Beispiel aus dem Musterquali Teil I • Turmhöhe h gesucht – Körperhöhe eines Modells ≈ 1,85 m Stützpunktgröße! – Rest auf Etagenhöhe ≈ ⅓ der Körperhöhe ≈ 60 cm h Vergleich! – Etagenhöhe ≈ 2,45 m ⅓ – Turmhöhe ≈ 5 • 2,5 m ≈ 12,5 m Überschlag! Überschlag! 2. Motivierende Aufgabenstellungen im Umfeld der Schule 2. Motivierende Aufgabenstellungen im Umfeld der Schule aufgreifen Wie viele Personen benötigt man , um diese Tischplatte zu heben? Kann dieser Sitzblock von einer Person getragen werden? 3. Wahl günstiger Maßeinheiten 3. Zur Wahl günstiger Maßeinheiten anleiten 2 dm 20 cm 40 cm ungünstige Maßeinheit Volumen ≈ 40• 40• 40 cm³ = 64 000 cm³ Fehleranfällig durch unnötig hohe Stellenzahl 4 dm günstige Maßeinheit Volumen ≈ 4• 4• 4 dm³ = 64 dm³ hohe Ergebniszuverlässigkeit 3. Wahl günstiger Maßeinheiten Volumen der Platte 9 8 6 Kantenlänge ≈ 9 dm 3 dm 4 2 günstige Geeignete Maßeinheit G ≈ 9•9 dm² = 81 dm² ≈ 80 dm² Überschlag! h ≈ 3 dm V ≈ 240 dm³ ≈ ¼ m³ 3. Wahl günstiger Maßeinheiten Masse der Platte V ≈ 240 dm³ ≈ ¼ m³ 2, 4 g cm3 m V zu kompliziert! 4. Stützpunkt-Relativ-Prinzip 4. Stützpunkt-Relativ-Prinzip anwenden Wasser 1cm³ 1dm³ 0,5 x 2x 8x Holz Stein Eisen 1g 1 kg 4 dm³ 2 m³ 1m³ 1dm³ 1t 8 kg 1t 8 kg 4. Stützpunkt-Relativ-Prinzip Nun kann leicht geantwortet werden Wie viele Personen benötigt man , um diese Tischplatte mit 240 dm³ zu heben? …als Wasser 240 kg als Stein doppelt soviel also ≈ 500 kg Bei 50 kg Hebevermögen etwa 10 Personen Kann dieser Sitzblock mit 64 dm³ von einer Person getragen werden? …als Wasser 64 kg als Stein doppelt soviel also ≈ 130 kg Nö! 4. Stützpunkt-Relativ-Prinzip Überprüfung der Praxistauglichkeit Mathematik funktioniert! Ruck! Hau! 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Was macht man bei komplizierteren Formen? VKugel 4 3 r 3 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Vereinfachen und Verbildlichen: Kugelvolumen 4 3 41 3 Würfelvolumen Kugelvolumen r r 4r3 3 32 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Wenn die Masse der Kugel zum Kinderspiel wird… Durchmesser ≈ 1m Würfel V ≈ 1 m³ Kugel V ≈ 0,5 m³ Wasserkugel m ≈ 0,5 t Steinkugel m≈ 1t 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Gold ist Luxus aber faszinierend Wasser 1cm³ 1dm³ 0,5 x 2x 8x 20 x Holz Stein Eisen Gold 1g 1 kg Froschkönig d ≈ 10cm V ≈ 0,5 dm³ 1m³ 10 kg ! 1t 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Vereinfachung und Verbildlichung: Kreisfläche AKreis = r² AKreis ≈ 3,14 r² ≈ 3 r² AKreis ≈ ¾ AUmquadrat 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Vereinfachung und Verbildlichung: Zylindervolumen VZylinder = r²h GZylinder ≈ ¾ GQuader VZylinder ≈ ¾ VQuader 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Vereinfachung und Verbildlichung: Kegelvolumen VKegel = ⅓ r²h VKegel = ⅓ VZylinder ¾ VUmquader VKegel ≈ ¼ VQuader 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Vereinfachung und Verbildlichung: Kugeloberfläche OKugel = 4 r² OKugel = 4 • AKreis ≈ 4 • ¾ • AQuadrat OKugel ≈ 3 • AQuadrat = ½ • OWürfel 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln ≈3 Wie kann Unterricht handhabbare Mathematik vermitteln? 1. Stärkere Gewichtung von Schätzen und Überschlagen 2. Motivierende Aufgabenstellungen im Umfeld der Schule 3. Wahl günstiger Maßeinheiten 4. Stützpunkt-Relativ-Prinzip 5. Vereinfachen und Verbildlichen von Formeln Warum sollte im Unterricht auch handhabbare Mathematik vermittelt werden? Freihalten des Arbeitsgedächtnisses von unnötig komplizierten Verfahren (Entlastungsaspekt) Wahrnehmung von Mathematik als hilfreiches, einfach zu bedienendes Werkzeug (Motivationsaspekt) Befähigung zu den in Alltag und Arbeitswelt oft notwendigen Abschätzungen (Anwendungsaspekt) Wachhalten mathematischer Begriffe in Alltagssituationen (Rückwirkungseffekt) Aufrechterhaltung für die Begriffsbildung wesentlicher Vorstellungen (Begriffsbildungsaspekt) Verstärkung der Motivation, sich mit inhaltlichen Fragen der Sachsituation auseinanderzusetzen (Umwelterschließungsaspekt) Anspruchsvolle Aufgabe zum Selbsttest Die goldene Kuppel des Felsendoms „Der Felsendom (im Sinne von Felsenkuppel قبة الصخرةqubbat as-sachra) ist das wohl bekannteste Wahrzeichen Jerusalems … …Der Durchmesser des Innenkreises beträgt 1. Welche Oberfläche etwa 20,37 Meter. hat die Kuppel? 2. Welche Masse an Gold würde für eine Blattgoldbelegung etwa benötigt? 3. Welchem Goldvolumen würde das etwa entsprechen? Workshop Möglicher Schätzweg 1. Welche Oberfläche etwa hat die Kuppel? Oberfläche ≈ ½ • (20m)² = 600 m² 2. Welche Masse an Gold würde für eine Blattgoldbelegung etwa benötigt? Für 1 m² sind 2 g nötig. Daraus folgt: Für 600 m² sind 1200g nötig 3. Welchem (Kugel-) Volumen würde das etwa entsprechen? 1,2 kg Wasser misst 1,2 dm³; 1,2dm 1dm 0,6cm 1dm 1dm 1dm Gold misst 1/20, also 60 cm³ Der Umwürfel der Goldkugel 120 cm³ 5• 5• 5 = 125 d ≈ 5cm d ≈ 5cm Kongruenzabbildungen • Propädeutisch: Abbildungen, die Figuren stets auf deckungsgleiche abbilden, heißen Kongruenzabbildungen – Frage: Wie bildet man eine Figur F1 auf eine deckungsgleiche Figur F2 ab? • • • • Bildfigur parallel Bildfigur zusätzlich gedreht Bildfigur liegt spiegelbildlich Bildfigur hat entgegengesetzten Drehsinn, liegt aber nicht spiegelbildlich – Antwort: Die Abbildung auf eine deckungsgleiche Figur gelingt stets allein durch • • • • Verschiebung, Drehung (mit Sonderfall Punktspiegelung), Achsenspiegelung oder Schubspiegelung! • Fachmathematisch: - Mögliche Definitionen: - Def 1.: Eine längentreue Abbildung der Ebene auf sich heißt Kongruenzabbildung (Satz: Eine längentreue Abbildung der Ebene auf sich ist immer auch geradentreu und winkelmaßtreu) - Def 2.: Eine Verkettung von Achsenspiegelungen heißt Kongruenzabbildung - - - Es lässt sich zeigen, dass jede längentreue Abbildung durch eine Verkettung von höchstens drei Achsenspiegelungen ersetzt werden kann (Dreispiegelungssatz). Somit sind die beiden Definitionen äquivalent! Eine Figur F2 heißt kongruent zur Figur F1, wenn F1 durch eine Kongruenzabbildung auf F2 abgebildet werden kann. Die Hintereinanderausführung von zwei Achsenspiegelungen entspricht stets einer Drehung oder eine Verschiebung (Drehsinn erhaltend/gerade), die von drei Achsenspiegelungen stets einer Achsenspiegelung oder einer Schubspiegelung (Drehsinn umkehrend/ungerade) - Es gibt damit nur diese vier Typen von Kongruenzabbildungen - Hintereinanderausführungen mehrerer Kongruenzabbildungen können stets durch eine einzige ersetzt werden Verkettung von Kongruenzabbildungen Wesentliches Argument ist die Drehsinnerhaltung – g○g, u○u liefert g, also Drehung oder Verschiebung – g○u, u○g liefert u, also Achsenspiegelung oder Schubspiegelung • „Verschiebung ○ Verschiebung = Verschiebung“ • „Verschiebung ○ Drehung = Drehung ○ Verschiebung = Drehung“ • „Drehung ○ Drehung = Verschiebung“, falls die Summe beider Drehwinkel ganzzahliges Vielfaches von 360° ist = Drehung“, andernfalls • „Achsenspiegelung ○ Achsenspiegelung = = Verschiebung“, falls die beiden Achsen parallel liegen = Drehung“, um den doppelten Schnittwinkel der Achsen andernfalls Symmetrie • Symmetrie nennt man die Eigenschaft einer Figur bzw. eines Körpers, durch eine (von der Identität verschiedenen) Kongruenzabbildung auf sich selbst abgebildet zu werden. • Zu jeder Kongruenzabbildung existiert eine eigene Form der Symmetrie. In der Ebene sind dies: – – – – Achsenspiegelung → Achsensymmetrie Drehsymmetrie Verschiebungs- bzw. Translationssymmetrie Schubspiegelungssymmetrie Allgemeinerer Symmetriebegriff z.B. in der Physik • „Allgemein sprechen wir von Symmetrie, wenn man ein Objekt bzw. ein physikalisches Gesetz einer bestimmten Operation unterwerfen kann und es danach dieselbe Gestalt hat bzw. auf dieselben Resultate führt wie zuvor. Die in den Gesetzen erhaltenen Symmetrieeigenschaften erkennt man also dadurch, daß die entsprechenden Gleichungen und damit die durch sie beschriebenen Vorgange invariant gegenüber bestimmten Symmetrieoperationen sind". Bethge. K., Schröder. U. E., 1991, Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen, Darmstadt. (S.20) Achsensymmetrie (bzw. analog: Ebenensymmetrie im Raum) Def.: Eine Figur F heißt achsensymmetrisch, wenn eine Achsenspiegelung existiert, die F auf sich selbst abbildet. Beispiele: a F1 F2 – Figur F1 und F2 haben jeweils keine Symmetrieeigenschaft – F1 liegt spiegelbildlich zu F2 – F1 ist Urbild und F2 ist Bild der Spiegelung an a (bzw. umgekehrt) – Die Vereinigung von F1 mit F2 ergibt eine achsensymmetrische Figur Wo findet man (näherungsweise) achsensymmetrische Objekte und warum haben sie diese Eigenschaft? • Natur: – – – – Tierwelt: Mensch, Huftiere, Katzen, Schmetterlinge, Vögel, Insekten,… Pflanzenwelt: Blätter, Blüten, Früchte, Grobumriss von Bäumen, … Geologie: Kristalle, Vulkane,… Ursache: Fortbewegung erfolgt in eine Richtung; Orientierung nach links bzw. rechts gleichberechtigt, Flugfähigkeit, Symmetrisches Wachstum aufgrund symmetrischer Bedingungen…. • Artefakte: – Alltagsgegenstände, Bauwerke, Kunstobjekte: • Ursache: – Anpassung an vorhandene Symmetrie (z.B.: Brille, Stuhl, Toilette, …) – Vermeidung von Drehmomenten, Kräfteverteilung, Statik (z.B.: Schaufel, Rechen, Gewölbe…) – Ästhetik (Abbild von Mensch und Tier, Symbol für Ausgewogenheit und Ordnung) Drehsymmetrie Def.: Man sagt: Eine Figur F hat eine n-zählige Drehsymmetrie, wenn eine Drehung um 360°/n (n>1) existiert, die F auf sich selbst abbildet. Beispiele: – Punktsymmetrische Figur – Drehsymmetrische Figur mit • dreizähliger Drehsymmetrie • vierzähliger Drehsymmetrie – Reguläres n-Eck – Dreht man eine Figur n-1-mal um 360°/n und vereinigt sie mit ihren n-1 Bildern, so entsteht eine Figur mit n-zähliger Drehsymmetrie Verschiebungssymmetrie • Verschiebungssymmetrische Figuren können nicht begrenzt sein • Beispiele: – Gerade – Bandornamente – Parkette Schüleraktivitäten und Veranschaulichungen zu Kongruenzabbildungen und Symmetrien • Achsenspiegelung - Achsensymmetrie: – Klecksbilder – Umklappen einer Figur auf Folie – Einfach gefaltetes Papier • schneiden • durchstechen – – – – – – – Kohlepapier Spiegel Pantomime Miraspiegel Bauen z.B. mit Lego Karopapier (Achslage parallel oder diagonal) „Konstruktion“ mit • Zirkel • Geodreieck – Finden (z.B. mit Spiegel) und Einzeichnen von Symmetrieachsen, – Ergänzen zu symmetrischer Figur • Drehung - Dreh- bzw. Punktsymmetrie: – Drehung einer Figur auf Folie – „Konstruktion“ mit • Zirkel • Geodreieck – – – – – Doppelt gefaltetes Papier schneiden Doppelspiegel Erzeugung einer drehsymmetrischen Figur durch mehrfaches Abbilden Finden und Einzeichnen des Drehpunkts bzw. des Symmetriezentrums Problematisieren: Riesenrad (Gondeln parallel) vs. Mond (Mondgesicht) • Verschiebung - Verschiebungssymmetrie: – – – – – Verschiebung einer Figur auf Folie Parallelverschiebung mit Geodreieck und Lineal Erzeugung von Bandornamenten Doppelt (mehrfach) parallel gefaltetes Papier schneiden Finden und Markieren einer Elementarzelle eines Bandornaments