Über das Dringliche hinaus Eine dialektische Betrachtung hausärztlicher Tätigkeit Gedankenanstöße von Gernot Rüter und Theodor D. Petzold DEGAM-Kongress 22.09.2011 Salzburg WS: Arbeitsgruppe Psychosomatik in der Allgemeinmedizin These: „Die Zukunft ist chronisch“ (1) (nach Wagner, Gensichen und Gerlach) Chronische Krankheit konfrontiert den Betroffenen und seine Familie damit: Ihr Verhalten anzupassen Mit der emotionalen Bürde der Symptome umzugehen Mit der sozialen Bürde umzugehen Sich mit befürchteten Beeinträchtigungen, Leid, Schmerz, Siechtum, Alleinsein, Isolierung, Sich mit dem drohenden oder imaginierten Tod auseinanderzusetzen, Regelmäßig Medikamente einzunehmen Sich in längerfristige medizinische Betreuung zu begeben. Die medizinische Betreuung muss dabei Information und Unterstützung, bestmögliche Behandlung und Symptomkontrolle gewährleisten. Welche Bedeutung hat die intersubjektive resonierende Betroffenheit? Die Zukunft ist chronisch (2) Z. ärztl. Fortbild. Qual. Gesundh.wes. (2006) 100; 365–374 http://www.elsevier.de/zaefq-Gensichen et al. nach Wagner et al.1999 Antithese: „Die Zukunft wird chronisch“ gemacht – von der Medizin. „Chronisch“ ist Vergangenheit – die Zukunft wird immer wieder neu gemacht. Hausärzte gestalten die Zukunft bitte ‚nicht-chronisch‘! 1. Menschen sind aktive Subjekte 2. Sie können ihr Leben gestalten 3. Sie können Herausforderungen meistern Herausforderungen meistern. Eine „chronische“ Erkrankung fordert den Menschen heraus: • Bilanz zu ziehen • Über den Sinn seines Lebens neu nachzudenken • Ggf. Abschied zu nehmen von bestehenden Lebensplänen • Neue Räume / Dimensionen von Lebensfreude zu entdecken und erschließen (bzw. alte wiederfinden) Hypothese: Hausärzte können helfen. • Sorgen und Ängste um Gesundheit / Krankheit, Befunde und Risiken abnehmen • Orientierung auf attraktive Lebensziele unterstützen • Positive Bilanz ziehen (ggf. Reframing) • Wahrnehmung von Stimmigkeit fördern • Handlungsspielraum erweitern • Ggf. helfen, körperliche, emotionale, kognitive und kommunikative Funktionen zu bessern Häufige Beratungsanlässe in der Hausarztpraxis (unsystematisch) Zeichen von Infektionen: Fieber, Husten, Durchfall, Erbrechen, Schmerzen, Brennen bei der Miktion Schmerzen verschiedener Regionen, Intensitäten und Qualitäten Psychische Alterationen: Ängste, Antriebsstörungen, Beziehungsprobleme in der Familie/am Arbeitsplatz, Lebensund Krankheitsbewältigungsprobleme, Bedrückung bis hin zur Lebensmüdigkeit Verlaufskontrollen bekannter chronischer Erkrankungen (Screenings bei Personen mit erhöhter Vortestwahrscheinlichkeit, Indikatorerfassungen Behandlungsunzufriedenheit Störungen des Vegetativums: Schlaf, Appetit, Gewicht, Darm/Blasenfunktion, Sexualität Ärztliches Handeln unter Beachtung des Doppelaspektes der (Inter-)subjektivität und der Objektivität Intersubjektive Leiblichkeit und Resonanz, der IchDu-Aspekt, Personale Medizin. Die Person als Gegenstand der Phänomenologie, der Deutung, Interaktion als Behandlungsprinzip Der Körper als Objekt der Symptombildung, der Diagnostik und als erster Behandlungsgegenstand Beide Aspekte laufen faktisch ineinander, sind aber vom Gedanklichen zu trennen Doppelaspekt in der Psycho(pharmako)therapie (nach Th. Fuchs: Das Gehirn –ein Beziehungsorgan, Kohlhammer 2010) (mit freundlicher Genehmigung des Verlages) (Inter-)subjektiver Aspekt Biologischer Aspekt Psychotherapie Subjektive Erfahrungen (Emotionen,Kognitionen) (Placeboeffekt) Psychopharmakotherapie Höherstufige neuronale Prozesse Top down TRANSFORMATION bottom up Niederstufige neuronale Prozesse Psychopharmakotherapie Schemavorstellung von Lebewesen Horizontale Effekte zeigen die Beziehung zu „Welt“ und die wechselseitige Veränderung im „Gestaltkreis“ (nach Uexküll und Wesiak), Vertikale Prozesse bedeuten die Organisationsstufen von Materie-ZellenOrgane-Organismus-soziale Systeme -Vertikale und horizontale zirkuläre Kausalität(nach Th. Fuchs) Determinanten sind Annäherungs- und Abwendungsmodus, Bindungs- und Immunsysteme (biologische, religiöse, ethnokulturelle Immunsystem n. Sloterdijk) Wie sind die Funktion und die Bedeutung des Arztes als mit dem Patienten in spezieller Resonanz stehend zu begreifen? Ansatz einer PraxisSelbstbeobachtung in Mikroszenen (nach Gisela Volck, Frankfurt) Uhrzeit Patient Geschichte des Kranken Geschichte der ArztPatientenbeziehung Aspektdualismus: 1.+2. Person oder 3. Person Beratungsanlass Geschichte der Krankheit Stimmung Emotionalität Lineare versus zyklischsystemische Kausalitäten Aspekte von Lebenskunst: Selbstformung Bemerkungen Auswahl Übung Antithese Hausärztliche Forschung Hausärzte gestalten die Zukunft bitte ‚nicht-chronisch‘! Die 6 Ziele für ein gelingendes und langes Leben (Harvard-Study of Adult Development) 1. 2. 3. 4. 5. 6. Räumliche und emotionale Trennung vom Elternhaus, Aufbau einer eigenen Identität Finden einer Berufslaufbahn, die den eigenen Fähigkeiten gerecht wird und Anerkennung bringt Intimität erfahren. Mindestens 10 Jahre in einer stabilen und erfüllten und erfüllenden Beziehung zu leben, stellt einen Prädiktor für gelingendes Leben dar Eben diese Leben an die nächste Generation zu verschenken. Das Streben nach Erfolg versus die Sorge um andere, jüngere (=Generativität) Generation. Das Hüten und Bewahren des Wissens und das Weiterreichen kollektiver Werte und Erfahrungen Frieden schließen mit sich selbst; akzeptieren der eigenen Biografie. Das Erlangen von „Integrität“, auch in spiritueller Hinsicht. Forschungsfragen und Hypothese • Welche A-P-Interaktionen begleiten Veränderungen im Verlauf von sog. ‚chronischen‘ Erkrankungen? • Gibt es Möglichkeiten seitens des Arztes, den Verlauf durch Kommunikation positiv zu beeinflussen? Wenn ja: welche? • Hypothese: Es gibt seitens der Ärzte Möglichkeiten der kommunikativen Interaktion, um den Verlauf ‚chron.‘ Erkrankungen zu verbessern. Forschungsdesign • Patientengruppe: chronisch Erkrankte (einige wenige Ausschlüsse müssen diskutiert werden) • Intervention: Arzt-Patient-Gesprächsweise (spezielle Methode? Schulung?) zusätzlich zu bisheriger Therapie • Gesprächsdokumentation (evtl. in ‚Mikroszenen‘-Form) • Verlaufskontrolle: Vergleich 1 Jahr prä / 2(-..) Jahre post (verschiedene Messinstrumente, Befunde, Medikation u.a.) • Kontrollgruppe: Behandlung von vergleichbaren Patienten bei ?a) Spezialisten b) nicht geschulten Hausärzten Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Theodor D. Petzold