Selbstbildung in und von Kindergruppen Gruppenprozesse bei Drei-Sechsjährigen Prof. Dr. Holger Brandes Institut für Frühkindliche Bildung Ev. Hochschule für Soziale Arbeit Dresden Selbstbildung: Die Konstruktivistische Perspektive Kinder sind die eigentlichen Akteure von Bildung – sie „konstruieren“ ihr eigenes Wissen und sind „selbstbildend tätig“ (sich selbst bildend und ihr Selbst bildend). Unstrittig ist, dass Selbstbildung immer in „sozialer Ko-Konstruktion“ stattfindet. Dabei stehen Ko-Konstruktionen von Kind und Erwachsenem im Vordergrund – Kindergruppen spielen diesbezüglich in der Fachdiskussion derzeit fast keine Rolle. These Die pädagogische-konstruktivistische Sichtweise bleibt unvollständig, wenn sie auf das einzelne Kind beschränkt wird. Sie muss auch auf (Kinder)Gruppen übertragen werden. Aber: Kann man Gruppen konstruktivistisch denken? Und wenn ja, welche Gruppen meinen wir? Herkömmlicher Blick auf die Kindergartengruppe... Metzinger (2006): Kindergartengruppe als „keine natürliche, sich spontan bildende Gruppe“, im Umfang von „bis ca. 25-28 Kinder“ und mit einer Leiterin, „die vom Träger als solche eingesetzt ist“. Wieland (1998): „Wenn ich das Lernenwollen und –können von Kindern in den Mittelpunkt meiner Pädagogik stelle, muss ich als erste und wichtigste Veränderung den Zwang zur (Groß)Gruppe radikal aufheben“ (1998, 15). „Die besten Effekte, die man durch Verkollektivierung erreichen kann, ist, dass die Kinder sich an eine Verkollektivierung gewöhnen, die ja im Schulsystem unumgänglich ist.“ (Dollase 2005, S.18) Die Perspektive der Gruppenforschung George Homans („Theorie der sozialen Gruppe“ 1950/1965, 29) definiert Gruppe als „eine Reihe von Personen…, deren Anzahl so gering ist, dass jede Person mit allen anderen in Verbindung treten kann, und zwar nicht nur mittelbar, sondern von Angesicht zu Angesicht.“ Bei Erwachsenen liegt die optimale Gruppengröße deshalb zwischen 7 und 12; je größer die Gruppe, dest notwendiger wird ein strukturierendes Leitungszentrum. (Bsp. Vorlesung?) „Mehrere“ oder „viele“ Kinder bilden also nicht per se eine Gruppe. Zur Gruppe werden sie erst, wenn sie untereinander Kontakt aufnehmen, kommunizieren und die Einzelnen in ihren Zusammenhang integrieren. Aber mit wie vielen Personen können Kinder gleichzeitig kommunizieren? Von welchen Gruppen und welcher Gruppengröße gehen wir aus, wenn wir uns mit Kindergruppen befassen? Ausgangspunkt: Beziehungen Um Gruppen konstruktivistisch zu verstehen, müssen wir Beziehungen zum Ausgangspunkt unseres Denkens machen. Diesen Grundgedanken finden wir im Frühwerk von Piaget, bei Norbert Elias, James Youniss und S. H. Foulkes. Asymmetrische und symmetrische Beziehungen Piaget und anschließend Youniss unterscheiden grundsätzlich zwei Beziehungsformen und deren Auswirkung auf kindliches Lernen: die asymmetrische Beziehung zu Erwachsenen und die symmetrische zu anderen Kindern. Peer-Beziehungen stützen die Selbststeuerung und Selbstbildung der Kinder stärker als Erwachsenen-KindBeziehungen. Erwachsene stehen aus konstruktivistischer Sicht immer vor dem Problem, die Bildung des Kindes zu dominieren („Bildungsbegleiter“). James Youniss (Sozialer Konstruktivismus) Beziehungen im dyadischen Grundmodell: „Kinder sind Teilnehmer an einem gemeinsamen Unternehmen, das von zwei getrennten Positionen oder Vorstellungen ausgehen kann, aber sobald ihre Handlungen aufeinandertreffen, gehen die Ausgangspositionen in einen dritten Standpunkt oder eine dritte Vorstellung ein. Der neue Standpunkt entsteht durch das Sichaufeinander-Beziehen der Partner, deren Handlungen von da an fortwährend auf frühere Momente der ko-konstruierten Interaktionssequenz aufbauen.“ (1994, 48) Von der Beziehung zur Gruppe S.H.Foulkes entwickelt eine „sozialkonstruktivistische“ Theorie der Gruppe (Gruppenanalyse) Gruppen sind nicht einfach existent, sondern müssen sich bilden. Dieser Bildungsprozess geschieht durch die Kommunikation und Interaktion der Teilnehmer untereinander (symmetrische Beziehungen). Dabei erzeugen die Mitglieder ein (Beziehungs-) Netzwerk (Matrix) und konstruieren gemeinsame Sinnkontexte und Bedeutungen, von denen sie zugleich individuell abweichen. Eine weitere gruppenanalytische Einsicht ist, dass der Zusammenhalt von Gruppen in hohem Maß unbewusst ist und dass dieser Zusammenhalt die Grundlage für bezogene Individuation bildet. Gruppen und Beziehungskompetenz von Kindern Unter Dreijährige sind in ihren Beziehungen noch deutlich dyadisch orientiert; bei ihnen zeigen sich nur Vorformen von Gruppenbezügen. „Peer-Interaktionen zwischen Kleinkindern sind meist kurz, in etwa der Hälfte der Fälle enthalten sie keine geteilte Bedeutung; und oft finden sie ein Ende durch die schlichte Tatsache, dass mindestens ein Partner das Interesse verliert oder abgelenkt ist...“ (Viernickel 2000). Drei-Sechsjährige stellen nach unseren Beobachtungen schon zeitlich deutlich stabilere Gruppenzusammenhänge von mehr Kindern (zumeist drei bis fünf) her. Hier spielt das Mitmachen-Dürfen eine große Rolle, es werden gemeinsam geteilte Bedeutungen hergestellt und gemeinsame Zielvorstellungen entwickelt. Größere Gruppen überfordern die Kinder und zerfallen in Untergruppen, wenn keine (erwachsene) Leitung zur Verfügung steht. Selbstbildung... Selbstbildung von Kindern geschieht nicht nur in Gruppen und durch Gruppen, sondern erfordert auch die Selbstbildung von Gruppen. Selbstbildung von Gruppen Selbstbildung von Gruppen weist ähnliche Merkmale auf wie Selbstbildung im individuellen Sinne: Wir haben es mit einem Prozess zu tun, der Zeit braucht, Eigendynamik besitzt und nur begrenzt planbar ist – er ist unverwechselbar und kaum in ein Schema zu pressen. Dieser Selbstbildungsprozess kommt zustande über die Kommunikation und Interaktion der Gruppenteilnehmer (Kinder) untereinander: Kinder konstruieren ihr eigenes gemeinsames soziales Netzwerk (Matrix) und kollektive Sinnzusammenhänge. Dabei wird in Kindergruppen häufig explizit, was unter Erwachsenen implizit bleibt („Wer spielt mit wem?“) Wer spielt mit wem? Symmetrische Beziehungen und Gruppenprozess Spiel und Selbstbildung von Gruppen Die Selbstbildung von Kindergruppen realisiert sich fast immer über Formen des Spiels. Vermutlich beinhalten alle Gruppen, die entwicklungsfördernd wirken und Lerncharakter besitzen, spielerische Momente. Gruppe als simulativer Übergangsraum (Winnicott – Garland) Das gilt auch für Therapiegruppen von Erwachsenen, viel ausgeprägter aber für Kindergruppen. Erwachsene müssen zum Spiel animiert werden, Kinder stellten die Spielsituation spontan selbst her. Puppenszene – Familienszenen – Inszenierung von Geschlecht Der szenische Charakter des Gruppenspiels Das Gruppenspiel der Kinder hat fast immer szenischen Charakter. Dimensionen des szenischen Gruppenspiels: - thematische Szenen (manifeste Ebene) - Familiäre Szenen und individuelle „Dramen“ - gesellschaftliche Rollenmuster (Geschlechtsrollen, Kindrollen) In den eingebrachten Szenen kommunizieren die Kinder weitgehend unbewusst und spielerisch ihre Bedürfnisse, Sehnsüchte, Konflikte und Sorgen und machen sie so zum Bestandteil der Gruppe. Der Antrieb hierfür ist das Bedürfnis, mit ihren familiären und persönlichen Erfahrungen von der Gruppe gehalten und integriert zu werden. Gemeinsames „Erschaffen“ von „Rollen“ Dabei geht es nicht einfach um „Rollenübernahme“, sondern um die Konstruktion von Rollen (unter Rückgriff auf soziale Muster) und zugleich um die Konstitution sozialer Subjektivität (Wer bin ich?). Dies geschieht eben nicht als innerer Prozess (Decartes), sondern als Aufführung. „Eine treffendere Bezeichnung wäre ‚RollenErschaffen’ (role making), da damit das interaktive Handeln erfasst wäre, durch welches die Partner gemeinsam und in aller Öffentlichkeit Rollen (Vorstellungen, Themen, Gefühle und Meinungen) konstruieren.“ (Youniss 1994, 49f.) „ Der Prinzessinnengeburtstag“ (Dimensionen des szenischen Spiels) Integration von Heterogenität statt Konformität Aus konstruktivistisch-gruppenanalytischer Sicht ist die tragfähigste Form von Gruppenbildung ein kommunikativer Selbstbildungsprozess auf Basis symmetrischer Beziehungen. Das pädagogische Ziel so verstandener Gruppenarbeit ist nicht Konformität, sondern Integration von Heterogenität. Und diese Integration von Heterogenität gelingt umso besser, je mehr die Kinder sie selbst herstellen. Sie ist aber von der Gruppengröße abhängig. Selbstbildung von Gruppen – (auch) nicht allein... Die meisten Selbstbildungsprozesse von Kindergruppen geschehen hinter dem Rücken der Erwachsenen und allein auf der Basis der sich entwickelnden Kompetenzen der Kinder (analog individueller Selbstbildung). Das ist gut so (keine „pädagogische Belagerung“) ... Erwachsene sind aber notwendig und hilfreich, wenn sie den Gruppenprozess rahmen, begleiten und zur Verfügung stehen, wenn die Kinder in ihrer Kompetenz überfordert sind. Aufgaben der Erwachsenen Grundprinzip pädagogischer Arbeit mit Kindergruppen: Den Gruppenprozess nicht stellvertretend für die Kinder strukturieren oder „leiten“, sondern dem Prozess der Kindergruppe folgen und nur intervenieren, wenn die Kinder notwendige Entwicklungsschritte oder Konfliktlösungen nicht selbst zustande bringen. Spielräume eröffnen und nicht Spielräume verengen. Dies setzt ein (für ErzieherInnen) eher unübliches Maß an Zurückhaltung und Abwarten (aber auch Aushalten von Chaos) gegenüber die Gruppe voraus, während dessen sie den Prozess aber aufmerksam verfolgen. Selbstbildung braucht einen Rahmen Die erste Aufgabe der ErzieherIn ist, einen Rahmen zu schaffen, in dem der Selbstbildungsprozess der Kindergruppe erfolgen kann. Je klarer dieser Rahmen bezüglich der Zugehörigkeit zur Gruppe, aber auch räumlich und zeitlich und bezüglich grundlegender Regeln ist, desto leichter fällt den Kindern der Selbstbildungsprozess der Gruppe. Aber: So wenig Regeln wie möglich – Regeln geben zwar Sicherheit, schränken aber auch Spielräume und Kommunikationsweisen ein. Die Gruppe im Mittelpunkt Die ErzieherIn kümmert sich um die Gruppe, die Gruppe kümmert sich um die Einzelnen. Dies steht nicht im Gegensatz zu Individualisierung – vielmehr wird die Gruppe zum Mittel der Individualisierung (Integration von Heterogenität). Der Aufmerksamkeitsfokus liegt dabei auf der von den Kindern angestrebten Gemeinsamkeit und der Förderung der Entwicklung der Gruppe. Jedes einzelne Ereignis ist vor dem Hintergrund des gemeinsamen Gruppenprozesses zu sehen. Erforderlich ist ein Wechsel der Beobachtungsperspektive vom einzelnen Kind auf die Gruppe (Wo steht die Gruppe jetzt, was ist das gemeinsame Gruppenproblem, der gemeinsame Stand der Entwicklung?) Gruppeninterventionen aus konstruktivistisch-gruppenanalytischer Sicht Reinhard Voß (2005, Unterricht aus konstruktivistischer Sicht): Konstruktivistische „Verstörung“ über Dialog, Metakommunikation und Perspektivenwechsel. Foulkes sagt, „dass der Leiter eine ‚erträgliche Gleichgewichtsstörung’ anzielt, dass er das Verhältnis von konstruktiven und destruktiven Tendenzen, zwischen aufrüttelnden und stützenden Wirkungen dauernd aussteuern muss. Mit anderen Worten: Er muss ein Urteil fällen, wieviel und, im Hinblick auf die erworbene Tragfähigkeit, auf welcher Ebene neuer Grund umbrochen werden kann. Das betrifft sowohl die Einzelnen wie auch die Gruppe als Ganzes“ (1992, 85). Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Individuelles „Drama“: das Xylofonkonzert Vom Xylofon- zum Pfeiffkonzert