02 Hilfeverhalten

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Altruismus und Hilfeverhalten
Vorlesung
Sommer 2014
Thomas Kessler
1
Leitfragen
• Wie kann pro-soziales oder altruistisches Verhalten in
einer Welt voller „Egoisten“ entstehen?
• Welche Bedingungen fördern / behindern pro-soziales
Verhalten?
• Welche Variablen vermitteln pro-soziales Verhalten?
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Überblick
• Definition von „pro-sozialem Verhalten“
• Entstehung pro-sozialen Verhaltens
– Familienaltruismus,
– Reziproker Altruismus,
– Starke Reziprozität
• Bedingungen für Hilfeverhalten
– Der Barmherzige Samariter
– Bystander-Effekt
• Vermittelnde Variablen
• Schlussfolgerungen
3
Was ist pro-soziales Verhalten?
• Beispiel 1:
• „Ein Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die
Räuber; die plünderten ihn aus, schlugen ihn, machten sich davon
und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig ging ein Priester denselben
Weg hinab. Er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam ein Levit an
der Stelle vorbei, sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der
des Weges zog, kam in seine Nähe, sah ihn und wurde von Mitleid
bewegt. Er trat hinzu, verband seine Wunden und goss Öl und Wein
darauf; dann setzte er ihn auf sein eigenes Lasttier, brachte ihn in
eine Herberge und trug Sorge für ihn.“
• Der barmherzige Samariter (Lukas, 10, 30)
4
Was ist pro-soziales Verhalten?
• Beispiel 2:
• „Eines Nachts wurde Margaret Barbera von einem Mann durch ein
abgelegenes Parkhaus am Hudson River in Manhattan gezerrt. Und
obwohl der Mann mit einer langläufigen Pistole herumfuchtelte,
versuchten drei CBS-Techniker der Frau zu Hilfe zu kommen. Es
waren höchstwahrscheinlich keine egoistischen Motive, die in jener
Nacht im Jahr 1982 Leo Kruglanski, Robert Schulze und Edward
Benford in den Tod trieben. Sicherlich spielten bei dieser versuchten
Hilfeleistung keine Überlegungen der Gegenseitigkeit oder sonst
eine Hoffnung auf externale Belohnung eine Rolle.“
Nach Frank, 1989
5
Was ist pro-soziales Verhalten?
• Beispiel 3:
• „Am 13. März 1964 verfolgte Winston Moseley eine junge Frau in
Queens (New York). Er rang sie nieder und stach auf sie ein. Auf
ihre Hilferufe gingen die Lichter in einigen umliegenden Wohnungen
an und irgend jemand schrie aus dem Fenster: „Lassen sie das
Mädchen in Ruhe!“ Mosley ließ von ihr ab und verfolgte sie aber
etwas später weiter. Er trieb sie durch das Treppenhaus zu ihrer
Wohnung und stach mehrere Male auf sie ein und vergewaltigte sie.
Die Polizei wurde erst etwa 30 Minuten nach den ersten Hilferufen
benachrichtigt und kam zu spät: Kitty Genovese war nicht mehr zu
helfen.“
Nach Frank, 1989
6
Was ist pro-soziales Verhalten?
Altruistisches Verhalten:
• In der Evolutionstheorie wird es definiert als ein
Verhalten, das trotz der Kosten für die Fitness des
Helfenden zur Fitness eines anderen Individuums
beiträgt.
• In der Sozialpsychologie bezieht sich dieser Begriff auf
selbstloses Verhalten, das etwa durch die Übernahme
der Sichtweise eines anderen und Empathie
gekennzeichnet ist; dies geschieht in der Absicht, einer
anderen Person zu nützen, auch wenn der Helfende die
Möglichkeit hätte, dies nicht zu tun.
7
Was ist pro-soziales Verhalten?
Pro-soziales Verhalten:
• Hilfeverhalten in dem Sinne, dass durch die Handlung
beabsichtigt ist, die Situation des Rezipienten zu
verbessern, und der Handelnde nicht verpflichtet ist, der
Person, der geholfen wird, zu helfen.
8
Was ist pro-soziales Verhalten?
Hilfeverhalten
Pro-soziales
Verhalten
Altruismus
9
Entstehung pro-soz. Verhaltens
• Familienaltruismus
• Reziproker Altruismus
• Starke Reziprozität
10
Entstehung pro-soz. Verhaltens
• Familienaltruismus
• Altruistisches Verhalten ist genau dann adaptiv, wenn die
Kosten K für das Verhalten kleiner sind als der Nutzen N
für den Empfänger gewichtet am Verwandtschaftsgrad r
(z.B. ½ für Vollgeschwister):
• N * r > K (Hamiltons Regel)
11
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Erklärung:
• "Veranlasst" ein Gen seinen Träger (ein Individuum)
dessen genetischen Verwandten zu helfen, dann hilft es
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
(Verwandtschaftsgrad) auch sich selbst (in Form seiner
Kopien) in künftigen Generationen vorhanden zu sein.
Psychologische Voraussetzungen:
• Neigung nahen Verwandten zu helfen
• Erkennen des Verwandtschaftsgrads
12
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Evidenz:
• Die bevorzugte Hilfe unter Verwandten ist eine der
Universalien menschlicher Gesellschaften (z.B. Brown,
1991; Cook, 1980).
• Vererbung von materiellen Gütern folgt dem
Verwandtschaftsgrad (Smith et al., 1987).
• Zusammensetzung von Wahlfangbooten der Inuit folgt
dem Verwandtschaftsgrad (Morgan, 1979).
13
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Evidenz:
• 1620-21 Mayflower Expedition
in die neue Welt
• Von 103 Personen haben nur
50 überlebt.
• Wer mehr Verwandte dabei
hatte überlebte mit einer
höheren Wahrscheinlichkeit.
14
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Evidenz:
1
0,9
0,8
0,7
0,6
0,5
0,4
0,3
0,2
0,1
0
überlebend
tot
Kinder
Erwachsene
Überlebende nach Verwandtschaftsgrad
15
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Evidenz (Burnstein, et al., 1994):
3
2,8
2,6
2,4
2,2
Alltäglich
Leben/Tod
2
1,8
1,6
1,4
1,2
0.50
0.25
0.125
0.00
Tendenz zur Hilfe in „Leben-oder-Tod“ oder alltäglichen Szenarien
16
Entstehung pro-soz. Verhaltens
• Erkennen des Verwandtschaftsgrads
– Primäre Bindung
– Emotionale Nähe
– Verwandtschaftstermini
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Entstehung pro-soz. Verhaltens
• Mediation der Familienaltruismus
emotionale Nähe
.44
.63
genetische
Verwandtschaft
Hilfeverhalten
.46
• nach Korchmaros & Kenny, 2001
18
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Reziproker Altruismus
• „Es gibt keine dringlichere Pflicht als die,
eine Freundlichkeit zu erwidern. Alle
Menschen misstrauen jemandem, der eine
Wohltat vergisst.
(Cicero)
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Entstehung pro-soz. Verhaltens
• Gefangenen-Dilemma (Drescher & Flood)
Partei B
Kooperieren
Aussteigen
Kooperieren
3/3
0/5
Aussteigen
5/0
1/1
Partei A
20
Entstehung pro-soz. Verhaltens
• In einem Wettbewerb verschiedener
Strategien zeigte sich Tit-for-Tat als
effektivste Strategie
• Eigenschaften:
– Freundlich (Kooperiert im ersten Schritt)
– Provozierbar (Reagiert sofort auf Betrug)
– Nachsichtig (Ist nicht nachtragend)
21
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Evidenz (Scheldon, 1999)
• Tit-for-tat lehrt nicht kooperative Individuen, dass sich
Kooperation letztendlich auszahlt und Nicht-Kooperation
die ungünstigere Alternative ist.
14
12
Kooperative
10
8
Individualisten
6
Wettbewerbsori
entierte
4
2
0
erste Sequenz
zweite Sequenz
22
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Starke Reziprozität
•
Tendenz zur Kooperation und die Neigung und
1. kooperatives Verhalten zu belohnen
2. nicht-kooperatives Verhalten zu bestrafen
23
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Evidenz:
Ultimatum-Spiel (Güth, et al., 1982):
•
•
•
•
Eine Person A verteilt einen Geldbetrag.
Eine Person B entscheidet, ob die Aufteilung akzeptabel
ist oder nicht.
Akzeptiert B die Aufteilung, dann bekommt jeder den
Betrag, den A vorgeschlagen hat.
Akzeptiert B nicht, dann bekommen beide nichts.
24
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Evidenz:
•
Öffentliche Güter
–
In Untersuchungen zu öffentlichen Gütern findet sich eine
Reduktion der Beiträge über wiederholte Runden.
20
Durchschnittlicher Beitrag
Partner
Fremder
15

10




5









0
1

5





10
Durchgang
25
Entstehung prosoz. Verhaltens
Evidenz:
•
Öffentliche Güter
–
Einführung von altruistischer Bestrafung stabilisiert und
erhöht die Beitragsraten der Mitspieler (Fehr & Gächter,
2002)
20
Durchschnittlicher Beitrag






Partner & B



Partner
 Fremder


15
10






Fremder & B







5









0
1

5
Durchgang





10
26
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Wie funktioniert "altruistische Bestrafung"?
Moralische Emotionen:
• Ärger, Empörung, Wut
• Abneigung, Ekel
• Verachtung
27
Entstehung pro-soz. Verhaltens
Inwiefern ist „altruistische“ Bestrafung
altruistisch?
•
Bestrafung aktiviert Hirnregionen,
die ansonsten mit Belohnung
assoziiert sind (de Quervain et al.,
2004).
•
Je stärker diese Regionen aktiv
sind, desto härter fällt die
Bestrafung aus.
28
Bedingungen pro-soz. Verhaltens
•
Barmherzigen Samariter
•
Bystander-Effekt
–
–
–
Pluralistische Ignoranz
Verantwortungsdiffusion
Bewertungsangst
29
Bedingungen pro-soz. Verhaltens
•
Darley & Latané, 1976
•
Untersuchung zum
Einfluss der Religiosität
und des Zeitdrucks
30
Bedingungen pro-soz. Verhaltens
•
Hilfeverhalten (gemittelt; 0=keine Hilfe bis 4=stehen
bleiben und helfen)
Zeitdruck
Gedanken...
gering
mittel
hoch
...Hilferelevant
3.80
2.00
1.00
...Aufgabenrelevant
1.67
1.67
0.50
31
Bedingungen pro-soz. Verhaltens
Der Bystander-Effekt
• Je mehr Personen bei einem potentiellen Notfall
anwesend sind, desto geringer ist die
Wahrscheinlichkeit für eine Hilfeleistung und desto
größer ist die Latenz bis geholfen wird.
32
Bedingungen pro-soz. Verhaltens
Verschiede Faktoren:
•
Pluralistische Ignoranz:
–
•
Verantwortungsdiffusion:
–
•
Die Meinung, dass sich die eigenen Gefühle von denen anderer
unterscheiden, aber dass das beobachtbare Verhalten gleich ist.
Validierung der eigenen Gefühle am Verhalten anderer. „Wenn
alle (außer mir) glauben das sein kein Notfall , dann sollte ich
mich zurückhalten“.
Verantwortung wird unter verschiedenen Personen aufgeteilt, so
dass sich jede einzelne weniger verantwortlich fühlt.
Bewertungsangst:
–
Erwartung von anderen bewertet zu werden kann Angst,
Unbehagen usw. auslösen und kann zur Vermeidung von
Hilfeverhalten führen.
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Bedingungen pro-soz. Verhaltens
As the number of bystanders
increased, the time elapsing
before helpwasgiven
increased
90
85
80
70
62
60
50
40
31
30
Numbers of Seconds Passing Before
SubjectsAttemptedto Help Victin
Percentage ofSubjects Who Attempted
to Help Victin
As the number of bystanders
increased, the percentage of
individuals who helped
decreased
166
170
150
130
110
93
90
70
52
50
1
2
5
1
2
5
Number of Bystanders
Source: Based on data in Darley & Latane, 1968.
34
Bedingungen pro-soz. Verhaltens
Welche Bystander sind hier problematisch?
•
Anonyme Bystander:
–
•
Wenn man die anderen nicht kennt, weiß man nicht, was man von ihnen
halten soll.
Instruiert Bystander (konföderierte Personen):
–
•
Wenn die anderen konsistent nichts machen, dann kann das zu
pluralistischer Ignoranz, Verantwortungsdiffusion etc. führen.
Bekannte Bystander (Freunde, Eigengruppenmitglieder):
–
Größere Kohäsion, sozialer Einfluss und der Einfluss von pro-sozialen
Normen (siehe Eingangsbeispiele).
35
Bedingungen pro-soz. Verhaltens
Hilfeverhalten
Die hilfreichen Bystander (Levine & Crowther, 2008)
•
Vorgestellte Hilfesituation: „Nachts in einer dunklen Straße …,
Sie sind mit XXX unterwegs, … sie beobachten eine
Auseinandersetzung zwischen einem Mann und einer Frau …
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Altruismus?
Definitionen
• Altruismus: „is a motivational state with the
ultimate goal of increasing another’s
welfare.”
• Egoismus: “is a motivational state with the
ultimate goal of increasing one’s own
welfare.”
(nach Batson & Shaw, 1991)
37
Altruismus?
• Perspektivenübernahme: Wissen um die
psychologische Situation einer anderen
Person.
• Empathie: Stellvertretende Emotion, auf
die andere Person gerichtet; auch:
„sympathy“: „involves feeling not as the
other feels but for the other”.
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Altruismus?
• Empathy-Altruismus-Hypothese (Batson)
Yes
Person observes
emergency
Is empathy
enlisted?
Person is
likely to help
No
No
Yes
Is it easy to
escape?
Person is not
likely to help
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Altruismus?
• Eigennutz ist eine Setzung, nicht empirisch
• Das Problem des Altruismus/Egoismus
– Altruismus: Man kann immer einen versteckten Nutzen für den
Handelnden konstruieren, der das Verhalten erklärt.
– Egoismus: Kann man tatsächlich zeigen, dass Handelnde etwas
tun, weil es ihnen nützlich ist?
• Dritte Alternative:
– Allgemeine Regeln, die für einige nützlich sind, für andere nicht
(„helfe allen, die Deiner Gruppe angehören“)
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Zusammenfassung
• Prosoziales Verhalten kann durch
– Familienaltruismus
– reziproken Altruismus
– starke Reziprozität
entstehen und stabil bleiben.
• Bedingungen für Hilfeverhalten sind
– situative Faktoren (Zeitdruck, Anwesenheit vieler
Personen)
– dispositionale Faktoren (z.B. Empathie und
Perspektivenübernahme)
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Literatur
• Batson, C.D. (1991). The altruism question. Toward a
social-psychological answer. Hillsdale, NJ: Lawrence
Erlbaum.
• Batson, C.D. (1998). Altruism and prosocial behavior. In:
D. T. Gilbert, S. T. Fiske and G. Lindzey (eds.), The
Handbook of Social Psychology (41th edition, Vol. 2, pp.
282-316). New York: McGraw-Hill.
• Gintis, H., Bowles, S., Boyd, R. & Fehr, E. (2003).
Explaining altruistic behavior in humans. Evolution and
Human Behavior, 24, 153-172.
42
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