Stadtanthropologische Perspektiven

Werbung
Einführung in die
Europäische Ethnologie
Teil 4
WS 2010/11
Prof. Dr. Johannes Moser
Folien unter:
http://www.volkskunde.unimuenchen.de/download/index.html
Einführung in die Europäische Ethnologie
2
Alltag
• Kultur und Alltag sind zentrale Perspektiven, mit
denen sich die Beziehungen zwischen Individuen und Gesellschaft sinnvoll erfassen lassen.
• Alltag und Alltagskultur sind in der Volkskunde
selbstverständliche – sozusagen alltägliche –
Begriffe, so dass sie oft gar nicht mehr genauer
bestimmt werden.
• Auch für andere Disziplinen wie Geschichte und
Soziologie ist der Alltagsbegriff bedeutend.
Einführung in die Europäische Ethnologie
3
• In der Volkskunde gibt es schon früh Hinweise
auf die Beschäftigung mit dem Alltag, so kann
man bei Wilhelm Heinrich Riehl fündig werden,
der über „alltägliches Daseyn“ schrieb.
• Populär wurde der Begriff seit den 1970er Jahren, aber es gibt wie beim Kulturbegriff eine Fülle
von Definitionen.
• Norbert Elias hat 1978 in einem kurzen Überblick
aufgezeigt, welche verschiedenen, sich teilweise
überschneidenden Bedeutungen dem Begriff
innewohnen. Und er hat deshalb auch vor der
inflationären Verwendung des Begriffs gewarnt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
4
• Alltag unterscheidet sich nach Elias Definition
vom Festtag, es umfasst den Familienalltag und
die private Sphäre ebenso wie den öffentlichen
Erwerbsarbeitsalltag.
• Unter Alltag wird auch das Repetitive verstanden, die sich wiederholenden, routinisierten
Handlungen, die dem Besonderen und Einmaligen entgegenstehen.
• Oft wird unter Alltag auch das Leben der „breiten
Masse“ verstanden im Gegensatz etwa zum Leben der Prominenz.
Einführung in die Europäische Ethnologie
5
• Wir müssen uns zudem vergegenwärtigen, dass
die Betrachtung des Alltags auch eine Frage der
Perspektive ist: Für den einzelnen Menschen
sind Geburt, Krankheit, Hochzeit oder Tod ganz
besondere Ereignisse im Leben, aus der Wahrnehmung der Gesamtgesellschaft und aus einer
Makroperspektive stellen sie nichts anderes dar
als den Alltag von Menschen.
• Schließlich ist der Alltag durch eine spezifische
Wahrnehmungsform gekennzeichnet: durch ein
spontanes und unreflektiertes Erleben und durch
besondere erfahrungsbezogene und ritualisierte
Interpretations- und Verhaltensmuster.
Einführung in die Europäische Ethnologie
6
• Die Traditionen der modernen Alltagsforschung
reichen zurück bis in die 1930er Jahre, als der
Philosoph Edmund Husserl seine Theorie der
Lebenswelt entwarf. Diese Lebenswelt nannte er
auch Alltagswelt oder beschränkte Umwelt.
• Diese Theorie der Lebenswelt beschreibt die konkrete anschauliche Welt, in die der Mensch hineingeboren wird. In dieser Welt lebt und kommuniziert
man mit anderen Menschen. Und diese Welt ist für
das Individuum wie für alle anderen darin lebenden
Menschen die unhinterfragbare Wirklichkeit.
• Alltag ist demnach das selbstverständlich Hingenommene, in dem Menschen sich und andere fühlend, denkend und handelnd erleben.
Einführung in die Europäische Ethnologie
7
• Aus dieser alltäglichen „Seinsgestaltung“, wie Husserl das genannt hat, ziehen Menschen auch ihre
Seinsgewissheit. Die gemeinsame Praxis verleiht
nach Husserl dem Alltag eine intersubjektive „Geltungswirklichkeit“.
• Für die moderne Alltagstheorie sind dann die Ausführungen von Alfred Schütz aus den 1950er Jahren zentral geworden, insbesondere seine Aussagen in dem mit seinem Schüler Thomas Luckmann
verfassten Buch „Strukturen der Lebenswelt“.
• Wesentliche Elemente sind auch in dem bis heute
einflussreichen Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und
Thomas Luckmann enthalten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
8
• Schütz meinte, die alltägliche Lebenswelt sei jener Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in
unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. In die alltägliche Lebenswelt kann der
Mensch eingreifen und er kann sie verändern, indem er in ihr wirkt. Gleichzeitig wird er in diesem
Bereich in seinen freien Handlungsmöglichkeiten
durch andere eingeschränkt.
• Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich der
Mensch mit seinen Mitmenschen verständigen
und mit ihnen zusammenwirken. Nur in ihr kann
sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt
konstituieren.
Einführung in die Europäische Ethnologie
9
• Unter alltäglicher Lebenswelt soll demnach jener
Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der
wache und normale Erwachsene in der Einstellung
des gesunden Menschenverstandes als schlicht
gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden
Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch erscheint.
• Schütz zählt auch die „fraglosen“ Gegebenheiten
der alltäglichen Lebenswelt auf, die als Totalität für
das handelnde Subjekt vorhanden sind:
a die körperliche Existenz von anderen Menschen
b dass diese Körper mit Bewusstsein ausgestattet sind, das
dem meinen prinzipiell ähnlich ist;
Einführung in die Europäische Ethnologie
10
c dass die Außenweltdinge in meiner Umwelt und in der
meiner Mitmenschen für uns die gleichen sind und
grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben;
d dass ich mit meinen Mitmenschen in Wechselbeziehung
und Wechselwirkung treten kann;
e dass ich mich – dies folgt aus den vorangegangenen Annahmen – mit ihnen verständigen kann;
f dass eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsraum für mich und meine Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie
die ‚Naturwelt’;
g dass also die Situation, in der ich mich jeweils befinde,
nur zu einem geringen Teil eine rein von mir geschaffene
ist.
Einführung in die Europäische Ethnologie
11
• Die Lebenswelt ist also eine intersubjektive Welt
vertrauter Wirklichkeit, in der die einzelnen Menschen als Handelnde gefordert sind.
• Für diese Lebenspraxis steht den Menschen
nach Schütz der kulturell ererbte und enkulturierte Wissensvorrat zur Verfügung, aber auch die
Eigenerfahrung situationaler Problemlösungen.
• Es dürfte klar geworden sein, dass eine Bedingung des Zusammenlebens und der Interaktion
in diesem Lebens- und Alltagsweltkonzept die
Vorstellung der Wechselseitigkeit der Perspektiven ist.
Einführung in die Europäische Ethnologie
12
• Das meint, dass auch der jeweils Andere in der
Lage ist, meine Perspektiven zu verstehen; ja
mehr noch wird vorausgesetzt, dass die Bedeutungssysteme der miteinander interagierenden
Menschen übereinstimmen. Gemeinsame Wissensbestände und Interpretationsverfahren gehören dazu.
• Um nun die Komplexität des Alltags zu reduzieren und Handlungen zu vereinfachen, bedient
sich das praktische Alltagsdenken bestimmter
Routinen – z.B. Festlegungen, was normal ist;
oder Typisierungen von Situationen und Personen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
13
• Alles, was in diesen Wahrnehmungen stört und
fremd ist, wird ausgeblendet oder gar ausgegrenzt,
weil es nicht in das vorgefaßte Schema passt.
• Diese Strategien und Klassifikationsmuster haben
in der Literatur durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen und Wertungen erfahren. Den einen
erscheint dieser Alltag häufig borniert und blind;
die anderen überbetonen den so genannten „Eigensinn“, wie Carola Lipp kritisch anmerkte.
• Auf jeden Fall meint Alltag in dieser hier vorgestellten wissenssoziologischen Theorie einen besonderen Typus der Erfahrung, des Handelns und
des Wissens.
Einführung in die Europäische Ethnologie
14
• Eine systematische Weiterentwicklung dieses Konzepts findet sich in der Schule des Symbolischen
Interaktionismus und in der Ethnomethodologie.
• Das sind – streng genommen soziologische Schulen –, die auf vielfältige Weise auch die Kulturwissenschaften beeinflusst haben.
• Der symbolische Interaktionismus ist verbunden
mit George Herbert Mead und Herbert Bulmer, im
weitesten Sinn auch mit Erving Goffman.
• Der symbolische Interaktionismus geht davon aus,
dass die gesamte Interaktion zwischen Menschen
auf dem Austausch von Symbolen besteht.
Einführung in die Europäische Ethnologie
15
• Wenn wir mit anderen interagieren, so suchen wir
ständig nach Anhaltspunkten, die uns sagen, welche Art von Verhalten im betreffenden Kontext
richtig ist und wie das zu interpretieren sei, was
der andere meint oder beabsichtigt.
• Der symbolische Interaktionismus lenkt unsere
Aufmerksamkeit auf die Details der interpersonellen Interaktion und darauf, wie diese Details
verwendet werden, um dem, was gesagt und getan wird, Sinn zu verleihen.
• Der symbolische Interaktionisus konzentriert sich
vor allem auf face-to-face-Interaktionen in den
Kontexten des Alltagslebens.
Einführung in die Europäische Ethnologie
16
• Erving Goffman ist mit seinen Arbeiten diesbezüglich besonders prägend geworden. In der Goffmanschen Ausprägung bietet der symbolische Interaktionismus vielerlei Einblicke in die Natur unserer Handlungen im Laufe unseres täglichen sozialen Lebens.
• Goffman hat etwa für die Analyse der sozialen Interaktion auf die Begriffe des Theaters zurückgegriffen. So zum Beispiel in seinem Buch „Wir alle
spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.“
Schon der Begriff der sozialen Rolle, der in den
Sozialwissenschaften weit verbreitet ist, stammt
aus dem Theatermilieu.
Einführung in die Europäische Ethnologie
17
• Rollen sind sozial definierte Erwartungen, die eine
Person, die einen bestimmten Status oder soziale
Position innehat, erfüllt oder zu erfüllen hat.
• Goffman verwendet ein dramaturgisches Modell,
um das soziale Leben zu betrachten. So als handle es sich dabei um ein Schauspiel auf einer Bühne – oder auf vielen Bühnen, weil unser Handeln ja
von verschiedenen Rollen geprägt ist, die wir zu
verschiedenen Zeitpunkten einnehmen.
• Menschen sind sehr sensibel gegenüber dem Bild,
das andere von ihnen haben. Daher versuchen
sie, diesen Eindruck zu manipulieren, damit andere Menschen in der gewünschten Form reagieren.
Einführung in die Europäische Ethnologie
18
• Obwohl diese Manipulation in berechnender Weise
geschehen kann, gehört es üblicherweise zu den
Dingen, die wir tun, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
• Eine besondere Unterscheidung trifft Goffman mit
den Begriffen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“.
• Die „Vorderbühne“ ist jener Bereich der sozialen
Kontakte und Anlässe, bei denen formale und stilisierte Rollen gespielt werden.
• Die Hinterbühne ist jener weniger stark formalisierte Bereich, in dem das Tun auf der Vorderbühne vorbereitet oder begleitet wird.
Einführung in die Europäische Ethnologie
19
• Ein besonders interessantes Buch von Erving
Goffman heißt „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“. Hier zeigt Goffman, dass „normale“ Menschen Personen mit einem Stigma oft äußerst wirksam, wenn auch oft
gedankenlos, diskriminieren.
• Stigmatisierte Personen wissen das und unternehmen dann Versuche, das zu korrigieren. Entweder
indem sie die objektive Basis ihres „Fehlers“ beheben, indem sie diesen „Fehler“ zu verstecken
suchen oder etwa indem sie zu beweisen suchen,
dass sie in Tätigkeitsbereichen bestehen können,
von denen andere annehmen, sie könnten das
wegen gewisser Einschränkungen nicht erreichen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
20
• Wenn jemand mit einem Stigma versuchen will,
andere zu täuschen, bedarf es eines immensen
Aufwandes. Was für so genannte „Normale“ Routineangelegenheiten sind, kann für einen Diskreditierbaren, also jemanden der noch nicht durch sein
Stigma diskrediert ist, zu einem richtigen Organisationsproblem werden.
• Das Individuum mit einem geheimen Fehler muss
sich demnach der sozialen Situation in der Art eines ständigen Abtastens von Möglichkeiten bewusst sein. Die für andere unkomplizierte Welt ist
es für ihn keineswegs. Was für andere trivial ist,
wird für den Diskreditierbaren zum Problem.
Einführung in die Europäische Ethnologie
21
• Goffman greift immer auf eindrückliche Beispiele
zurück. Sie führen ganz deutlich vor Augen, was in
den theoretischen Ausführungen zur Alltags- und
Lebenswelt theoretisch bereits ausgesagt wurde.
• In der Alltagswelt vereinfachen wir, greifen auf
Normalitätsvorstellungen und Deutungsroutinen
zurück, die uns helfen, eine komplexe Umwelt in
den Griff zu bekommen, in denen aber auch ein
gehöriges Potential an Diskrminierungsmustern
steckt.
• Die Beispiele aus Goffmans Buch verraten gerade
dadurch, dass sie stigmatisierte Menschen und
ihre Umgangsweisen damit in den Blick nehmen,
wie Kommunikation funktioniert.
Einführung in die Europäische Ethnologie
22
• Hier setzt auch die Ethnomethodologie an. Sie ist
die Untersuchung der Ethnomethoden, das sind
die von Laien benutzten Methoden.
• Diese Methoden werden angewandt, um den Sinn
dessen, was andere Menschen tun, und vor allem
dessen, was sie sagen, zu entschlüsseln.
• Wir alle verwenden in der Interaktion mit anderen
Menschen Methoden, um dem Handeln und Reden der anderen einen Sinn abzugewinnen, wobei
wir diesen Methoden üblicherweise keine gesonderte Aufmerksamkeit schenken.
• Oft können wir einer Situation nur Sinn abgewinnen, weil wir den sozialen Kontext kennen, der in
den Worten selbst nicht in Erscheinung tritt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
23
• Selbst die unbedeutendsten Formen des alltäglichen Lebens setzen ein kompliziertes gemeinsames Wissen voraus.
• Die in der alltäglichen Kommunikation verwendeten Wörter haben keine präzisen Bedeutungen und
was wir sagen möchten bzw. das Verständnis des
Gesagten wird durch die unausgesprochenen Annahmen festgelegt, die den verschiedenen Bedeutungen zugrunde liegen.
• Wir haben also bei unserer tagtäglichen
Kommunikation „Hintergrunderwartungen“ und für
diese Hintergrunderwartungen etwa interessiert
sich die Ethnomethodologie.
Einführung in die Europäische Ethnologie
24
• Der Soziologe Harold Garfinkel hat durch Krisenexperimente versucht, Kommunikationsstrukturen
und Hintergrunderwartungen offen zu legen. Das
funktioniert etwa in der Form, dass man den Sinn
der beiläufigsten Bemerkungen und allgemeiner
Kommentare nicht einfach hinnimmt, sondern ichnen nachgeht, um ihren Sinn zu präzisieren.
• Die Experimente sollen dazu beitragen, die grundlegenden Modi unseres Zusammenlebens zu verstehen.
• Die Stabilität und Sinnhaftigkeit unseres täglichen
sozialen Lebens hängt vom gemeinsamen Besitz
unausgesprochener „kultureller“ Annahmen darüber ab, was warum gesagt wird.
Einführung in die Europäische Ethnologie
25
• Wären wir nicht in der Lage, diese Annahmen
vorauszusetzen, wäre sinnvolle Kommunikation
unmöglich.
• Jeder Frage oder jedem Beitrag zu einer Konversation müsste ein massives Suchverfahren folgen,
wie es in Garfinkels Experimenten gezeigt wurde,
die Interaktion würde schlicht zusammenbrechen.
• Was also auf den ersten Blick als unwichtige Konventionen der Rede erscheint, stellt sich als fundamental für das Gewebe des sozialen Lebens
heraus, weshalb der Verstoß gegen Konventionen
eine so ernsthafte Sache ist.
Einführung in die Europäische Ethnologie
26
• Ein anderer Ansatz der Alltagstheorie stellt eine
eher gesellschaftspolitische Analyse der spätkapitalistischen Massenkonsumgesellschaften dar
und kritisiert die entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Beispielhaft dafür steht Henri
Lefèbvres „Kritik des Alltagslebens“, die viele
Disziplinen beeinflusst hat.
• Die Entdeckung des Alltags kann aus dieser Perspektive als das kulturelle Konstrukt einer „Generation der Entfremdung“ verstanden werden, meinte
etwa die andere marxistische Denkerin des Alltags
– Agnes Heller.
Einführung in die Europäische Ethnologie
27
• So argumentierte Utz Jeggle in den „Grundzügen
der Volkskunde“ 1978, es sei vom Alltag gesprochen worden, als er in die Krise gekommen sei, als
das Gewohnte problematisch geworden sei.
• Der Begriff Alltag war verbunden mit der Kritik an
einem segmentierten, durch kapitalistische Produktionsverhältnisse geprägten Alltag, der nicht
entlang den Bedürfnissen der Menschen organisiert war, sondern dem Diktat spätkapitalistischer
Kulturindustrie folgte.
• Das Thema Alltag war also politisch aufgeladen
und hing in der Volkskunde – wie auch in anderen
Fächern – mit der Diskussion um fachpolitische
Standortbestimmungen zusammen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
28
• In der Volkskunde geht die Rezeption des Alltagsbegriffs einher mit der Neubestimmung der
Volkskunde gegen Ende der 1960er und zu Beginn
der 1970er Jahre.
• Der Begriff Alltag tauchte programmatisch erstmals
bei den Falkensteiner Diskussionen auf, bei denen
1970 über Selbstverständnis, Erkenntnisziel und
Aufgaben der Volkskunde gerungen wurde.
• Gerhard Heilfurth argumentierte bereits vor Falkenstein mit dem Begriff Lebenswelt und Ina-Maria
Greverus forderte 1971 eine „Wende zur Lebenswelt“, weil sie die Volkskunde geradezu als prädestiniert ansah, die „alltägliche Lebenswelt des
europäischen Menschen“ zu erforschen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
29
• Greverus legte bei der Neuausrichtung des Frankfurter Instituts und dessen Umbenennung in „Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie“ ein
klares Bekenntnis zur angelsächsischen Kulturund Sozialanthropologie ab, deren theoretische
Basis ihr geeignet erschienen, die Kultur und Alltagswelt in europäischen Gesellschaften zu untersuchen.
• In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre setzte sich
Greverus mit der kulturkritischen Position der
neueren Alltagsdiskussion auseinander und geht –
in der Tradition der Kulturkritik – von einer
Trennung von Kultur und Alltag aus.
Einführung in die Europäische Ethnologie
30
• Der Alltagsbegriff verweist für sie auf eine „deformierte Umwelt“. Dem hält sie ihren Kulturbegriff
entgegen, in dessen Zentrum die Vorstellung einer
aktiv vom Menschen gestalteten Lebenswelt steht.
• Der Mensch war für sie „Schöpfer und Geschöpf“
der Kultur und sie betonte die „Fähigkeit des Menschen zur aktiven Anpassung, zur Gestaltung und
Veränderung der Umwelt wie der eigenen Verhaltensweisen“.
• In Tübingen wiederum, wo sich das Fach Volkskunde in Empirische Kulturwissenschaft umbenannt hatte, war die Erforschung des Alltags zunächst von einem politischen Emanzipationsprozess geprägt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
31
• Später entwickelte sich daraus eine historisch
orientierte Alltags- und Kulturforschung, die – vor
allem durch Utz Jeggle – auch ethno-psychoanalytische Einflüsse erhielt.
• Zunächst wurde – ebenfalls in der Tradition der kritischen Theorie – auf dem Hintergrund des Entfremdungsmodells argumentiert und es wurde versucht, die antagonistischen Widersprüche in der
kapitalistischen Gesellschaft zu analysieren.
• Danach wurde diese materialistische Alltagsforschung an die Entwicklung des Faches rückgebunden und führte zu einer verstärkten Erforschung
von Gruppenkulturen. Dies zeigte sich unter anderem an der Arbeiterkulturforschung.
Einführung in die Europäische Ethnologie
32
• In Tübingen wurde die historische Dimension des
Alltagskonzepts besonders betont.
• Der alltagsweltliche Zugang ist wegen der Zuwendung zu den Akteuren attraktiv. Aufgegriffen wurde
er in den Geschichtswissenschaften, die über die
traditionelle Struktur- und Herrschaftsgeschichte
zu den historischen Subjekten vordringen wollte.
• Daraus resultierte eine veränderte Wahrnehmung
der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man begann
unter dem Signum der Alltagsforschung, sich mit
dem „Blick von unten“ zu beschäftigen. Das beinhaltete auch eine dichotome Vorstellung von Kultur und Gesellschaft mit einem klar abgegrenzten
Unten und Oben.
Einführung in die Europäische Ethnologie
33
• Geprägt waren diese Formen der Alltagsforschung
zunächst von der kritischen Theorie und von einem
Klassenkonzept, das von kultureller Hegemonie
und kulturindustrieller Manipulation ausging.
• In der Arbeiterkulturforschung setzte sich dann das
leninistische Zweikulturenmodell von unterdrückter
und unterdrückender Klasse durch, das allerdings
modifiziert wurde durch Einflüsse von Edward P.
Thompson, der die Aneignungs- und Widerstandsformen der Arbeiterklasse betonte.
• Aus dem Umfeld einer Alltagsgeschichtsforschung
entwickelten sich einige viel diskutierte Ansätze.
Einführung in die Europäische Ethnologie
34
• Vor allem aus der Beschäftigung mit den unteren
Schichten vor der Industrialisierung, also in der
Frühen Neuzeit, entstanden Konzepte, die fragten,
wie Verhaltensmuster und Mentalitäten über einen
längeren Zeitraum hinweg tradiert werden.
• So entwickelte sich das Konzept des „Eigensinns“
der unteren Schichten. Dieser Eigensinn schreibt
der Arbeiter- und Volkskultur eine inhärente Widerständigkeit gegen die herrschende Kultur zu, eine
sich im Alltag formierende und formulierende
Differenz, ein kollektives „Wir-Bewußtsein“.
• Für diese Ausrichtung stehen etwa die Arbeiten
des Historikers Alf Lüdtke, aber frühe Arbeiten des
Europäischen Ethnologen Wolfgang Kaschuba.
Einführung in die Europäische Ethnologie
35
Identität
• Identität ist zweifellos ein wichtiger Begriff für die
Volkskunde und darüber hinaus für die Kultur- und
Sozialwissenschaften. Identität bedeutet zunächst
einmal die Übereinstimmung eines Gegenstandes
mit sich selbst, sein „In-Sich-Gefestigt-Sein“.
• Der Begriff Identität ist zunächst vor allem in der
Sozialpsychologie und in der Entwicklungspsychologie verwendet worden.
• In der Sozialpsychologie u.a. bei George Herbert
Mead (1863-1931), dessen Ansätze aber erst viel
später aufgegriffen wurden, als er sie geäußert
hatte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
36
• In der Entwicklungspsychologie war es der Psychoanalytiker und Psychotherapeuth Erik H. Erikson (1902-1994), der den Identitätsbegriff verwendete und über seine Disziplin hinaus popularisierte.
• Erikson kam als Sohn dänischer Eltern bei Frankfurt am Main auf die Welt. Nachdem sich seine Eltern schon vor seiner Geburt getrennt hatten, heiratete seine jüdische Mutter einen jüdischen Arzt.
• Erikson verließ Deutschland im Jahr 1933, um
dann in den Vereinigten Staaten als Entwicklungspsychologe zu reüssieren.
• Erikson beschrieb die Entwicklung der Ich-Identität
als einen langwierigen Prozess.
Einführung in die Europäische Ethnologie
Erik H. Erikson
37
Einführung in die Europäische Ethnologie
38
• Er wurde mit seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung bekannt. Dieses Modell unterteilt
die Entwicklung des Menschen von seiner Geburt
bis zu seinem Tod in acht Phasen.
• Eriksons Schlüsselkonzept ist jenes der Identität
bzw. der Ich-Identität, die in jeder dieser Phasen
durch Auseinandersetzung mit seiner Umwelt herausgebildet wird.
• Ein Schwerpunkt seiner Analyse, das wird durch
die Stufen deutlich, liegt bei der Entwicklung der
Kinder und Jugendlichen, die zwischen Nachahmung und Abgrenzung von Erwachsenen changieren müssen, um eine Ich-Identität ausbilden zu
können.
Einführung in die Europäische Ethnologie
39
Phasen
Psychosoziale
Krisen
Radius wichtiger
Beziehung.
Grundstärken
Kernpathologie/
Grundlegende
Antipathien
Ich-Erkenntnis
I: Säuglingsalter
Grundvertrauen /
Grundmisstrauen
Mütterliche
Person
Hoffnung
Rückzug
Ich bin, was man
mir gibt
II: Kleinkindalter
Autonomie /
Scham + Zweifel
Eltern
Wille
Zwang
Ich bin, was ich
will
III: Spielalter
Initiative /
Schuldgefühl
Kernfamilie
Entschlusskraft
Hemmung
Ich bin, was ich
mir vorstellen
kann zu werden
IV: Schulalter
Regsamkeit /
Minderwertigkeit
Nachbarschaft/
Schule
Kompetenz
Trägheit
Ich bin, was ich
lerne
V: Adoleszenz
Identität / Identitätskonfusion
Peer-Groups und
fremde Gruppen
Treue
Zurückweisung
Ich bin, was ich
bin
VI: Frühes Erwachsenenalter
Intimität
/Isolierung
Partner, Freundschaft, Sexualität, Wettbewerb,
Zusammenarbeit
Liebe
Exklusivität
Ich bin, was mich
liebenswert
macht
VII: Erwachsenenalter
Generativität /
Stagnation
Arbeitsteilung
und gemeinsamer Haushalt
Fürsorge
Abweisung
Ich bin, was ich
bereit bin zu
geben
VIII: Alter
Integrität
/Verzweiflung
„Die
Menschheit“,
Menschen
meiner Art“
Weisheit
Hochmut
Ich bin, was ich
mir angeeignet
habe
Einführung in die Europäische Ethnologie
40
• Bei Erikson vollzieht sich der kindliche Identitätsaufbau räumlich, körperlich, psychisch, emotional
und sozial. So löst sich das Kind aus der emotionalen Symbiose mit den Eltern und der Familie
und integriert sich in die so genannten peer groups
– also Gleichaltrigengruppen.
• Diese Integrationsleistungen sind nach Erikson
allerdings nicht nur bei Kindern und Jugendlichen,
sondern auch in den weiteren Lebensabschnitten
immer wieder nötig.
• Interessanterweise hat Erikson zwar mit dem Identitätsbegriff gearbeitet und diesen auch für sein
Phasenmodell verwendet, aber er hat nie wirklich
dargelegt, was er darunter versteht.
Einführung in die Europäische Ethnologie
41
• Überhaupt ist es mit dem Identitätsbegriff so, wie
mit vielen anderen Begriffen, die uns hier
beschäftigen. Er ist etwas unscharf und wird zum
Teil in unterschiedlicher Form verwendet.
• Bei aller Unschärfe beinhaltet er ein konstitutives
Merkmal und das ist seine soziale Dimension.
• Der Soziologe Anselm Strauss hat dies gut zum
Ausdruck gebracht: „Identität ist immer verbunden mit der schicksalhaften Einschätzung seiner
selbst – durch sich selbst und durch andere.“
• Identität konstituiert sich also, das haben wir ja
auch in Eriksons Modell gesehen, durch Auseinandersetzung mit anderen Menschen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
42
• In dieser Auseinandersetzung hat das Individuum
die Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen
und Erwartungen sowie den Erwartungen und Anforderungen der Anderen auszugleichen.
• Identität ist ein ständiger Balanceakt: Einerseits
bedarf der Einzelne der Bestätigung durch andere,
um sich als identisch zu erfahren. Andererseits
darf er den Erwartungen der Anderen nur in einem
solchen Umfang entsprechen, dass er nicht in
deren Erwartungen aufgeht, will er als eigenes
Subjekt mit seiner Lebensgeschichte und seinen
Erwartungen und Bedürfnissen in der Interaktion
zur Geltung kommen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
43
• Bei all diesen Ausbalancierungsbemühungen ist es
dennoch so, dass der Begriff Identität ein Moment
von Ordnung und Sicherheit verkörpert inmitten
eines ständigen Wandels und Wechsels.
• Insofern meint er aber auch nichts Festes und
Starres, sondern ist durchaus elastisch.
• Der Begriff Identität ist ein analytisches Konstrukt.
Dieser Konstruktionscharakter bedeutet aber keineswegs, dass Identität nicht direkt erfahrbar wäre.
• Identität ist z.B. als ein Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner
Umgebung erfahrbar.
Einführung in die Europäische Ethnologie
44
• Deutlicher noch ist es in seiner negativen Form
wahrzunehmen – nämlich im Bewusstsein oder
Ge-fühl mangelnder Übereinstimmung.
• „Identität bezeichnet“ – nach Hermann Bausinger –
die Fähigkeit des Einzelnen“, „sich über alle Wechselfälle und Brüche hinweg der Kontinuität seines
Lebens bewusst zu bleiben.“
• In diesem Sinn kann man Identität als ein Grundmuster verstehen, das die Menschen dazu anleitet,
sich als soziales Wesen in seine Umwelt einzupassen. Einpassen meint aber nicht vollständiges Anpassen. Vielmehr will das Individuum durch Übereinstimmung ebenso wie durch Abgrenzung seinen spezifischen „sozialen Ort“ finden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
45
• Dabei meint Identität immer zweierlei: einerseits eine relativ konsistente Vorstellung von seinem sozialen Ich und andererseits einen Aushandlungsprozess über diese Vorstellung.
• Die Vorstellung und die Aushandlungsprozesse
enthalten dabei immer sowohl eher feste als auch
eher verhandelbare Komponenten.
• Viele Formen geschlechtlicher, religiöser und auch
sozialer Identität können üblicherweise selten verändert werden, wenn es denn überhaupt gewollt
wird. So gibt es zum Beispiel – bezogen auf die
Gesamtgesellschaft in Deutschland – relativ wenige Menschen, die ihre geschlechtliche Identität
ändern möchten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
46
• Oder ein anderes Beispiel: Ab dem Zeitpunkt, wo
man sich bewusst zu einer religiösen Gemeinschaft bekennt, wird dieser Aspekt religiöser Identität ebenfalls seltener gewechselt.
• Und wie wir aus vielen Studien – etwa zur Elitenforschung – wissen, lässt sich auch unsere soziale
Identität weniger leicht wechseln, als wir das in
unserer Leistungsgesellschaft vermuten.
• Es gibt aber bestimmte Wertvorstellungen, Stile
oder altersbedingte Rollen, die zwar für den Moment ebenfalls sehr stabil scheinen, um zu einem
geschlossenen Selbstbild zu gelangen, die aber
dennoch wandelbar sind und manchmal sogar
kurzfristigen Veränderungsprozessen unterliegen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
47
• Damit sind wir auch bei einer Schwierigkeit des
Identitätsbegriffs. Aus dem bisher Gesagten dürfte
deutlich geworden sein, dass wir von einer
personalen oder Ich-Identität und einer kollektiven
Identität sprechen können.
• Ebenso deutlich dürfte sein, dass die personale
Identität nicht unabhängig von der kollektiven Identität betrachtet werden kann, sie sind miteinander
verschränkt.
• In dieser Unterscheidung zwischen personaler und
kollektiver Identität liegt eine der Ursachen, warum
der Identitätsbegriff in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten ist.
Einführung in die Europäische Ethnologie
48
• Eine andere Ursache liegt in den sich wandelnden
Begrifflichkeiten in der Wissenschaftslandschaft.
• Stuart Hall spricht etwa von einer „Krise der Identität". Diese Krise, sei „als Teil eines umfassenden
Wandlungsprozesses zu sehen, der die zentralen
Strukturen und Prozesse moderner Gesellschaften“ verschiebt. So würden die Netzwerke unterminiert, die den Individuen in der sozialen Welt eine
stabile Verankerung gaben“.
• Aus diesem Grund sympathisiert Hall mit der These einer dezentrierten oder fragmentierten Identität; diese ist „nicht aus einer einzigen, sondern aus
mehreren, sich manchmal auch widersprechenden
oder ungelösten Identitäten zusammengesetzt“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
49
• In diese Richtung argumentieren viele weitere Autoren, unter denen der Soziologe Zygmunt Bauman und der Sozialpsychologe Heiner Keupp, der
hier an der LMU gelehrt hat, genannt seien.
• Identität ist zudem situationsabhängig. Die eigene
Identität mag zwar durch gewisse Verhaltensmassregeln und Identitätsmerkmale vorbestimmt sein,
aber ein konkretes Verhalten hängt immer von den
Kontexten ab, in denen wir uns befinden.
• Zwar werden wir in irgendwelchen Gesprächssituationen kaum unsere geschlechtliche oder Altersidentität grundsätzlich in Frage stellen können
und wollen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
50
• Aber wie wir Züge unseres Selbstbildes nuancieren, hängt von der jeweiligen Situation und davon ab, über wie viel Verhaltensspielraum wir in
solchen Situationen verfügen.
• Identität bezieht sich also immer auch auf ein
konkretes Aushandeln in konkreten Situationen.
In solchen Situationen kann es jeweils unterschiedliche Zuordnungen und Bezüge geben.
Jeder soziale Ort weist eigene Strukturen von
Verhaltensregeln und Verhaltensspielräumen
auf. Die Verhaltensregeln liegen relativ fest und
müssen respektiert werden (Wolfgang Kaschuba).
Einführung in die Europäische Ethnologie
51
• Die Verhaltensspielräume sind relativ offen und
können gestaltet werden. Deshalb ist die Herausbildung einer Identität immer eine soziale Praxis,
bei der allgemeine Regeln und Vorstellungen über
die eigene Identität in konkretes Verhalten umgesetzt werden.
• Ein Beispiel für die Situationsabhängigkeit von
Identitätskonstruktionen stammt aus der Gemeindestudie in der Südweststeiermark, mit der ich die
Vorlesung eingeleitet habe.
• Da unterhielten wir uns etwa mit dem größten
Bauern im Ort, der uns erzählte, wie er in dieser
peripheren Lage versucht, wirtschaftlich Erfolg zu
haben.
Einführung in die Europäische Ethnologie
52
• Er ist besonders darauf bedacht, sein Österreichertum
herauszustreichen.
Dieses
Österreicher-tum versteht er dabei als ein
deutschsprachiges. Im Interview meint er unter
anderem: „Ja, ich habe von Grazern gehört,
dass das ein zweisprachiges Gebiet ist.“
• Daher konnte ich es im Nachhinein fast nicht
glauben, als ich hörte, dass Slowenisch seine
Muttersprache ist und auch seine Frau aus Slowenien stammt. Seine Ziehmutter und deren
Schwester stammen zudem beide aus dem slowenischen Teil Kärntens und sprechen untereinander kaum ein Wort Deutsch.
Einführung in die Europäische Ethnologie
53
• In unterschiedlichen Kontexten werden also unterschiedliche Rollen gespielt, was häufig problemlos
vonstatten geht, manchmal aber zu größeren
Schwierigkeiten führen kann. In diesen Situationen
findet nämlich jeweils ein Aushandlungsprozess
zwischen den Selbstbildern und den Fremdbildern
statt und dabei handelt es sich um einen sehr komplizierten Balanceakt.
• Besonders deutlich wird das, wenn dieser Balanceakt nicht gelingt, wenn wir es also nicht schaffen, Fremdbild und Selbstbild „unter einen Hut“ zu
bekommen. Das passiert etwa, wenn Andere auf
uns nicht entsprechend reagieren.
Einführung in die Europäische Ethnologie
54
• Daraus können zwei Problemlagen entstehen.
Einerseits ein Identitätsverlust und andererseits
Überidentifikation.
• Der Identitätsverlust kann bei existentiellen oder
psychischen Krisen der Fall sein (Vgl. dazu und im
Folgenden: Kaschuba, Einführung).
• Überidentifikation dann, wenn ein zentraler Identitätsbezug völlig in den Vordergrund rückt, wenn
also jemand völlig von einem zentralen Identitätsbezug abhängig wird. Etwa von einem bestimmten
Körperlichkeitsbild oder von der Akzeptanz einer
bestimmten Bezugsgruppe – als besonders drastische Beispiele könnten hier Sekten oder nationalistische Bewegungen genannt werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
55
• In diesem Zusammenhang ist es wichtig, ob man
die Frage der Identität vom Individuum her denkt
oder von einem Kollektiv. Vom Individuum her gedacht bedeutet Identitätskrise „eine intensiv erlebte
Erfahrung grundlegender sozialer und kultureller
Dissonanzen mit der gesellschaftlichen Umwelt.
• Der Begriff Identitätskrise wird aber auch im Zusammenhang mit kollektiver Identität oder kollektiven Identitäten genannt. Etwa im Zusammenhang
mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.
• Da werden Identitätskrisen als Ausdruck jener Erfahrungen gedeutet, die in Form rasanten sozialen
und kulturellen Wandels auf die Menschen zukommen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
56
• Etwa durch globale Veränderungen von ökonomischer und technologischer Rationalität oder durch
eine zunehmende Entwurzelung durch Mobilität
und Migration.
• Verschiedene Wissenschaftler haben sich in den
letzten Jahren dazu geäußert. George Marcus etwa hat den Tod der Trope des Lokalen in der Anthropologie proklamiert (Trope ist in der Rhetorik
eine Stilfigur, wobei für einen Ausdruck ein
verwandter bildhafter Begriff eingesetzt wird).
• Er meint, die Idee einer ortsgebundenen Produktion von Identität sei nicht mehr länger gültig, weil
Identität simultan an verschiedenen Orten hergestellt würde, an denen Aktivitäten stattfinden –
daher sein Konzept einer multi-sited Ethnography.
Einführung in die Europäische Ethnologie
57
• Vom Subjekt her gedacht, mag diese Behauptung
berechtigt sein, wie auch Stuart Hall argumentiert.
• Hall sieht die Entstehung eines postmodernen
Subjekts, „das ohne eine gesicherte, wesentliche
oder anhaltende Identität konzipiert ist. Identität
wird ein ‚bewegliches Fest‘. Sie wird im Verhältnis
zu den verschiedenen Arten, in denen wir in den
kulturellen Systemen, die uns umgeben, repräsentiert oder angerufen werden, kontinuierlich gebildet
und verändert“.
• In eine ähnliche Richtung tendieren die Ausführungen des britischen Soziologen Zygmunt Bauman:
Der Existenzmodus der Subjekte sei gekennzeichnet durch unzureichende Bestimmtheit, Unabgeschlossenheit, Motilität und Wurzellosigkeit.
Einführung in die Europäische Ethnologie
58
• Die Identität des Subjekts sei weder vorgegeben,
noch werde sie autoritativ bestätigt. Sie muss konstruiert werden, jedoch kann kein Konstruktionsentwurf als vorgeschrieben oder narrensicher gelten. Die Konstruktion der Identität bestehe aus aufeinander folgenden Versuchen und Irrtümern“.
• Trotz oder sogar wegen dieser Veränderungen gibt
es Formen einer kollektiven Identität, die hier noch
etwas beleuchtet werden sollen.
• Clifford Geertz meinte einmal, kein Mensch lebe in
der Welt im allgemeinen, „jeder, sogar der Exilierte, der Getriebene, der Diasporische (…), lebt in
einem eingeschränkten und begrenzten Ausschnitt
davon – der Welt um einen herum“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
59
• Ausgehend davon sind jene Schnittmengen fragmentierter personaler Identitäten interessant, die
wiederum ein Kollektiv ergeben.
• Zwar hat Hermann Bausinger schon vor mehr als
zwanzig Jahren auf die Gefahr hingewiesen, dass
häufig unreflektiert von Kollektividentitäten gesprochen wird, aber er konstatierte eben auch, dieses
Konstrukt Identität sei „als Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und mit
seiner Umgebung“ direkt erfahrbar.
• Viele Untersuchungen innerhalb der Europäischen
Ethnologie haben sich daher mit Fragen lokaler
oder regionaler Identitätskonstruktion auseinandergesetzt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
60
• Wenn man sich solchen Fragen lokaler oder
regionaler Identitätskonstruktion zuwendet, muss
man sich auch gewisser Gefahren bewusst sein.
Etwa dass durch die Begrenztheit des örtlichen
Erlebens durch einen Forscher, der sich an einem
bestimmten Ort aufhält, auch ein begrenzter
Blickwinkel entstehen kann, der wichtige Dinge
ausblendet: etwa die Außenbeziehungen.
• Damit wird nicht bestritten, dass territoriale Bindungen mit Identität verknüpft werden, sondern es
werden Denkmuster hinterfragt, in denen Identität
und räumliche Bindung zwangsläufig als Einheit
gedeutet werden. Daher sollten Aspekte einer lokalen Identität als eine Möglichkeit unter anderen
Möglichkeiten verstanden werden, territoriale Zugehörigkeit & Identitätskonstruktion zu verbinden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
61
• Dennoch: Der „Dauerbrenner“ Identität, wie es
Konrad Köstlin ausgedrückt hat, spielt sich hauptsächlich auf lokaler Ebene ab: „in Gewohnheiten,
im Dialekt, auf immer wieder gegangenen Wegen
und landschaftlichem Bild basierend, bei Gerüchen
und Geräuschen“.
• Dieser lokale Raum ist für die Menschen von
zentraler Bedeutung, hier findet ein Großteil jener
identitätsstiftenden Interaktionen statt, die für Menschen so bedeutsam sind.
• Dabei wird der Grundstein für jene Diskursformationen gelegt, als welche Aleida Assmann kollektive Identitäten sieht. Diese Identitäten stehen und
fallen mit jenen Symbolsystemen, „über die sich
die Träger einer Kultur als zugehörig definieren
und identifizieren“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
62
• Lokale Identität speist sich einerseits aus Quellen
der Kommunikation und Interaktion, andererseits
aus den Möglichkeiten, eigene Bedürfnisse – z. B.
nach Wohnen und Arbeit, nach der Teilhabe an
politischen Entscheidungen, nach der Gestaltbarkeit usw. – in der eigenen Lebensumwelt zu befriedigen.
• Einen besonderen Weg zur Erforschung und sogar
Überprüfung lokaler Identität beschritt die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus.
• Ausgehend von der Untersuchung von Dorferneuerungen, die mit den Modernisierungsprozessen
seit den 1960er Jahren einhergingen, interessierte
sie sich für die Einstellung der dörflichen Bevölkerung zu den Veränderungsprozessen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
63
• Sie rückte sowohl bei den Veränderungen als
auch bei der Frage des Denkmalschutzes Fraugen der Raumbezogenheit und der Raumorientierung von Menschen ins Zentrum ihres Interesses.
• Mit ihrem Vorgehen wollte sie ein öffentliches
politisches Vorgehen erreichen, das ein die Privatinteressen übergreifendes und ortsbezogenes Handeln ermöglicht. Über aktive Mitgestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten sollte eine
Identifikation der Bewohner mit ihrem Ort stattfinden.
• Greverus stellte drei Hypothesen bezüglich
räumlicher bzw. lokaler Identität auf:
Einführung in die Europäische Ethnologie
64
1. Die Identifikation mit einem Raum hängt vom Grad
der in diesem Raum möglichen Befriedigung von
Lebensbedürfnissen ab, denen verschiedene
Raumorientierungen zugrunde liegen. Je besser
diese Bedürfnisse befriedigt werden, desto größer
ist das Identifikationspotential, das zur Anerkennung dieses Raums führt.
2. Je konfliktreicher sich in einem gegebenen Raum
für die Einzelnen die unterschiedlichen Raumorientierungen gegenüberstehen und je sozioökonomisch heterogener der Raum besetzt ist, desto
stärker ist die Tendenz zur privatistischen Konfliktlösung im Rahmen individueller und/oder interessengruppenspezifischer Möglichkeiten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
65
3. Je stärker in eine räumliche Entwicklungsplanung
eine kollektive Konfliktlösungsstrategie einbezogen wird, desto größer sind die Chancen für eine
solidarische Zusammenarbeit der Bewohner hinsichtlich der Interessenvertretung ihres Lebensraumes.
• Zur Überprüfung dieser Hypothesen hat Greverus
dann ihr so genanntes Raumorientierungsmodell
entwickelt, bei dem es sich um die Weiterentwicklung eines Modells des Soziologen Erik Cohen handelt. In ihrem Modell gibt es vier wesentliche Raumorientierungskategorien:
1. Die instrumentale Raumorientierung bezieht sich
auf die Ressourcen für die materielle Existenzsicherung, ihre Erschließung und ihre Nutzungsmöglichkeiten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
66
2. Die kontrollierende Raumorientierung bezieht sich
sowohl auf die formelle als auch informelle Kontrolle
und Mitbestimmung, die die Bewohner im öffentlichen und privaten Bereich der Raumnutzung und –
gestaltung besitzen.
3. Die soziokulturelle Raumorientierung erwächst aus
der für die Entfaltung der Persönlichkeit wichtigen
sozialen und kulturellen Betätigungsmöglichkeiten.
Dazu zählen Interaktionsmöglichkeiten, Erholungsmöglichkeiten und insgesamt die verschiedenen
Aktivitätsmöglichkeiten.
4. Die symbolische Raumorientierung bezieht sich sowohl auf ästhetische Präferenzen als auch auf die
spezifischen Traditions-, Image- und Erinnerungswerte, die mit den Räumen und Raumdetails
verbunden sind und in die Weltsicht der an ihnen
orientierten Menschen eingehen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
67
• Je konfligierender sich nun in einem gegebenen
Raum die unterschiedlichen Raumorientierungen
gegenüberstehen, desto stärker wird die Identitätsdiffusion in und gegenüber diesem Raum sein,
desto stärker wird die Identität beschädigt.
• Hinter dem Raumorientierungsmodell steht der
Gedanke, dass alle vier Kategorien für das menschliche Wohlbefinden von gleicher Wichtigkeit
sind, gerade in den gegenwärtigen komplexen
Gesellschaften aber von einem ausgewogenen
Verhältnis der Raumorientierungen nicht mehr die
Rede sein kann.
• Bei Untersuchungen auf der Basis des Raumorientierungsmodells wurde auf eine ganze Palette
von Untersuchungsmethoden zurückgegriffen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
68
• Wenn es um regionale Identität geht, finden sich
oft positive Zuschreibungen an Orte Regionen etc.
• Es gibt aber auch die Kehrseite solcher Identitätsbildungsprozesse. Dafür bringt Wolfgang Kaschuba in seiner Einführung in die Europäische Ethnologie ein glänzendes Beispiel:
• Jean Améry (1912 in Wien geboren, im Salzkammergut aufgewachsen, und nach einer Buchhandelslehre in Wien an der Volkshochschule tätig,
ehe er 1938 nach Belgien floh. Zweimal von den
Nationalsozialisten verhaftet, schwer gefoltert und
in die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald
und Bergen Belsen verbracht – überlebte und war
nach dem 2. Weltkrieg als Essayist und
Schriftsteller tätig, wählte 1978 den Freitod).
Einführung in die Europäische Ethnologie
69
• Améry hat die Schwierigkeiten mit dem Begriff
Heimat aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen immer wieder zum Thema gemacht – unter
anderem in seinem Essay „Wieviel Heimat braucht
der Mensch?“
• Darin schildert er, wie er als österreichischer Jude
– allerdings als assimilierter, katholisch erzogener
Jude – und Linker 1938 vor dem Nazismus nach
Belgien flieht, in Antwerpen als Exilant und Antifaschist jenes Deutschland bekämpft, sich zugleich aber auch vor Heimweh nach ihm verzehrt.
• Améry beteiligt sich am aktiven Widerstand. Kurz
bevor er 1943 verhaftet, gefoltert und ins
Konzentrationslager gesteckt wurde, erlebte er
Folgendes.
Einführung in die Europäische Ethnologie
70
• Seine Wohnung, die als Stützpunkt der illegalen
Arbeit dient, wird von einem im Hause wohnenden
SS-Mann betreten, der sich nichts ahnend lediglich wegen des Lärms aus dieser Nachbarwohnung beschweren und seine Nachtruhe einfordern
will. Die Situation wird für Améry grotesk und er
schreibt: „Er stellt seine Forderung – und dies war
für mich das eigentlich Erschreckende an der Szene – im Dialekt meiner engeren Heimat. Ich hatte
lange diesen Tonfall nicht mehr vernommen, und
darum regte sich in mir der aberwitzige Wunsch,
ihm in seiner Mundart zu antworten. Ich befand
mich in einem paradoxen, beinahe perversen Gefühlszustand von schlotternder Angst und gleichzeitig aufwallender familiärer Herzlichkeit, denn
der Kerl … erschien mir plötzlich als ein potentieller Kamerad.“
Einführung in die Europäische Ethnologie
71
• Einerseits fühlt sich Améry überwältigt durch die
Rührung, diesen seit Jahren nicht mehr vernommenen Dialekt als „Heimatklang“ wieder zu hören
– die Sprache als den symbolischen Ort der
Heimat.
• Andererseits überwältigt ihn die Todesangst dieser
Situation, in der sein Landsmann zu seinem Mörder werden könnte. Es ist ein fast absurder Zwiespalt, der gefühlsmäßige Momente eines völligen
Identisch-Seins mit dem klaren Wissen eines
absoluten Nicht Identisch-Seins verbindet.
• Was heißt da Heimat, was nationale Identität,
wenn er bei Fremden in Belgien Sicherheit finden,
während er vom Nachbarn den Tod erwarten
kann?
Einführung in die Europäische Ethnologie
72
• Améry antwortet darauf: „Die Feindheimat wurde
von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das
Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr verbunden
war. Der mit Selbsthaß gekoppelte Heimathaß tat
wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn mitten in der angestrengten Arbeit der Selbstvernichtung dann und wann auch
das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz
verlangte.“
• Interessant ist hier allerdings nicht nur die Frage,
die Wolfgang Kaschuba stellt, was hier Heimat
heißt. Ebenso interessant ist die Tatsache, dass
Améry seiner Herkunftsregion affektiv so verbunden ist, dass er es trotz aller Schrecken und Geschehnisse nicht vermag, diese emotionale
Bindung zu kappen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
73
• Identität konstituiert sich überhaupt erst durch die
Bezugnahme auf ein Anderes. Diese klassische
Konstruktion, das „Eigene“ vom „Anderen“ oder
„Fremden“ zu unterscheiden, diente der Versicherung seiner selbst.
• Das „Andere“ konnte als „Fremdes“ getrennt vom
„Eigenen“ gedacht werden – es war sozusagen
eine andere Welt irgendwo außerhalb des eigenen
Kosmos.
• Wenn heute die Rede von „kultureller Identität“ ist,
dann häufig in einem ganz spezifischen und für
unsere Disziplin gefährlichen Sinn – nämlich dann,
wenn kulturelle und ethnische Identität gleichgesetzt werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
74
• Der Sozialwissenschaftler Frank-Olaf Radtke hat
einmal einen groben historischen Überblick über
Inklusions- und Exklusionsmechanismen gegeben.
• Er meinte im Mittelalter wurde die Vorstellung von
Innen und Außen durch die Religion geregelt. In
der Zeit des Industrialismus und Kolonialismus sei
die „Rasse“ als Unterscheidungskriterium in den
Mittelpunkt getreten; danach hätten Volk und Nation, die auf einer positiven Bestimmung von Gemeinschaft beruhten, die Betrachtung von Innen
und Außen bestimmt.
• Am Ende des 20. Jahrhunderts sei es nun die
„Kultur“, mit der die Differenz zwischen „eigen“ und
„fremd“ ausgedrückt werde.
Einführung in die Europäische Ethnologie
75
• In dieser von vielen Sozialwissenschaftlern geteilten Einschätzung erscheint das Konzept von „Kultur“ als Fortschreibung rassistischer und nationalistischer Ausgrenzungsstrategien. Demzufolge wird
Kultur, so wie zuvor Rasse oder Nation, als Unterscheidungsmerkmal zur Einordnung von Menschen in feststehende Kollektive eingesetzt.
• Bestehende Unterschiede in der Bevölkerung werden kulturalisiert, um die sozialen und ökonomischen Differenzen zu verschleiern. Die Zuschreibung Kultur lege Menschen auf eine Zugehörigkeit
zu ethnischen Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaften fest. Französische Kritiker wie Pierre-André Taguieff bezeichneten Kultur daher als
eine Art kollektiven Kerker, in dem das Individuum
gefangen bleibt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
76
• Diese sozialwissenschaftliche Debatte ist auch in
den ethnologischen Disziplinen nicht unbekannt.
Auch hier wurde kritisiert, dass der Kulturbegriff
zur Ausgrenzung von Migranten und Minderheiten
herangezogen wird.
• Wolfgang Kaschuba etwa thematisierte die verzerrte Interpretation von sozialen Problemen als
Ausdruck kultureller Differenzen als eine zunehmende Tendenz zum Kulturalismus.
• Mit dem Begriff des „Othering“ wurde darauf hingewiesen, dass praktisch aus der Disziplin selbst
ein Beitrag zur Bereitstellung von Fremdheit als
Ausgrenzungskategorie geleistet wird.
Einführung in die Europäische Ethnologie
77
• Dennoch unterscheiden sich die Debatten in den
Sozialwissenschaften und in den anthropologischen Disziplinen in einem Punkt maßgeblich. Die
anthropologischen Disziplinen, wir haben das ja in
dieser Vorlesung schon durchgenommen, gehen
von einem Kulturbegriff aus, der weit über die
Ethnisierung hinausweist.
• Kultur verstehen wir als eine Praxis sozialer Verständigung und symbolischer Darstellung. Insbesondere geht es uns um die Analyse der Prozesse
sozialen Wahrnehmens und Deutens, um die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, dem Aushandeln von Sinnzusammenhängen und die Praktiken symbolischer Ein- und
Ausgrenzung.
Einführung in die Europäische Ethnologie
78
• Das verweist auf alle Phänomene der Alltagskultur
und auf die Dynamiken, die sich etwa aus dem
Zusammentreffen unterschiedlicher Gruppierungen ergeben.
• Kultur wird nicht nur ethnisierend verstanden.
• In den ethnologischen Disziplinen erschöpft sich
Kultur also nicht in dem Aspekt menschlicher
Kulturgebundenheit, die an den Traditionsbestand
einer Herkunftsgruppe gebunden ist.
• Zum Konzept der Kultur gehört genauso der Aspekt der Kulturfähigkeit, die es ermöglicht mit Situationen kreativ umzugehen. So führt das Aufeinandertreffen des Eigenen mit dem Anderen nicht
automatisch zur Ausgrenzung, sondern führt meist
sogar zur Entstehung von etwas Neuem.
Einführung in die Europäische Ethnologie
79
• Dies steckt etwa schon in dem Bild von „Collage“,
mit dem Ina-Maria Greverus gearbeitet hat und mit
dem sie den produktiven Umgang von Menschen
mit Fremdem zeigen wollte.
• Auch Hermann Bausinger betonte, Kultur sei die
Fähigkeit des Menschen, auf Veränderungen mit
Veränderungen zu reagieren.
• Diese prinzipielle Offenheit, die wir im Alltag ständig beobachten können, ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite ist aber die, dass sich Gruppen oder sogar ganze Gesellschaften dennoch
nach dem Prinzip der Kulturgebundenheit voneinander abgrenzen. Dabei wird – bewusst oder
unbewusst – die Fähigkeit zum Kulturaustausch
und zur Durchlässigkeit außer Acht gelassen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
80
• Ethnische Fremd- und Selbstdefinitionen und ihre
politische Verwendung scheinen gerade in den
spätmodernen komplexen Gesellschaften wieder
zuzunehmen.
• In seinem Klassiker „Ethnic Groups and Boundaries“ ist Frederik Barth der Frage nachgegangen,
wie sich ethnische Identität formiert und welche
Rolle Kultur dabei spielt.
• Seine Hauptthese meint, dass es keine vorexistente objektive Kultur ist, aus der eine ethnische
Gruppe als natürliche Repräsentantin dieser Kultur
hervorgeht. Vielmehr kreieren sich ethnische
Gruppen aus ihren kulturellen Ressourcen Unterscheidungsmerkmale, um sich nach innen zu vergemeinschaften und nach außen abzugrenzen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
81
• Erst in diesem Prozess konstruiert sich die Ethnie als distinkte Gruppe mit eigenen Traditionen
und eigener Herkunftsgeschichte.
• Barth muss durch Ansätze aus der politischen
Anthropologie und verwandter Disziplinen ergänzt werden, wofür die Namen Benedict Anderson, Ernest Gellner oder Eric Hobsbawm stehen.
• Auch bei Ihnen wird die Konstruktion ethnischer
Identität nicht als quasi zeitlose Form betrachtet,
sondern als Produkt einer ganz bestimmten
historischen Entwicklung. Es ist die Idee der Nation, die ausgehend vom 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
82
• Und mit der Idee der Nation gewinnen auch das
Prinzip des Ethnos und das Denken in ethnischen Kategorien an Bedeutung.
• Das Ethnische ist hier eine Antwort auf die Auflösung der traditionalen Strukturen, die in der
Moderne stattfinden. Das Ethnos erscheint dabei
als ein Instrument kollektiver Unterscheidung,
das sich mit der Moderne entwickelt und in der
Figur des Nationalstaats seine Wirkung zeigt.
• Erst im Rahmen dieser politisch-gesellschaftlichen Anwendung verliert das Prinzip ethnischer
Grenzziehungen jene „Unschuld“, die es bei
Barth noch hat.
Einführung in die Europäische Ethnologie
83
• Die Grenzen stehen nun für faktische Machtverhältnisse, wie sie sich typischerweise in der
asymmetrischen Beziehung zwischen ethnischen Minderheiten und nationalen Mehrheiten
ausdrücken.
• In der nationalistischen Version – vor allem in
Deutschland – erhält Ethnos in seiner Übertragung auf den deutschen Begriff Volk aber nicht
nur die Zuschreibung einer kulturellen Daseinsform, die in einer kollektiven Identität ihren Ausdruck findet.
• Zur kulturellen Dimension, die an sich schon
nicht unproblematisch ist, kommt das biologische Abstammungsprinzip.
Einführung in die Europäische Ethnologie
84
• Volkszugehörigkeit wird als Resultat des Hineingeboren-Werdens in eine Abstammungsgemeinschaft verstanden. Sie meint eine blutsmäßige
Bindung, die entsprechende Zuschreibungen
physischer, mentaler und kultureller Verwandtschaft nach sich zieht. Sie verweist auf angeblich „angestammte“ räumliche Grenzen und Territorien.
• Die Idee der Nation impliziert also eine radikale
Umorientierung der Vorstellung, wie eine Gesellschaft im Innern organisiert sein sollte.
• Bis dahin war das europäische Gesellschaftsbild
geprägt von horizontal übereinander geschichteten und klar voneinander abgegrenzten Ständen, an deren Spitze ein Herrscher regierte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
85
• Das Modell „Nation“ eröffnete dagegen die Möglichkeit einer vertikal über alle sozialen Unterschiede hinweg organisierten Gemeinschaft, die
alle zu einem Staatsvolk verbindet.
• Diese Konstruktion enthält einerseits das sozialrevolutionäre Potential eines sich selbst regierenden, demokratisch verfassten Volkes und basiert auf der Idee der Gleichberechtigung aller
Bürger.
• Andererseits enthält sie aber genauso die Vorstellung eines Volkes, das seinen Exklusivanspruch auf einen Staat und ein Territorium ethnisch begründet.
Einführung in die Europäische Ethnologie
86
• Und zwar begründet mit der Vorstellung einer jeweils eigenen, von anderen ganz klar abgrenzbaren Geschichte und Kultur als Grundlage nationaler Identität. Diese beiden Prinzipien des
Demos und des Ethnos, und die sich daraus ergebenden Widersprüche und Konflikte sind in
unterschiedlicher Gewichtung in allen modernen
Staaten weiter repräsentiert.
• Nationalisierungsprozesse sind allerdings nie
vollständig abgeschlossen. Gerade in der Entwicklung moderner Staaten wechseln sich Phasen liberaler Offenheit mit Phasen nationaler
Rückorientierung ab.
Einführung in die Europäische Ethnologie
87
• Entlang solcher Konjunkturen lassen sich wenig
ethnisierte bis zu hoch ethnisierten Kontexten
beobachten. Immer jedoch behauptet sich das
Denken in ethnonationalen Kategorien als zumindest latent vorhandenes Distinktionsmuster.
• Besonders in Zeiten ökonomischer Krisen oder
in gesellschaftlichen Umbruchsituationen scheint
sich der offensive Rückgriff auf ethnonationale
Unterscheidungsmuster und Grenzziehungen
als politische Strategie anzubieten.
• Das Denken in ethnischen Kategorien und ein
dies scheinbar begründender Kulturbegriff ist –
trotz aller Dekonstruktionsbemühungen der Wissenschaft - ein in die Moderne eingeschriebenes
Muster.
Einführung in die Europäische Ethnologie
88
• Dieses Muster ist nicht auf die Phantasien von
Nationalisten und Neo-Rassisten beschränkt.
• Wir alle haben gelernt, in diesen Kategorien zu
denken und uns die Welt wie selbstverständlich
in Nationalitäten und darauf gründende Staaten
aufgeteilt vorzustellen.
• Insofern schreibt Wolfgang Kaschuba, dass sich
ethnische Zusammengehörigkeitsgefühle nicht
nur aus Ideologie und Imagination zusammensetzen, sondern auf konkreten sozialen Praktiken beruhen.
• Bilder ethnischer Identität sind fester Bestandteil
unserer alltagskulturellen Vorstellungswelt und
ein selbstverständliches Zuordnungsschema etwa in Arbeitswelt, Medien, Literatur oder Kunst.
Einführung in die Europäische Ethnologie
89
• Noch die vehementesten Kritiker ethnonationaler
Ausgrenzung bleiben in diesem Diskurs gefangen, wenn ihnen nicht bewusst wird, wie sehr ihr
eigener Kulturbegriff ethnisch bestimmt und begrenzt wird.
• Das wird nach Frank-Olaf Radtke gerade auch bei
den Vertretern des Multikulturalismus klar, die
„kulturelle Vielfalt“ gegen nationale Einheit
verteidigen, aber letztlich nicht über die Zielvorstellung einer multiethnischen „Vielvölkerrepub-lik“
hinauskommen und so dasselbe Muster un-ter
anderen Vorzeichen perpetuieren.
• Aus anthropologischer Perspektive und unterstützt durch ethnographisches Material können
ethnonationalistische
Diskurse
dekonstruiert
werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
90
• So könnte auch die ethnisierte Verwendung von
Kultur in manchen sozialwissenschaftlichen
Diskursen überwunden werden.
• Anknüpfend an Barth können wir nämlich feststellen, dass kulturelle Praxis stets die im
ethnonationalen Diskurs angelegte Vorstellung
einer abgeschlossenen Kultur überwindet.
• Unsere Untersuchungsfelder Alltagskultur und
Identität sind dabei jene Felder, an denen immer
schon widerständige Erfahrungen unbedrohlicher, grenzüberschreitender Verständigung gemacht werden können. Und sie wäre zudem jenes Feld, in dem das Potential einer Vergemeinschaftung jenseits ethnonationaler Begrenzungen zu suchen ist
Einführung in die Europäische Ethnologie
91
Gemeindeforschung
• Gemeindeforschungen verfügen innerhalb der
Sozialwissenschaften über eine lange, innerhalb
der Volkskunde/Europäischen Ethnologie immerhin über eine gewisse Tradition.
• In der Alltagsethnographie der Dorf- und Gemeindeforschung ging man davon aus, „daß sich
im begrenzten Ausschnitt einer dörflichen Gesellschaft deren historische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle Verkehrsformen und
soziale Gruppierungen sehr präzise beobachten
und in ihrem Zusammenwirken als ein überschaubares ‚soziales‘ Universum analysieren
lassen“ (Kaschuba).
Einführung in die Europäische Ethnologie
92
• Dabei gibt es ganz unterschiedliche Formen der
Gemeindeforschung oder community studies.
Die Bandbreite reicht von der Untersuchung kleiner Agrargemeinden, über rückständige Orte in
urbanisierten Nationen über suburbane Gemeinden bis hin zu enthnischen Gruppierungen und
Quartieren in Großstädten. In den USA wurden
auch ganze Städte als communities untersucht.
• Auch in der Volkskunde wurden community
studies durchgeführt, besonders bekannt wurde
etwa das von Tübingen aus viel untersuchte
Kiebingen.
• Gemeindestudien erfuhren aber auch einige Kritik.
Einführung in die Europäische Ethnologie
93
• Gisela Welz hat einige Kritikpunkte zusammengefasst: „Gemeindeforschung reproduziert die
Gemeinde (…) als eine Verknüpfung von Kultur
und Identität. Immobilität, geringe Aktionsradien,
intensive Binnenkommunikation, konformitätserzeugende Überschaubarkeit werden in der Sozialforschung gerne der kleinen Gemeinde und
ihren Bewohnern zugeschrieben“.
• Heute ist die Gemeindeforschung aus der Mode
geraten ist. Noch 1967 hatte Sigurd Erixon die
Gemeindeforschung zu den dringenden Fachaufgaben gezählt, aber nach einem kurzen
Boom in den 1970er und zu Beginn der 1980er
Jahren sind die entsprechenden Forschungen
wieder zurückgegangen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
94
• Angesichts spätmoderner Diskurse von Globalisierung, Enträumlichung, Entbettung und wie die
Begrifflichkeiten alle lauten, handelt es sich bei
der Gemeinde um ein überholtes Konzept, wie
manche meinen.
• Für viele ist die Gemeinde heutzutage etwas
Anachronistisches. Sie wird als ein Stadium
einer Entwicklung gesehen, das überholt ist.
• In komplexen Gesellschaften hätten kontraktuelle Beziehungen jene Bindungen und Interaktionen ersetzt, die für Gemeinden typisch gewesen
seien.
Einführung in die Europäische Ethnologie
95
• In diese Richtung gingen schon Argumentationen, bevor Gemeindestudien in Europa populär wurden. Auch Carola Lipp und Wolfgang
Kaschuba haben den Begriff „Gemeinde“ bereits
in den 1970er Jahren in Frage gestellt: „Vor der
Beschäftigung mit Phänomenen des ‚Lebens in
der Gemeinde‘ steht somit bei allen gesellschaftlichen Siedlungseinheiten immer die Frage
nach der Gültigkeit des ‚Begriffs‘ als Definitionsrahmen; beschreibt er überhaupt noch die wesentlichen strukturellen Grundlagen gesellschaftlicher Existenz?“
• Aber mit solchen voreiligen Schlüssen sollte
man vorsichtig sein.
Einführung in die Europäische Ethnologie
96
• Zunächst gilt es zu klären:
1. Was ist unter Gemeinde zu verstehen?
2. Spielt sie in der Alltagswelt der Menschen eine Rolle
3. Stellt sie für die Disziplin weiterhin ein tragfähiges Konzept darstellt?
• Ausgehend davon können wir den Veränderungen von Gemeinde nachspüren und die mögliche Irrelevanz des Konzeptes behaupten.
• Gemeinde wird hier synonym mit dem englischen Begriff community benutzt. Im englischen
community schwingt die Doppelbedeutung von
Gemeinde und Gemeinschaft stärker mit als in
der Verwendung des Begriffs Gemeinde in
vielen deutschsprachigen Arbeiten zum Thema.
Einführung in die Europäische Ethnologie
97
• Der Begriff Gemeinde kann in einem umfassenden Sinn verwendet werden, wie dies in der Kultur- und Sozialanthropologie üblich geworden ist.
Gemeinde wird demnach durch zumindest drei
Aspekte charakterisiert, die einander einschliessen können, aber nicht müssen.
1. Erstens kann Gemeinde als eine sozialräumliche
Einheit verstanden werden, die den Lebensmittelpunkt einer Gruppe von Menschen darstellt.
So sieht z.B. Hermann Bausinger die Gemeinde
als eine sozialräumliche Einheit, die durch eine
„Spannung zwischen Enge und Weite“ charakterisiert wird. Diese gemeinsame Lokalität kann
darüber hinaus eine politische Einheit sein, wie
z.B. ein Dorf.
Einführung in die Europäische Ethnologie
98
2. Zweitens kann Gemeinde ein gemeinsames Sozialsystem oder eine gemeinsame Sozialstruktur
bezeichnen, die lokal verankert sein können,
aber nicht notwendigerweise müssen [z.B. Großbauern].
3. Drittens kann sich das Konzept der Gemeinde
auf gemeinsame Interessen zwischen Menschen
beziehen [z.B. Sportverein].
• In allen Fällen stellt Gemeinde ein symbolisches
und kontrastives Konstrukt dar, das durch ein
gemeinsames Bewusstsein einer Grenze gegenüber andere soziale Gruppen bestimmt ist. Dabei können diese Grenzen je nach Perspektive
variieren.
Einführung in die Europäische Ethnologie
99
• Gemeinden existieren dementsprechend nicht
vorwiegend aus sozialstrukturellen Systemen
und Institutionen, sondern als Bedeutungswelten
in den Vorstellungen ihrer Mitglieder.
• In den meisten Gemeindestudien werden allerdings Gemeinden bzw. Gemeinschaften immer
an eine spezifische Lokalität wie Stadt, Dorf oder
zumindest Ortsteil geknüpft.
• Ein Dilemma durchzieht fast alle Gemeindeforschungen. Es handelt sich um das Ideal von
Gemeinde, das oft explizit, meist jedoch implizit
in den Arbeiten zum Ausdruck kommt.
• Um dies zu verstehen, muss auf ein frühes Konzept von Gemeinschaft zurückgeblickt werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
100
• Ferdinand Tönnies führte 1887 ein solches Konzept in die wissenschaftliche Diskussion ein.
• Tönnies war ein bedeutender deutscher Soziologe – neben Max Weber und Georg Simmel der
wichtigste in der Frühzeit der Soziologie um die
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
• Sein Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ ist
das erste – explizit als soziologisch ausgewiesene Grundlagenwerk des Faches. Die erste
Auflage erschien 1887, aber erst die zweite
Auflage 1912 wurde zum Erfolg, weil mittlerweile
die Jugendbewegung zu jener Zeit, die nach Gemeinschaft suchte, dieses Werk populär machte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
Ferdinand Tönnies (1855-1936)
101
Einführung in die Europäische Ethnologie
102
• Tönnies stellte dem Konzept der Gemeinschaft
dasjenige von Gesellschaft gegenüber. Bei Gemeinschaft handelt es sich um ein romantisches,
rückwärts gerichtetes Konzept, welches die ‚positiven‘ Aspekte der Gemeinschaft vorindustrieller Prägung den ‚negativen‘ Folgen der Industrialisierung gegenüberstellt, die sich im Bild der
Gesellschaft bündeln.
• Ungefähr zur gleichen Zeit – nämlich 1893 – hatte der französische Soziologie Émile Durkheim
sein Werk „Über die Teilung der sozialen Arbeit“
– De la division du travail social – verfasst. Die
moderne Industriegesellschaft – so führte Durkheim aus – unterscheide sich von anderen Gesellschaften durch die Arbeitsteilung.
Einführung in die Europäische Ethnologie
Émile Durkheim (1858-1917)
103
Einführung in die Europäische Ethnologie
104
• Durch die Arbeitsteilung nämlich und die daraus
resultierende Spezialisierung seien die Menschen aufeinander angewiesen. Daraus ergeben
sich zwei Formen von Solidarität: die mechanische und die organische Solidarität.
• Die mechanische Solidarität sei die ältere Form,
die für so genannten segmentäre Gesellschaften
typisch sei. Diese Gesellschaften seien weniger
gegliedert und würden durch Traditionen, Sitten
und Sanktionen zusammen gehalten.
• Die organische Solidarität zeichnet sich durch
kontraktuelle Strukturen aus, in die Menschen in
unterschiedlicher Form eingebunden sind.
Einführung in die Europäische Ethnologie
105
• Auch Durkheim sah also im damaligen Zustand
der europäischen Gesellschaften zwei Arten, wie
Menschen miteinander verbunden sind. Der
grundlegende Unterschied liegt jedoch in der Beurteilung der damaligen Strukturen. Bei Tönnies
wirkt die Einschätzung der neuen Strukturen negativ (zumindest können seine Ausführungen so
gelesen werden) und er bezeichnete die älteren
Bedingungen der Gemeinschaft als „quasi-organisch“, während die moderne Gesellschaft „quasimechanisch“ sei. Für Durkheim wiederum war es
genau umgekehrt, denn er sah die neueren Entwicklungen positiv. Für ihn waren die historisch älteren Formen mechanisch, während er die jüngeren als organisch bezeichnete.
Einführung in die Europäische Ethnologie
106
• Beide Autoren hatten den lang andauernden
Prozess sozialen Wandels auf zwei relativ statische Typen reduziert. Durkheim hatte aber wenigstens eine Entwicklung anzudeuten versucht,
in dem er die Verbindung zwischen den beiden
Typen darin sah, dass sie verschiedene Stufen
der Arbeitsteilung darstellten.
• Seit damals, so schreibt Norbert Elias, „blieb die
Verwendung des Begriffes Gemeinde bis zu einem gewissen Grad mit der Hoffnung und dem
Wunsch verbunden, noch einmal die geschlosseneren, wärmeren und harmonischeren Formen von Verbindungen zwischen Menschen
wiederzubeleben, die vage früheren Zeiten zugeschrieben werden“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
107
• Gemeinde wurde gleichgesetzt mit „gutem Leben“
und in irgendeiner Form von Gemeinde möchte jeder Mensch leben. Als Resultat dieser Einstellung
entstand eine Vermischung von empirischen Beschreibungen, was Gemeinde ist, und normativer
Festschreibung, was sie sein sollte; sie ist also ein
wissenschaftliches und ein moralisches Konzept.
• Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde vorgeschlagen, den Begriff Gemeinde durch den der Lokalität zu ersetzen und die wechselseitigen Beziehungen von sozialen Institutionen in spezifischen
Lokalitäten zu untersuchen. Die Problematik dieses Vorschlages liegt jedoch darin, dass Gemeindestudien damit immer an eine Lokalität gebunden
wären, was jenen nicht an die Lokalität gebundenen Faktoren von Gemeinde nicht gerecht wird.
Einführung in die Europäische Ethnologie
108
• Dieses hier skizzierte Dilemma, dass Gemeinde
im Sinne von Gemeinschaft etwas Positives sei,
zeichnet viele Gemeindestudien aus dem Umkreis der Europäischen Ethnologie aus.
• Dabei ist Gemeinschaft häufig als ein traditionelles Gesellschaftsideal verstanden und dort vorausgesetzt worden, „wo sie gar nicht vorhanden
war – ein Bezugsrahmen für die Annahme traditionsgeleiteter Einheiten, in denen soziales Gefälle, Desintegration und vor allem gesellschaftliche Binnenkonflikte kein Thema waren“ (Gyr).
• Dem gleichen Problem unterliegen jene Studien,
die den positiven Zuschreibungen die negativen
Charakterisierungen entgegenhalten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
109
• Martin Bulmer warf die Frage auf, ob die große Nähe innerhalb von Gemeinden zur machtvollen Kontrolle über alle Mitglieder führen kann.
• Um diese Positionen überwinden zu können, unterbreitete Hermann Bausinger den Vorschlag einer
Perspektivenverlagerung und sprach von der „Einheit des Orts“: „Während der Ausdruck ‚dörfliche
Einheit‘ unwillkürlich die Assoziation der Einigkeit
weckt und damit der Vorstellung des in allen Teilen
abgestimmten, geschlossenen Organismus nahekommt, steckt die Bezeichnung ‚Einheit des Orts‘
zunächst lediglich einen Raum ab, in dem sich das
Geschehen vollzieht. Dieses Geschehen umfaßt …
verschiedene Charaktere, sehr verschiedene Handlungen, er schließt Konflikte und Spannungen ein“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
110
• Conrad M. Arensberg hat die Unterscheidung
getroffen, Gemeinde entweder als Objekt oder
als Paradigma zu verstehen.
• Wird die Gemeinde selbst zum Forschungsobjekt, so Arensberg, dann zielen die Fragen „alle
auf die Natur der Gemeinde als Gegenstand eigener Art hin“.
• „Auf der anderen Seite steht die hiervon deutlich
unterschiedene Fragestellung, die die Gemeinde
als ein Untersuchungsfeld oder Paradigma betrachtet, innerhalb dessen etwas anderes als die
Gemeinde selbst erforscht werden soll“. Die Gemeinde soll dabei für ein Ganzes – die Gesellschaft oder die Kultur – kennzeichnend sein.
Einführung in die Europäische Ethnologie
111
• Viele klassische Gemeindestudien waren so konzipiert. Robert und Helen Lynds erfolgreiche Untersuchung „Middletown. A Study in American Culture“ aus dem Jahr 1929 beispielsweise zielte nicht
auf die Spezifik der untersuchten Stadt Muncie in
Indiana, sondern wollte typisches amerikanisches
Kleinstadtleben bzw. überhaupt amerikanisches
Alltagsleben präsentieren.
• Für ihre Auswahl der Gemeinde waren zwei Überlegungen entscheidend: „(1) sollte die Stadt für
zeitgenössisches amerikanisches Leben so repräsentativ wie möglich sein, und (2) sollte sie gleichzeitig kompakt und homogen genug sein, um eine
so umfassende Studie durchführbar zu machen“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
112
• Wollten die Lynds zunächst religiöse Vorstellungen und Praktiken untersuchen, so erkannten sie
bald, dass dieses Phänomen nicht isoliert zu betrachten ist und die vielfältigen Beziehungen zu
anderen sozialen Institutionen berücksichtigt werden müssen. Middletown diente über Jahrzehnte
als Vorbild für andere Gemeindestudien und rief
eine Reihe von ähnlichen Studien auf den Plan.
• Sollte mit Middletown die amerikanische Kultur
paradigmatisch erforscht werden, verfolgte Lloyd
Warner ein noch umfassenderes Ziel. Er wollte
verschiedene Gesellschaften auf der Welt miteinander vergleichen und anthropologische Methoden auf moderne Gesellschaften anwenden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
113
• Sein Ziel war eine Taxonomie aller Gesellschaften.
• Mit einem Team untersuchte er in den 1930er Jahren den Ort Newburyport in Massachussetts nach
allen Regeln der damaligen Anthropologie. Beeinflusst von Malinowski und Radcliff-Brown wählte
Warner einen struktur-funktionalistischen Ansatz
und verstand die Stadt als eine Art Organismus, in
dem jeder Teil bestimmte Funktionen innehat. In
seinem Programm stand Yankee City für die amerikanische Gesellschaft – sie war „ein mikroskopisches Ganzes, das die gesamte amerikanische
Community“ repräsentiert.
Einführung in die Europäische Ethnologie
114
• Diese Betrachtungsweise der Gemeinde als paradigmatisch für größere Zusammenhänge wie Regionen, Staaten oder nationale Kulturen findet sich
in vielen Gemeindestudien wieder, erfuhr aber
spätestens seit den 1960er Jahren eine heftige
Kritik.
• So sprach sich Norbert Elias gegen atomistische
Traditionen aus, die die ganze Gesellschaft in kleine Teile zerlegen und damit wiederum das Ganze
erklären wollen.
• Clifford Geertz meinte, diese Vorgehensweise
habe der Sache der Anthropologie besonders
geschadet:
Einführung in die Europäische Ethnologie
115
• Das „mikroskopische“ Modell („Jonesville-ist-dieUSA“), das die Welt in einem Sandkorn sieht, sei
ein offensichtlicher Trugschluss. „Die Vorstellung,
man könne das Wesen nationaler Gesellschaften,
Zivilisationen, großer Religionen oder ähnliches in
zusammengefasster und vereinfachter Form in so
genannten ‚typischen‘ Kleinstädten und Dörfern
antreffen, ist schierer Unsinn“.
• Diese Position sieht Gemeindeforschung als eine
Methode, wie es Bjarne Stoklund – ähnlich wie
Clifford Geertz – für die Europäische Ethnologie
ausgedrückt hat. Sein Anliegen ist, „das
Gemeindestudium als spezifisch ethnologische
Methode zu beleuchten.
Einführung in die Europäische Ethnologie
116
• Es geht also nicht um das Studium von kleinen
Gemeinden, sondern um das Studium in den
kleinen Gemeinden. Oder anders gesagt: Gemeinde als Mittel, nicht als Objekt“.
• Diese Ausrichtung grenzt sich ganz klar gegen
zwei Positionen ab. Einerseits wird das bereits
genannte mikroskopische Modell verworfen, nach
dem eine Gemeinde für eine gesamte Kultur oder
Gesellschaft steht. Zum anderen wird der Gemeinde als Forschungsgegenstand eigener Art die
Forschungsrelevanz abgesprochen.
• Allerdings ist diese zweite Position im Lichte neuerer theoretischer Ansätze nicht unproblematisch.
Einführung in die Europäische Ethnologie
117
• Europäische Ethnologen untersuchen in Gemeinden spezifische Probleme, die nichts mit der Natur
einer Gemeinde zu tun haben. Darüber hinaus gibt
es aber kulturelle Spezifika von einzelnen Gemeinden, die diese selbst als interessant erscheinen
lassen.Schließlich sollte nicht vergessen werden,
dass das Konstrukt Gemeinde Strukturelemente
aufweist, die den Fokus einer Richtung von Gemeindeforschung ausmachen.
• Gemeindeforschung lediglich als eine Methode innerhalb der Ethnologie oder der Sozialwissenschaften zu begreifen, wirft ebenfalls Probleme
auf.
Einführung in die Europäische Ethnologie
118
• Für welchen Gegenstandsbereich liefert uns diese
Methode Erkenntnisse? Kann überhaupt von einer
Methode gesprochen werden, wo innerhalb von
Gemeindestudien ein ganzes Set von Erhebungstechniken zum Einsatz kommt.
• Arensberg meinte, „der Vorteil in der Anwendung
der Gemeindeforschung ist die damit verbundene
intensive Versenkung des Forschers in die innere
komplexe Wirklichkeit der Gemeinde“. Man müsse in die Gemeinde fahren und längere Zeit dort
verweilen. Denn nur durch den Prozess der Feldforschung und der empirischen Beobachtung können Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenen hergestellt werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
119
• Für die Soziologie – und hier wieder für den lange
Zeit quantitativ operierenden Mainstream – meinte
Hartmut Häußermann, die Gemeindestudien haben durch den Ausbau sozialwissenschaftlicher Infrastruktur und die Entwicklung leistungsfähiger
Datenverarbeitungstechniken
an
Bedeutung
verloren.
• Anders liegt der Fall innerhalb der ethnologischen
Disziplinen, die sich meist keinem quantitativen,
sondern vielmehr einem qualitativen Paradigma
verpflichtet fühlen, wo Fragen der Repräsentativität und der messtechnischen Validität keine Rolle
spielen, sondern Theorie und Empirie in einem
fortlaufenden Prozess weiterentwickelt werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
120
• Unabhängig vom methodischen Paradigma bleibt
das prinzipielle Problem, für welche Bereiche die
Gemeindeforschung Erkenntnisse liefern kann.
• In der Gemeindeforschung muss zudem das Verhältnis von innen und außen berücksichtigt werden. Innen meint dabei die Gemeinde selbst, wie
immer diese gestaltet sein mag. Außen meint alles, was nicht innerhalb der realen oder symbolischen Abgrenzungen einer Gemeinde selbst liegt.
Dazu muss gesagt werden, dass es auch innerhalb von Gemeinden Grenzen geben kann und
gibt.
Einführung in die Europäische Ethnologie
121
• Die Debatte über die externen Einflüsse auf lokale
Gemeinden ist nicht neu, sondern gehört seit längerer Zeit zu den entscheidenden Fragen der Gemeindeforschung. Daher sind auch viele Kritikpunkte, die heute am Konzept der Gemeindeforschung geübt werden, völlig überzogen, weil sie
von einem simplifizierenden Idealtypus ausgehen,
den es kaum einmal gegeben hat. Die Behauptung, Gemeindestudien würden beispielsweise
Dörfer oder andere Einheiten als isolierte Entitäten
betrachten, ist eine dieser Kritikmythen, die kontinuierlich behauptet, ohne auf ihre Stichhaltigkeit
überprüft zu werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
122
• Bereits 1960 hatte Hermann Bausinger dagegen argumentiert, Dörfer als isolierte Gemeinden zu betrachten, die keine externen Einflüsse gekannt hätten. Er verweist auf die hohe Mobilität, die es in Dörfern immer schon gegeben hatte. Neben Handwerksburschen hätten sich auch die Knechte und
Mägde von Ort zu Ort bewegt, auch die bäuerlichen
Güter wechselten oft ihre Besitzer. Nach Kriegen
und Seuchen setzte starker Zuzug von außen ein.
• Politische, religiöse und ökonomische Beziehungen
reichen über eine lokale Ebene hinaus, meinte Jeremy Boissevain: „Sie sind beeinflußt von Beziehungen und Prozessen, die jenseits der Gemeinde auf
regionaler, nationaler oder sogar supranationaler
Ebene liegen“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
123
• Ebenso hatte John Cole auf dem Kongress der
Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1977
betont, „dass die Gemeinden, die wir studieren,
der Schauplatz sind, auf dem viele verschiedene
Einflüsse zusammenkommen“.
• Bei derselben Gelegenheit meinte Bjarne Stoklund, es müsse berücksichtigt werden, dass viele
entscheidende Faktoren, die die Kultur determinieren, außerhalb der lokalen Gemeinde zu finden
sind. Ein komparatives Studium von Gemeinden
könne daher nicht ohne Rücksicht auf größere
Zusammenhänge durchgeführt werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
124
• In einem Überblick über schweizerische Ortsmonographien führt Ueli Gyr zwei interessante Studien an. Die savoyische Hochgebirgsgemeinde
Bessans etwa sei eine mobile Ortsgesellschaft,
weil Teile der Bewohner traditionellerweise temporär in Paris als Taxichauffeure arbeiten. Und für
den Ort Vernamiège wird nachgewiesen, „wie das
relative Gleichgewicht einer ehemals ökonomisch
geschlossenen Einheit durch exogene Einflüsse
aufgelöst ... und traditionelle Existenzweisen zugunsten urbaner Ansprüche aufgegeben wurden“.
• Innerhalb der Europäischen Ethnologie war man
sich also schon länger im klaren darüber, dass der
Mikrokosmos Gemeinde für sich nicht existiert.
Einführung in die Europäische Ethnologie
125
• So meinte Orvar Löfgren: „Im Mikrokosmos der
Gemeinde bekommt man das Gefühl, Überblick zu
haben und eine Ganzheit ergreifen zu können. Allmählich aber entdeckt man, dass diese Ganzheit
nur scheinbar ist, und dass andere größere Zusammenhänge immer wieder in die lokalen Lebensformen hineingreifen. Die Grenzen der Gemeinde fangen an, sich aufzulösen.“
• Ein anderes Problem liegt in der historischen
Dimension, die bei Gemeindestudien häufig übersehen wird.
Einführung in die Europäische Ethnologie
126
• Der britische Anthropologe A. Macfarlane meinte,
die Verwendung von anthropologischen Methoden
in der Gemeindeforschung habe zu einer Vernachlässigung der Geschichte geführt. Dadurch würde
ein falsches Bild der sozialen Beziehungen in kleinen Gemeinden gezeichnet, wobei Integration und
soziale Kohäsion dargestellt und Konflikte, Wandel
und Instabilität ausgegrenzt würden.
• Vor allem jene vom Funktionalismus beeinflussten
Gemeindestudien konnten zwar die Strukturen innerhalb von Gemeinden zu einem gewissen Erhebungszeitpunkt herausarbeiten, die Prozesshaftigkeit von Kultur oder überhaupt Aspekte des kulturellen Wandels wurden so jedoch nicht erhoben.
Einführung in die Europäische Ethnologie
127
• Das methodische Problem liegt nach Bjarne Stoklund darin, „synchrone Strukturanalyse mit diachroner Prozeßanalyse zu vereinigen“.
• Dies ist methodisch kein leichtes Unterfangen, da
es eine Verknüpfung von anthropologischen mit
historischen Methoden verlangt.
• Selbst wenn es aber gelingt, mit synchronen Querschnitten, die zu verschiedenen Zeitpunkten in einer Gemeinde durchgeführt wurden, genauere Informationen über verschiedene historische Zeitpunkte zu erhalten, gewährleistet dies noch keinen
genauen Einblick über Verläufe und Ursachen von
Wandelsprozessen, für die erst eine geeignete
diachrone Perspektive geschaffen werden muss.
Einführung in die Europäische Ethnologie
128
• Dennoch muss ein genauerer Blick auf Prozesse
des Wandels versucht werden, um den häufig
leichtfertig hingeworfenen Behauptungen, wie es
gestern gewesen sei und morgen sein werde, eine
tief schürfende Analyse von Vergangenheit und
Gegenwart in ihrer historischen Bedingtheit entgegenzuhalten.
• In den letzten 15 Jahren gab es viele Stimmen, die
aufgrund der Globalisierung dafür plädieren, das
Konzept der Gemeinde neu zu denken oder überhaupt zu verwerfen.
• Norbert Elias hat einen nützlichen Vorschlag gemacht, wodurch sich lokal gebundene Gemeinden
auszeichnen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
129
• Gemeinde ist für ihn eine Gruppe von Haushalten,
die am selben Ort angesiedelt und durch funktionale Interdependenzen miteinander verknüpft sind,
die stärker sind als jene Interdependenzen, die sie
mit anderen Menschen im weiteren sozialen Umfeld verbinden. Dabei hatte er durchaus im Blick,
dass diese Interdependenzen Wandlungsprozessen unterliegen, weil die Modernisierungsprozesse
die reziproken Abhängigkeiten von Menschen
verändert haben.
• Diese Perspektive ist hilfreich, weil sie nicht von
vornherein die Annahme verlangt, unter den Bedingungen der Globalisierung würde die Lokalität
oder die Gemeinde keine Rolle mehr spielen.
Einführung in die Europäische Ethnologie
130
• Dabei geht es keineswegs darum, Phänomene der
Enträumlichung zu leugnen, aber mit Arjun Appadurai wäre zu fragen: „Was bedeutet Örtlichkeit als
gelebte Erfahrung innerhalb einer globalisierten,
enträumlichten Welt?“
• Für den Geograph Andrew Kirby ist der Ort in den
sozialen Beziehungen nach wie vor von zentraler
Bedeutung. „Der Ort ist die Arena, in der Ressourcen genutzt werden (Wohnung, Bildung und andere öffentliche Leistungen), und folglich sind die politischen Kämpfe um den Zugriff auf diese Ressourcen (zwischen Rassen, Klassen oder Homound Heterosexuellen) Ausdruck der Vitalität lokaler
sozialer Beziehungen“.
Einführung in die Europäische Ethnologie
131
• Roland Robertson versucht der Problematik mit
dem Begriff Glokalisierung beizukommen, der die
Anpassung „einer globalen Perspektive an lokale
Umstände“ meint. Dabei habe die Globalisierung
„die Wiederherstellung, in bestimmter Hinsicht
sogar die Produktion von ‚Heimat‘, ‚Gemeinschaft‘
und ‚Lokalität‘ mit sich gebracht“. Diese Prozesse
würden mit dem Begriff der Glokalisierung am
besten gefasst, weil damit sowohl der Idee einer
Homogenisierung durch Globalisierung als auch
der Idee, Lokalität als eine Form der Opposition
oder des Widerstandes gegen das hegemoniale
Globale zu verstehen, widersprochen wird.
Einführung in die Europäische Ethnologie
132
• Auf andere Weise betont Ulf Hannerz, dessen eigene Forschungen sich seit vielen Jahren mit
transnationalen Phänomenen und mit dem Verhältnis lokaler Kulturen zu globalen Veränderungen beschäftigen, die bleibende Bedeutung des
Lokalen. Im Lokalen finden die Face-to-face-Situationen und Langzeitbeziehungen zwischen Menschen statt, wobei diese Beziehungen einen hohen emotionalen Gehalt haben können. Dort können auch geteilte Bedeutungen in einem längeren
Prozess ausgehandelt werden. Im Lokalen gebe
es auch gegenseitige Kontrolle, Abweichungen
können informell aber wirkungsvoll sanktioniert
werden.
Einführung in die Europäische Ethnologie
133
• Lokale Kultur, wie sie in einem Teil der Community
Studies untersucht wird, kann so verstanden werden, dass wir einen konkreten Ort als eine Arena
annehmen, wo sich die Bedeutungswelten verschiedener Menschen kreuzen und neue Bedeutungen ausgehandelt werden.
• Wo diese Bedeutungswelten aufeinander stoßen,
so schreibt Ulf Hannerz, hat auch das Globale,
das anderswo lokal gewesen ist, eine Chance,
heimisch zu werden.
• Dies ist die besondere Bedeutung lokaler Kultur –
sie ist wichtig, aber nicht autonom. Sie ist zwar in
gewissem Sinn an eine Lokalität geknüpft, aber sie
reagiert auch im Lokalen auf überlokale Kontexte.
Einführung in die Europäische Ethnologie
•
134
Das Entscheidende jedoch ist, dies hat seine
Auswirkungen im Lokalen, für Menschen, die an
einem konkreten Ort leben, auch wenn diese
Menschen über vielfältige Beziehungen verfügen,
die über diesen Ort hinausweisen.
• Gemeindestudien können also auch unter den
Bedingungen, die in spätmodernen komplexen
Gesellschaften herrschen, sinnvoll sein, wenn folgende Aspekte berücksichtigt werden:
1. Gemeinde darf nicht als ein Mikrokosmos verstanden werden, der isoliert für sich selbst funktioniert. Gemeindeuntersuchungen müssen so
konzipiert werden, dass an konkreten Orten
Aspekte erforscht werden, die über die Lokalität
Einführung in die Europäische Ethnologie
135
hinausweisen. Hier treffen globale kulturelle Flüsse auf spezifische Gegebenheiten und erfahren
so jene Differenzierungen, die die Dynamik kultureller Prozesse ausmachen. Das bedeutet keineswegs, dass es nicht auch andere Untersuchungsformen und -bereiche gibt, mit und an denen kulturanthropolgische Themen sinnvoll erforscht werden können. Selbstverständlich kann
die Komplexität des Zusammenspiels kultureller
Flüsse, verschiedener Bedeutungsebenen und
konkreter Praktiken heute nicht allein in einzelnen
lokal gebundenen Gemeindestudien erforscht
werden. Sollen transnationale Gemeinschaften in
den Blick genommen werden, dann sind Formen
Einführung in die Europäische Ethnologie
136
„mobiler Feldforschung“ an unterschiedlichen Orten unerlässlich. Hier interessiert allerdings, wie
sich Veränderungen, die durch globale Prozesse
angestoßen werden, in einer konkreten Gemeinde niederschlagen.
2. Es gibt so etwas wie ein Ethos von Gemeinden.
Diese Eigenart, die Gemeinden oder auch Städte
auszeichnen können und die sie unverwechselbar machen, hat Andrew Kirby zu folgender Feststellung veranlasst: „Die Kommunalpolitik von
Houston unterscheidet sich von der von San
Francisco, obwohl beide Städte komplexe urbane
Wirtschaftsräume sind, in denen dieselben Ziele
der Wohlstandswahrung und politischer Stabilität
Einführung in die Europäische Ethnologie
137
verfolgt werden. Darüber hinaus gibt es unzählige
weitere Unterschiede in den religiösen Überzeugungen, in den Einstellungen gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung, in der Wohnsituation
und Architektur sowie in den kulturellen Praktiken, kurz gesagt: in all dem, was Clifford Geertz
(1983) ‚lokales Wissen‘ genannt hat“. Eine Gemeindestudie muss also nicht nur jene Aspekte
berücksichtigen, die über eine konkrete Gemeinde hinausweisen, sondern sie auch in ihrer Eigenart analysieren und darstellen. Ein Kennzeichen von Gemeinden ist auch eine Form von Zugehörigkeitsgefühl welches Menschen aus verschiedenen Gründen zu einer Lokalität entwickeln
Einführung in die Europäische Ethnologie
138
können. Diese Einzigartigkeit von kleineren soziokulturellen „Gebilden“ in geeigneter Form zu repräsentieren, gehört nicht zu den schlechtesten
Traditionen anthropologischer Forschung, obwohl
dazu selbstredend auch der Blick über die Grenzen der Gemeinde zählt.
3. Eine Gemeindeforschung neuer Prägung muss
vermeiden, ein holistisches Bild einer ganzen Gemeinde zu vermitteln und eine zeitlose Perspektive zu entwerfen. Es wurde bereits darauf verwiesen, wie problematisch die Unterscheidung
von Gemeinde als Objekt oder Methode ist. Es
gibt sinnvolle Gründe, beide Perspektiven im
Auge zu behalten und zwar durchaus gleichzeitig.
Einführung in die Europäische Ethnologie
139
Es gilt vor allem der Prozesshaftigkeit der kulturellen Phänomene gerecht zu werden, indem
man nicht nur synchrone Ausschnitte produziert,
die dann im ethnographischen Präsens präsentiert werden und ein zeitloses Bild einer einzigen
Realität suggerieren. Es bedarf der Ergänzung
durch eine diachrone Betrachtungsweise, wofür
historische Methoden und Materialien herangezogen werden müssen, damit sich die Perspektiven
einer Gegenwarts- und einer historischen Ethnographie verbinden können.
4. Den symbolischen wie realen Grenzen, die eine
Gemeinde von einer Außenwelt oder von verschiedenen Außenwelten trennen, muss beson-
Einführung in die Europäische Ethnologie
•
140
dere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Diese
Grenzen dürfen jedoch nicht als etwas Undurchlässiges verstanden werden, sondern als ein
Raum oder ein Feld, in dem sich die Dinge vermischen und Neues entsteht. Gleichzeit muss auf
die internen Grenzziehungen geachtet werden,
denn Gemeinden sind nie harmonieträchtige
Gebilde ohne Stratifizierungsmerkmale, sondern
sind unter anderem durch Hierarchien, Machtverhältnisse und verschiedene Gruppierungen geprägt.
Heute wird oft behauptet, lokale Identität, Ansässigkeit und face-to-face-Kommunikation spielten eine immer geringere Rolle und Gemeindefor-
Einführung in die Europäische Ethnologie
141
schungen suggerierten oder konstruierten diesbezüglich etwas, was gar nicht mehr existiert. Dabei
handelt es sich um einen voreiligen Abgesang an
historisch entwickelte Lebenswelten. Die Reduktion von Komplexität führt nicht nur außerhalb
sondern auch innerhalb der Akademie zu Vorausurteilen. Sicherlich, wenn die Europäische Ethnologie dahin tendiert, aus einer Schreibtischperspektive die kulturellen und sozialen Veränderungen in den europäischen Gesellschaften zu untersuchen, dann mag der Eindruck entstehen, als
lösten sich bisherige Relevanzsysteme vollständig auf und die Menschen befänden sich in einem
Zustand ständiger Mobilität, und in einem Reich
Einführung in die Europäische Ethnologie
142
der Freiheit freiwillig gewählter Verortungen und
Identitätskonstruktionen. Es soll nun nicht behauptet werden, Phänomene der Individualisierung, der Mobilität und der Enttraditionalisierung
spielten keine Rolle, aber die Welt war schon immer komplexer, als die Produzenten einfacher
Wahrheiten und „logischer“ Entwicklungsmuster
uns glauben machen wollten. So können sich vermeintliche Ungleichzeitigen als besonders überlebensfähig erweisen. Wenn wir erst einmal die
eigene Lebenswelt und die Zitadellen der Metropolen verlassen, so finden wir im Lokalen eine
Vielzahl von Vergemeinschaftungs- und Identitätsbildungsprozessen, die einer genaueren Er-
Einführung in die Europäische Ethnologie
143
forschung durch die Europäische Ethnologie harren, die damit zu einem komplexeren und realitätsgerechteren Bild sozialer Wirklichkeit beitragen könnte.
Herunterladen