Einführung in die Europäische Ethnologie Teil 4 WS 2010/11 Prof. Dr. Johannes Moser Folien unter: http://www.volkskunde.unimuenchen.de/download/index.html Einführung in die Europäische Ethnologie 2 Alltag • Kultur und Alltag sind zentrale Perspektiven, mit denen sich die Beziehungen zwischen Individuen und Gesellschaft sinnvoll erfassen lassen. • Alltag und Alltagskultur sind in der Volkskunde selbstverständliche – sozusagen alltägliche – Begriffe, so dass sie oft gar nicht mehr genauer bestimmt werden. • Auch für andere Disziplinen wie Geschichte und Soziologie ist der Alltagsbegriff bedeutend. Einführung in die Europäische Ethnologie 3 • In der Volkskunde gibt es schon früh Hinweise auf die Beschäftigung mit dem Alltag, so kann man bei Wilhelm Heinrich Riehl fündig werden, der über „alltägliches Daseyn“ schrieb. • Populär wurde der Begriff seit den 1970er Jahren, aber es gibt wie beim Kulturbegriff eine Fülle von Definitionen. • Norbert Elias hat 1978 in einem kurzen Überblick aufgezeigt, welche verschiedenen, sich teilweise überschneidenden Bedeutungen dem Begriff innewohnen. Und er hat deshalb auch vor der inflationären Verwendung des Begriffs gewarnt. Einführung in die Europäische Ethnologie 4 • Alltag unterscheidet sich nach Elias Definition vom Festtag, es umfasst den Familienalltag und die private Sphäre ebenso wie den öffentlichen Erwerbsarbeitsalltag. • Unter Alltag wird auch das Repetitive verstanden, die sich wiederholenden, routinisierten Handlungen, die dem Besonderen und Einmaligen entgegenstehen. • Oft wird unter Alltag auch das Leben der „breiten Masse“ verstanden im Gegensatz etwa zum Leben der Prominenz. Einführung in die Europäische Ethnologie 5 • Wir müssen uns zudem vergegenwärtigen, dass die Betrachtung des Alltags auch eine Frage der Perspektive ist: Für den einzelnen Menschen sind Geburt, Krankheit, Hochzeit oder Tod ganz besondere Ereignisse im Leben, aus der Wahrnehmung der Gesamtgesellschaft und aus einer Makroperspektive stellen sie nichts anderes dar als den Alltag von Menschen. • Schließlich ist der Alltag durch eine spezifische Wahrnehmungsform gekennzeichnet: durch ein spontanes und unreflektiertes Erleben und durch besondere erfahrungsbezogene und ritualisierte Interpretations- und Verhaltensmuster. Einführung in die Europäische Ethnologie 6 • Die Traditionen der modernen Alltagsforschung reichen zurück bis in die 1930er Jahre, als der Philosoph Edmund Husserl seine Theorie der Lebenswelt entwarf. Diese Lebenswelt nannte er auch Alltagswelt oder beschränkte Umwelt. • Diese Theorie der Lebenswelt beschreibt die konkrete anschauliche Welt, in die der Mensch hineingeboren wird. In dieser Welt lebt und kommuniziert man mit anderen Menschen. Und diese Welt ist für das Individuum wie für alle anderen darin lebenden Menschen die unhinterfragbare Wirklichkeit. • Alltag ist demnach das selbstverständlich Hingenommene, in dem Menschen sich und andere fühlend, denkend und handelnd erleben. Einführung in die Europäische Ethnologie 7 • Aus dieser alltäglichen „Seinsgestaltung“, wie Husserl das genannt hat, ziehen Menschen auch ihre Seinsgewissheit. Die gemeinsame Praxis verleiht nach Husserl dem Alltag eine intersubjektive „Geltungswirklichkeit“. • Für die moderne Alltagstheorie sind dann die Ausführungen von Alfred Schütz aus den 1950er Jahren zentral geworden, insbesondere seine Aussagen in dem mit seinem Schüler Thomas Luckmann verfassten Buch „Strukturen der Lebenswelt“. • Wesentliche Elemente sind auch in dem bis heute einflussreichen Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter Berger und Thomas Luckmann enthalten. Einführung in die Europäische Ethnologie 8 • Schütz meinte, die alltägliche Lebenswelt sei jener Wirklichkeitsbereich, an dem der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. In die alltägliche Lebenswelt kann der Mensch eingreifen und er kann sie verändern, indem er in ihr wirkt. Gleichzeitig wird er in diesem Bereich in seinen freien Handlungsmöglichkeiten durch andere eingeschränkt. • Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich der Mensch mit seinen Mitmenschen verständigen und mit ihnen zusammenwirken. Nur in ihr kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. Einführung in die Europäische Ethnologie 9 • Unter alltäglicher Lebenswelt soll demnach jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit schlicht gegeben bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch erscheint. • Schütz zählt auch die „fraglosen“ Gegebenheiten der alltäglichen Lebenswelt auf, die als Totalität für das handelnde Subjekt vorhanden sind: a die körperliche Existenz von anderen Menschen b dass diese Körper mit Bewusstsein ausgestattet sind, das dem meinen prinzipiell ähnlich ist; Einführung in die Europäische Ethnologie 10 c dass die Außenweltdinge in meiner Umwelt und in der meiner Mitmenschen für uns die gleichen sind und grundsätzlich die gleiche Bedeutung haben; d dass ich mit meinen Mitmenschen in Wechselbeziehung und Wechselwirkung treten kann; e dass ich mich – dies folgt aus den vorangegangenen Annahmen – mit ihnen verständigen kann; f dass eine gegliederte Sozial- und Kulturwelt als Bezugsraum für mich und meine Mitmenschen historisch vorgegeben ist, und zwar in einer ebenso fraglosen Weise wie die ‚Naturwelt’; g dass also die Situation, in der ich mich jeweils befinde, nur zu einem geringen Teil eine rein von mir geschaffene ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 11 • Die Lebenswelt ist also eine intersubjektive Welt vertrauter Wirklichkeit, in der die einzelnen Menschen als Handelnde gefordert sind. • Für diese Lebenspraxis steht den Menschen nach Schütz der kulturell ererbte und enkulturierte Wissensvorrat zur Verfügung, aber auch die Eigenerfahrung situationaler Problemlösungen. • Es dürfte klar geworden sein, dass eine Bedingung des Zusammenlebens und der Interaktion in diesem Lebens- und Alltagsweltkonzept die Vorstellung der Wechselseitigkeit der Perspektiven ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 12 • Das meint, dass auch der jeweils Andere in der Lage ist, meine Perspektiven zu verstehen; ja mehr noch wird vorausgesetzt, dass die Bedeutungssysteme der miteinander interagierenden Menschen übereinstimmen. Gemeinsame Wissensbestände und Interpretationsverfahren gehören dazu. • Um nun die Komplexität des Alltags zu reduzieren und Handlungen zu vereinfachen, bedient sich das praktische Alltagsdenken bestimmter Routinen – z.B. Festlegungen, was normal ist; oder Typisierungen von Situationen und Personen. Einführung in die Europäische Ethnologie 13 • Alles, was in diesen Wahrnehmungen stört und fremd ist, wird ausgeblendet oder gar ausgegrenzt, weil es nicht in das vorgefaßte Schema passt. • Diese Strategien und Klassifikationsmuster haben in der Literatur durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen und Wertungen erfahren. Den einen erscheint dieser Alltag häufig borniert und blind; die anderen überbetonen den so genannten „Eigensinn“, wie Carola Lipp kritisch anmerkte. • Auf jeden Fall meint Alltag in dieser hier vorgestellten wissenssoziologischen Theorie einen besonderen Typus der Erfahrung, des Handelns und des Wissens. Einführung in die Europäische Ethnologie 14 • Eine systematische Weiterentwicklung dieses Konzepts findet sich in der Schule des Symbolischen Interaktionismus und in der Ethnomethodologie. • Das sind – streng genommen soziologische Schulen –, die auf vielfältige Weise auch die Kulturwissenschaften beeinflusst haben. • Der symbolische Interaktionismus ist verbunden mit George Herbert Mead und Herbert Bulmer, im weitesten Sinn auch mit Erving Goffman. • Der symbolische Interaktionismus geht davon aus, dass die gesamte Interaktion zwischen Menschen auf dem Austausch von Symbolen besteht. Einführung in die Europäische Ethnologie 15 • Wenn wir mit anderen interagieren, so suchen wir ständig nach Anhaltspunkten, die uns sagen, welche Art von Verhalten im betreffenden Kontext richtig ist und wie das zu interpretieren sei, was der andere meint oder beabsichtigt. • Der symbolische Interaktionismus lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Details der interpersonellen Interaktion und darauf, wie diese Details verwendet werden, um dem, was gesagt und getan wird, Sinn zu verleihen. • Der symbolische Interaktionisus konzentriert sich vor allem auf face-to-face-Interaktionen in den Kontexten des Alltagslebens. Einführung in die Europäische Ethnologie 16 • Erving Goffman ist mit seinen Arbeiten diesbezüglich besonders prägend geworden. In der Goffmanschen Ausprägung bietet der symbolische Interaktionismus vielerlei Einblicke in die Natur unserer Handlungen im Laufe unseres täglichen sozialen Lebens. • Goffman hat etwa für die Analyse der sozialen Interaktion auf die Begriffe des Theaters zurückgegriffen. So zum Beispiel in seinem Buch „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag.“ Schon der Begriff der sozialen Rolle, der in den Sozialwissenschaften weit verbreitet ist, stammt aus dem Theatermilieu. Einführung in die Europäische Ethnologie 17 • Rollen sind sozial definierte Erwartungen, die eine Person, die einen bestimmten Status oder soziale Position innehat, erfüllt oder zu erfüllen hat. • Goffman verwendet ein dramaturgisches Modell, um das soziale Leben zu betrachten. So als handle es sich dabei um ein Schauspiel auf einer Bühne – oder auf vielen Bühnen, weil unser Handeln ja von verschiedenen Rollen geprägt ist, die wir zu verschiedenen Zeitpunkten einnehmen. • Menschen sind sehr sensibel gegenüber dem Bild, das andere von ihnen haben. Daher versuchen sie, diesen Eindruck zu manipulieren, damit andere Menschen in der gewünschten Form reagieren. Einführung in die Europäische Ethnologie 18 • Obwohl diese Manipulation in berechnender Weise geschehen kann, gehört es üblicherweise zu den Dingen, die wir tun, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken. • Eine besondere Unterscheidung trifft Goffman mit den Begriffen „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“. • Die „Vorderbühne“ ist jener Bereich der sozialen Kontakte und Anlässe, bei denen formale und stilisierte Rollen gespielt werden. • Die Hinterbühne ist jener weniger stark formalisierte Bereich, in dem das Tun auf der Vorderbühne vorbereitet oder begleitet wird. Einführung in die Europäische Ethnologie 19 • Ein besonders interessantes Buch von Erving Goffman heißt „Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“. Hier zeigt Goffman, dass „normale“ Menschen Personen mit einem Stigma oft äußerst wirksam, wenn auch oft gedankenlos, diskriminieren. • Stigmatisierte Personen wissen das und unternehmen dann Versuche, das zu korrigieren. Entweder indem sie die objektive Basis ihres „Fehlers“ beheben, indem sie diesen „Fehler“ zu verstecken suchen oder etwa indem sie zu beweisen suchen, dass sie in Tätigkeitsbereichen bestehen können, von denen andere annehmen, sie könnten das wegen gewisser Einschränkungen nicht erreichen. Einführung in die Europäische Ethnologie 20 • Wenn jemand mit einem Stigma versuchen will, andere zu täuschen, bedarf es eines immensen Aufwandes. Was für so genannte „Normale“ Routineangelegenheiten sind, kann für einen Diskreditierbaren, also jemanden der noch nicht durch sein Stigma diskrediert ist, zu einem richtigen Organisationsproblem werden. • Das Individuum mit einem geheimen Fehler muss sich demnach der sozialen Situation in der Art eines ständigen Abtastens von Möglichkeiten bewusst sein. Die für andere unkomplizierte Welt ist es für ihn keineswegs. Was für andere trivial ist, wird für den Diskreditierbaren zum Problem. Einführung in die Europäische Ethnologie 21 • Goffman greift immer auf eindrückliche Beispiele zurück. Sie führen ganz deutlich vor Augen, was in den theoretischen Ausführungen zur Alltags- und Lebenswelt theoretisch bereits ausgesagt wurde. • In der Alltagswelt vereinfachen wir, greifen auf Normalitätsvorstellungen und Deutungsroutinen zurück, die uns helfen, eine komplexe Umwelt in den Griff zu bekommen, in denen aber auch ein gehöriges Potential an Diskrminierungsmustern steckt. • Die Beispiele aus Goffmans Buch verraten gerade dadurch, dass sie stigmatisierte Menschen und ihre Umgangsweisen damit in den Blick nehmen, wie Kommunikation funktioniert. Einführung in die Europäische Ethnologie 22 • Hier setzt auch die Ethnomethodologie an. Sie ist die Untersuchung der Ethnomethoden, das sind die von Laien benutzten Methoden. • Diese Methoden werden angewandt, um den Sinn dessen, was andere Menschen tun, und vor allem dessen, was sie sagen, zu entschlüsseln. • Wir alle verwenden in der Interaktion mit anderen Menschen Methoden, um dem Handeln und Reden der anderen einen Sinn abzugewinnen, wobei wir diesen Methoden üblicherweise keine gesonderte Aufmerksamkeit schenken. • Oft können wir einer Situation nur Sinn abgewinnen, weil wir den sozialen Kontext kennen, der in den Worten selbst nicht in Erscheinung tritt. Einführung in die Europäische Ethnologie 23 • Selbst die unbedeutendsten Formen des alltäglichen Lebens setzen ein kompliziertes gemeinsames Wissen voraus. • Die in der alltäglichen Kommunikation verwendeten Wörter haben keine präzisen Bedeutungen und was wir sagen möchten bzw. das Verständnis des Gesagten wird durch die unausgesprochenen Annahmen festgelegt, die den verschiedenen Bedeutungen zugrunde liegen. • Wir haben also bei unserer tagtäglichen Kommunikation „Hintergrunderwartungen“ und für diese Hintergrunderwartungen etwa interessiert sich die Ethnomethodologie. Einführung in die Europäische Ethnologie 24 • Der Soziologe Harold Garfinkel hat durch Krisenexperimente versucht, Kommunikationsstrukturen und Hintergrunderwartungen offen zu legen. Das funktioniert etwa in der Form, dass man den Sinn der beiläufigsten Bemerkungen und allgemeiner Kommentare nicht einfach hinnimmt, sondern ichnen nachgeht, um ihren Sinn zu präzisieren. • Die Experimente sollen dazu beitragen, die grundlegenden Modi unseres Zusammenlebens zu verstehen. • Die Stabilität und Sinnhaftigkeit unseres täglichen sozialen Lebens hängt vom gemeinsamen Besitz unausgesprochener „kultureller“ Annahmen darüber ab, was warum gesagt wird. Einführung in die Europäische Ethnologie 25 • Wären wir nicht in der Lage, diese Annahmen vorauszusetzen, wäre sinnvolle Kommunikation unmöglich. • Jeder Frage oder jedem Beitrag zu einer Konversation müsste ein massives Suchverfahren folgen, wie es in Garfinkels Experimenten gezeigt wurde, die Interaktion würde schlicht zusammenbrechen. • Was also auf den ersten Blick als unwichtige Konventionen der Rede erscheint, stellt sich als fundamental für das Gewebe des sozialen Lebens heraus, weshalb der Verstoß gegen Konventionen eine so ernsthafte Sache ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 26 • Ein anderer Ansatz der Alltagstheorie stellt eine eher gesellschaftspolitische Analyse der spätkapitalistischen Massenkonsumgesellschaften dar und kritisiert die entfremdeten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Beispielhaft dafür steht Henri Lefèbvres „Kritik des Alltagslebens“, die viele Disziplinen beeinflusst hat. • Die Entdeckung des Alltags kann aus dieser Perspektive als das kulturelle Konstrukt einer „Generation der Entfremdung“ verstanden werden, meinte etwa die andere marxistische Denkerin des Alltags – Agnes Heller. Einführung in die Europäische Ethnologie 27 • So argumentierte Utz Jeggle in den „Grundzügen der Volkskunde“ 1978, es sei vom Alltag gesprochen worden, als er in die Krise gekommen sei, als das Gewohnte problematisch geworden sei. • Der Begriff Alltag war verbunden mit der Kritik an einem segmentierten, durch kapitalistische Produktionsverhältnisse geprägten Alltag, der nicht entlang den Bedürfnissen der Menschen organisiert war, sondern dem Diktat spätkapitalistischer Kulturindustrie folgte. • Das Thema Alltag war also politisch aufgeladen und hing in der Volkskunde – wie auch in anderen Fächern – mit der Diskussion um fachpolitische Standortbestimmungen zusammen. Einführung in die Europäische Ethnologie 28 • In der Volkskunde geht die Rezeption des Alltagsbegriffs einher mit der Neubestimmung der Volkskunde gegen Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre. • Der Begriff Alltag tauchte programmatisch erstmals bei den Falkensteiner Diskussionen auf, bei denen 1970 über Selbstverständnis, Erkenntnisziel und Aufgaben der Volkskunde gerungen wurde. • Gerhard Heilfurth argumentierte bereits vor Falkenstein mit dem Begriff Lebenswelt und Ina-Maria Greverus forderte 1971 eine „Wende zur Lebenswelt“, weil sie die Volkskunde geradezu als prädestiniert ansah, die „alltägliche Lebenswelt des europäischen Menschen“ zu erforschen. Einführung in die Europäische Ethnologie 29 • Greverus legte bei der Neuausrichtung des Frankfurter Instituts und dessen Umbenennung in „Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie“ ein klares Bekenntnis zur angelsächsischen Kulturund Sozialanthropologie ab, deren theoretische Basis ihr geeignet erschienen, die Kultur und Alltagswelt in europäischen Gesellschaften zu untersuchen. • In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre setzte sich Greverus mit der kulturkritischen Position der neueren Alltagsdiskussion auseinander und geht – in der Tradition der Kulturkritik – von einer Trennung von Kultur und Alltag aus. Einführung in die Europäische Ethnologie 30 • Der Alltagsbegriff verweist für sie auf eine „deformierte Umwelt“. Dem hält sie ihren Kulturbegriff entgegen, in dessen Zentrum die Vorstellung einer aktiv vom Menschen gestalteten Lebenswelt steht. • Der Mensch war für sie „Schöpfer und Geschöpf“ der Kultur und sie betonte die „Fähigkeit des Menschen zur aktiven Anpassung, zur Gestaltung und Veränderung der Umwelt wie der eigenen Verhaltensweisen“. • In Tübingen wiederum, wo sich das Fach Volkskunde in Empirische Kulturwissenschaft umbenannt hatte, war die Erforschung des Alltags zunächst von einem politischen Emanzipationsprozess geprägt. Einführung in die Europäische Ethnologie 31 • Später entwickelte sich daraus eine historisch orientierte Alltags- und Kulturforschung, die – vor allem durch Utz Jeggle – auch ethno-psychoanalytische Einflüsse erhielt. • Zunächst wurde – ebenfalls in der Tradition der kritischen Theorie – auf dem Hintergrund des Entfremdungsmodells argumentiert und es wurde versucht, die antagonistischen Widersprüche in der kapitalistischen Gesellschaft zu analysieren. • Danach wurde diese materialistische Alltagsforschung an die Entwicklung des Faches rückgebunden und führte zu einer verstärkten Erforschung von Gruppenkulturen. Dies zeigte sich unter anderem an der Arbeiterkulturforschung. Einführung in die Europäische Ethnologie 32 • In Tübingen wurde die historische Dimension des Alltagskonzepts besonders betont. • Der alltagsweltliche Zugang ist wegen der Zuwendung zu den Akteuren attraktiv. Aufgegriffen wurde er in den Geschichtswissenschaften, die über die traditionelle Struktur- und Herrschaftsgeschichte zu den historischen Subjekten vordringen wollte. • Daraus resultierte eine veränderte Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Man begann unter dem Signum der Alltagsforschung, sich mit dem „Blick von unten“ zu beschäftigen. Das beinhaltete auch eine dichotome Vorstellung von Kultur und Gesellschaft mit einem klar abgegrenzten Unten und Oben. Einführung in die Europäische Ethnologie 33 • Geprägt waren diese Formen der Alltagsforschung zunächst von der kritischen Theorie und von einem Klassenkonzept, das von kultureller Hegemonie und kulturindustrieller Manipulation ausging. • In der Arbeiterkulturforschung setzte sich dann das leninistische Zweikulturenmodell von unterdrückter und unterdrückender Klasse durch, das allerdings modifiziert wurde durch Einflüsse von Edward P. Thompson, der die Aneignungs- und Widerstandsformen der Arbeiterklasse betonte. • Aus dem Umfeld einer Alltagsgeschichtsforschung entwickelten sich einige viel diskutierte Ansätze. Einführung in die Europäische Ethnologie 34 • Vor allem aus der Beschäftigung mit den unteren Schichten vor der Industrialisierung, also in der Frühen Neuzeit, entstanden Konzepte, die fragten, wie Verhaltensmuster und Mentalitäten über einen längeren Zeitraum hinweg tradiert werden. • So entwickelte sich das Konzept des „Eigensinns“ der unteren Schichten. Dieser Eigensinn schreibt der Arbeiter- und Volkskultur eine inhärente Widerständigkeit gegen die herrschende Kultur zu, eine sich im Alltag formierende und formulierende Differenz, ein kollektives „Wir-Bewußtsein“. • Für diese Ausrichtung stehen etwa die Arbeiten des Historikers Alf Lüdtke, aber frühe Arbeiten des Europäischen Ethnologen Wolfgang Kaschuba. Einführung in die Europäische Ethnologie 35 Identität • Identität ist zweifellos ein wichtiger Begriff für die Volkskunde und darüber hinaus für die Kultur- und Sozialwissenschaften. Identität bedeutet zunächst einmal die Übereinstimmung eines Gegenstandes mit sich selbst, sein „In-Sich-Gefestigt-Sein“. • Der Begriff Identität ist zunächst vor allem in der Sozialpsychologie und in der Entwicklungspsychologie verwendet worden. • In der Sozialpsychologie u.a. bei George Herbert Mead (1863-1931), dessen Ansätze aber erst viel später aufgegriffen wurden, als er sie geäußert hatte. Einführung in die Europäische Ethnologie 36 • In der Entwicklungspsychologie war es der Psychoanalytiker und Psychotherapeuth Erik H. Erikson (1902-1994), der den Identitätsbegriff verwendete und über seine Disziplin hinaus popularisierte. • Erikson kam als Sohn dänischer Eltern bei Frankfurt am Main auf die Welt. Nachdem sich seine Eltern schon vor seiner Geburt getrennt hatten, heiratete seine jüdische Mutter einen jüdischen Arzt. • Erikson verließ Deutschland im Jahr 1933, um dann in den Vereinigten Staaten als Entwicklungspsychologe zu reüssieren. • Erikson beschrieb die Entwicklung der Ich-Identität als einen langwierigen Prozess. Einführung in die Europäische Ethnologie Erik H. Erikson 37 Einführung in die Europäische Ethnologie 38 • Er wurde mit seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung bekannt. Dieses Modell unterteilt die Entwicklung des Menschen von seiner Geburt bis zu seinem Tod in acht Phasen. • Eriksons Schlüsselkonzept ist jenes der Identität bzw. der Ich-Identität, die in jeder dieser Phasen durch Auseinandersetzung mit seiner Umwelt herausgebildet wird. • Ein Schwerpunkt seiner Analyse, das wird durch die Stufen deutlich, liegt bei der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, die zwischen Nachahmung und Abgrenzung von Erwachsenen changieren müssen, um eine Ich-Identität ausbilden zu können. Einführung in die Europäische Ethnologie 39 Phasen Psychosoziale Krisen Radius wichtiger Beziehung. Grundstärken Kernpathologie/ Grundlegende Antipathien Ich-Erkenntnis I: Säuglingsalter Grundvertrauen / Grundmisstrauen Mütterliche Person Hoffnung Rückzug Ich bin, was man mir gibt II: Kleinkindalter Autonomie / Scham + Zweifel Eltern Wille Zwang Ich bin, was ich will III: Spielalter Initiative / Schuldgefühl Kernfamilie Entschlusskraft Hemmung Ich bin, was ich mir vorstellen kann zu werden IV: Schulalter Regsamkeit / Minderwertigkeit Nachbarschaft/ Schule Kompetenz Trägheit Ich bin, was ich lerne V: Adoleszenz Identität / Identitätskonfusion Peer-Groups und fremde Gruppen Treue Zurückweisung Ich bin, was ich bin VI: Frühes Erwachsenenalter Intimität /Isolierung Partner, Freundschaft, Sexualität, Wettbewerb, Zusammenarbeit Liebe Exklusivität Ich bin, was mich liebenswert macht VII: Erwachsenenalter Generativität / Stagnation Arbeitsteilung und gemeinsamer Haushalt Fürsorge Abweisung Ich bin, was ich bereit bin zu geben VIII: Alter Integrität /Verzweiflung „Die Menschheit“, Menschen meiner Art“ Weisheit Hochmut Ich bin, was ich mir angeeignet habe Einführung in die Europäische Ethnologie 40 • Bei Erikson vollzieht sich der kindliche Identitätsaufbau räumlich, körperlich, psychisch, emotional und sozial. So löst sich das Kind aus der emotionalen Symbiose mit den Eltern und der Familie und integriert sich in die so genannten peer groups – also Gleichaltrigengruppen. • Diese Integrationsleistungen sind nach Erikson allerdings nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch in den weiteren Lebensabschnitten immer wieder nötig. • Interessanterweise hat Erikson zwar mit dem Identitätsbegriff gearbeitet und diesen auch für sein Phasenmodell verwendet, aber er hat nie wirklich dargelegt, was er darunter versteht. Einführung in die Europäische Ethnologie 41 • Überhaupt ist es mit dem Identitätsbegriff so, wie mit vielen anderen Begriffen, die uns hier beschäftigen. Er ist etwas unscharf und wird zum Teil in unterschiedlicher Form verwendet. • Bei aller Unschärfe beinhaltet er ein konstitutives Merkmal und das ist seine soziale Dimension. • Der Soziologe Anselm Strauss hat dies gut zum Ausdruck gebracht: „Identität ist immer verbunden mit der schicksalhaften Einschätzung seiner selbst – durch sich selbst und durch andere.“ • Identität konstituiert sich also, das haben wir ja auch in Eriksons Modell gesehen, durch Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Einführung in die Europäische Ethnologie 42 • In dieser Auseinandersetzung hat das Individuum die Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen und Erwartungen sowie den Erwartungen und Anforderungen der Anderen auszugleichen. • Identität ist ein ständiger Balanceakt: Einerseits bedarf der Einzelne der Bestätigung durch andere, um sich als identisch zu erfahren. Andererseits darf er den Erwartungen der Anderen nur in einem solchen Umfang entsprechen, dass er nicht in deren Erwartungen aufgeht, will er als eigenes Subjekt mit seiner Lebensgeschichte und seinen Erwartungen und Bedürfnissen in der Interaktion zur Geltung kommen. Einführung in die Europäische Ethnologie 43 • Bei all diesen Ausbalancierungsbemühungen ist es dennoch so, dass der Begriff Identität ein Moment von Ordnung und Sicherheit verkörpert inmitten eines ständigen Wandels und Wechsels. • Insofern meint er aber auch nichts Festes und Starres, sondern ist durchaus elastisch. • Der Begriff Identität ist ein analytisches Konstrukt. Dieser Konstruktionscharakter bedeutet aber keineswegs, dass Identität nicht direkt erfahrbar wäre. • Identität ist z.B. als ein Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und seiner Umgebung erfahrbar. Einführung in die Europäische Ethnologie 44 • Deutlicher noch ist es in seiner negativen Form wahrzunehmen – nämlich im Bewusstsein oder Ge-fühl mangelnder Übereinstimmung. • „Identität bezeichnet“ – nach Hermann Bausinger – die Fähigkeit des Einzelnen“, „sich über alle Wechselfälle und Brüche hinweg der Kontinuität seines Lebens bewusst zu bleiben.“ • In diesem Sinn kann man Identität als ein Grundmuster verstehen, das die Menschen dazu anleitet, sich als soziales Wesen in seine Umwelt einzupassen. Einpassen meint aber nicht vollständiges Anpassen. Vielmehr will das Individuum durch Übereinstimmung ebenso wie durch Abgrenzung seinen spezifischen „sozialen Ort“ finden. Einführung in die Europäische Ethnologie 45 • Dabei meint Identität immer zweierlei: einerseits eine relativ konsistente Vorstellung von seinem sozialen Ich und andererseits einen Aushandlungsprozess über diese Vorstellung. • Die Vorstellung und die Aushandlungsprozesse enthalten dabei immer sowohl eher feste als auch eher verhandelbare Komponenten. • Viele Formen geschlechtlicher, religiöser und auch sozialer Identität können üblicherweise selten verändert werden, wenn es denn überhaupt gewollt wird. So gibt es zum Beispiel – bezogen auf die Gesamtgesellschaft in Deutschland – relativ wenige Menschen, die ihre geschlechtliche Identität ändern möchten. Einführung in die Europäische Ethnologie 46 • Oder ein anderes Beispiel: Ab dem Zeitpunkt, wo man sich bewusst zu einer religiösen Gemeinschaft bekennt, wird dieser Aspekt religiöser Identität ebenfalls seltener gewechselt. • Und wie wir aus vielen Studien – etwa zur Elitenforschung – wissen, lässt sich auch unsere soziale Identität weniger leicht wechseln, als wir das in unserer Leistungsgesellschaft vermuten. • Es gibt aber bestimmte Wertvorstellungen, Stile oder altersbedingte Rollen, die zwar für den Moment ebenfalls sehr stabil scheinen, um zu einem geschlossenen Selbstbild zu gelangen, die aber dennoch wandelbar sind und manchmal sogar kurzfristigen Veränderungsprozessen unterliegen. Einführung in die Europäische Ethnologie 47 • Damit sind wir auch bei einer Schwierigkeit des Identitätsbegriffs. Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass wir von einer personalen oder Ich-Identität und einer kollektiven Identität sprechen können. • Ebenso deutlich dürfte sein, dass die personale Identität nicht unabhängig von der kollektiven Identität betrachtet werden kann, sie sind miteinander verschränkt. • In dieser Unterscheidung zwischen personaler und kollektiver Identität liegt eine der Ursachen, warum der Identitätsbegriff in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten ist. Einführung in die Europäische Ethnologie 48 • Eine andere Ursache liegt in den sich wandelnden Begrifflichkeiten in der Wissenschaftslandschaft. • Stuart Hall spricht etwa von einer „Krise der Identität". Diese Krise, sei „als Teil eines umfassenden Wandlungsprozesses zu sehen, der die zentralen Strukturen und Prozesse moderner Gesellschaften“ verschiebt. So würden die Netzwerke unterminiert, die den Individuen in der sozialen Welt eine stabile Verankerung gaben“. • Aus diesem Grund sympathisiert Hall mit der These einer dezentrierten oder fragmentierten Identität; diese ist „nicht aus einer einzigen, sondern aus mehreren, sich manchmal auch widersprechenden oder ungelösten Identitäten zusammengesetzt“. Einführung in die Europäische Ethnologie 49 • In diese Richtung argumentieren viele weitere Autoren, unter denen der Soziologe Zygmunt Bauman und der Sozialpsychologe Heiner Keupp, der hier an der LMU gelehrt hat, genannt seien. • Identität ist zudem situationsabhängig. Die eigene Identität mag zwar durch gewisse Verhaltensmassregeln und Identitätsmerkmale vorbestimmt sein, aber ein konkretes Verhalten hängt immer von den Kontexten ab, in denen wir uns befinden. • Zwar werden wir in irgendwelchen Gesprächssituationen kaum unsere geschlechtliche oder Altersidentität grundsätzlich in Frage stellen können und wollen. Einführung in die Europäische Ethnologie 50 • Aber wie wir Züge unseres Selbstbildes nuancieren, hängt von der jeweiligen Situation und davon ab, über wie viel Verhaltensspielraum wir in solchen Situationen verfügen. • Identität bezieht sich also immer auch auf ein konkretes Aushandeln in konkreten Situationen. In solchen Situationen kann es jeweils unterschiedliche Zuordnungen und Bezüge geben. Jeder soziale Ort weist eigene Strukturen von Verhaltensregeln und Verhaltensspielräumen auf. Die Verhaltensregeln liegen relativ fest und müssen respektiert werden (Wolfgang Kaschuba). Einführung in die Europäische Ethnologie 51 • Die Verhaltensspielräume sind relativ offen und können gestaltet werden. Deshalb ist die Herausbildung einer Identität immer eine soziale Praxis, bei der allgemeine Regeln und Vorstellungen über die eigene Identität in konkretes Verhalten umgesetzt werden. • Ein Beispiel für die Situationsabhängigkeit von Identitätskonstruktionen stammt aus der Gemeindestudie in der Südweststeiermark, mit der ich die Vorlesung eingeleitet habe. • Da unterhielten wir uns etwa mit dem größten Bauern im Ort, der uns erzählte, wie er in dieser peripheren Lage versucht, wirtschaftlich Erfolg zu haben. Einführung in die Europäische Ethnologie 52 • Er ist besonders darauf bedacht, sein Österreichertum herauszustreichen. Dieses Österreicher-tum versteht er dabei als ein deutschsprachiges. Im Interview meint er unter anderem: „Ja, ich habe von Grazern gehört, dass das ein zweisprachiges Gebiet ist.“ • Daher konnte ich es im Nachhinein fast nicht glauben, als ich hörte, dass Slowenisch seine Muttersprache ist und auch seine Frau aus Slowenien stammt. Seine Ziehmutter und deren Schwester stammen zudem beide aus dem slowenischen Teil Kärntens und sprechen untereinander kaum ein Wort Deutsch. Einführung in die Europäische Ethnologie 53 • In unterschiedlichen Kontexten werden also unterschiedliche Rollen gespielt, was häufig problemlos vonstatten geht, manchmal aber zu größeren Schwierigkeiten führen kann. In diesen Situationen findet nämlich jeweils ein Aushandlungsprozess zwischen den Selbstbildern und den Fremdbildern statt und dabei handelt es sich um einen sehr komplizierten Balanceakt. • Besonders deutlich wird das, wenn dieser Balanceakt nicht gelingt, wenn wir es also nicht schaffen, Fremdbild und Selbstbild „unter einen Hut“ zu bekommen. Das passiert etwa, wenn Andere auf uns nicht entsprechend reagieren. Einführung in die Europäische Ethnologie 54 • Daraus können zwei Problemlagen entstehen. Einerseits ein Identitätsverlust und andererseits Überidentifikation. • Der Identitätsverlust kann bei existentiellen oder psychischen Krisen der Fall sein (Vgl. dazu und im Folgenden: Kaschuba, Einführung). • Überidentifikation dann, wenn ein zentraler Identitätsbezug völlig in den Vordergrund rückt, wenn also jemand völlig von einem zentralen Identitätsbezug abhängig wird. Etwa von einem bestimmten Körperlichkeitsbild oder von der Akzeptanz einer bestimmten Bezugsgruppe – als besonders drastische Beispiele könnten hier Sekten oder nationalistische Bewegungen genannt werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 55 • In diesem Zusammenhang ist es wichtig, ob man die Frage der Identität vom Individuum her denkt oder von einem Kollektiv. Vom Individuum her gedacht bedeutet Identitätskrise „eine intensiv erlebte Erfahrung grundlegender sozialer und kultureller Dissonanzen mit der gesellschaftlichen Umwelt. • Der Begriff Identitätskrise wird aber auch im Zusammenhang mit kollektiver Identität oder kollektiven Identitäten genannt. Etwa im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. • Da werden Identitätskrisen als Ausdruck jener Erfahrungen gedeutet, die in Form rasanten sozialen und kulturellen Wandels auf die Menschen zukommen. Einführung in die Europäische Ethnologie 56 • Etwa durch globale Veränderungen von ökonomischer und technologischer Rationalität oder durch eine zunehmende Entwurzelung durch Mobilität und Migration. • Verschiedene Wissenschaftler haben sich in den letzten Jahren dazu geäußert. George Marcus etwa hat den Tod der Trope des Lokalen in der Anthropologie proklamiert (Trope ist in der Rhetorik eine Stilfigur, wobei für einen Ausdruck ein verwandter bildhafter Begriff eingesetzt wird). • Er meint, die Idee einer ortsgebundenen Produktion von Identität sei nicht mehr länger gültig, weil Identität simultan an verschiedenen Orten hergestellt würde, an denen Aktivitäten stattfinden – daher sein Konzept einer multi-sited Ethnography. Einführung in die Europäische Ethnologie 57 • Vom Subjekt her gedacht, mag diese Behauptung berechtigt sein, wie auch Stuart Hall argumentiert. • Hall sieht die Entstehung eines postmodernen Subjekts, „das ohne eine gesicherte, wesentliche oder anhaltende Identität konzipiert ist. Identität wird ein ‚bewegliches Fest‘. Sie wird im Verhältnis zu den verschiedenen Arten, in denen wir in den kulturellen Systemen, die uns umgeben, repräsentiert oder angerufen werden, kontinuierlich gebildet und verändert“. • In eine ähnliche Richtung tendieren die Ausführungen des britischen Soziologen Zygmunt Bauman: Der Existenzmodus der Subjekte sei gekennzeichnet durch unzureichende Bestimmtheit, Unabgeschlossenheit, Motilität und Wurzellosigkeit. Einführung in die Europäische Ethnologie 58 • Die Identität des Subjekts sei weder vorgegeben, noch werde sie autoritativ bestätigt. Sie muss konstruiert werden, jedoch kann kein Konstruktionsentwurf als vorgeschrieben oder narrensicher gelten. Die Konstruktion der Identität bestehe aus aufeinander folgenden Versuchen und Irrtümern“. • Trotz oder sogar wegen dieser Veränderungen gibt es Formen einer kollektiven Identität, die hier noch etwas beleuchtet werden sollen. • Clifford Geertz meinte einmal, kein Mensch lebe in der Welt im allgemeinen, „jeder, sogar der Exilierte, der Getriebene, der Diasporische (…), lebt in einem eingeschränkten und begrenzten Ausschnitt davon – der Welt um einen herum“. Einführung in die Europäische Ethnologie 59 • Ausgehend davon sind jene Schnittmengen fragmentierter personaler Identitäten interessant, die wiederum ein Kollektiv ergeben. • Zwar hat Hermann Bausinger schon vor mehr als zwanzig Jahren auf die Gefahr hingewiesen, dass häufig unreflektiert von Kollektividentitäten gesprochen wird, aber er konstatierte eben auch, dieses Konstrukt Identität sei „als Gefühl der Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst und mit seiner Umgebung“ direkt erfahrbar. • Viele Untersuchungen innerhalb der Europäischen Ethnologie haben sich daher mit Fragen lokaler oder regionaler Identitätskonstruktion auseinandergesetzt. Einführung in die Europäische Ethnologie 60 • Wenn man sich solchen Fragen lokaler oder regionaler Identitätskonstruktion zuwendet, muss man sich auch gewisser Gefahren bewusst sein. Etwa dass durch die Begrenztheit des örtlichen Erlebens durch einen Forscher, der sich an einem bestimmten Ort aufhält, auch ein begrenzter Blickwinkel entstehen kann, der wichtige Dinge ausblendet: etwa die Außenbeziehungen. • Damit wird nicht bestritten, dass territoriale Bindungen mit Identität verknüpft werden, sondern es werden Denkmuster hinterfragt, in denen Identität und räumliche Bindung zwangsläufig als Einheit gedeutet werden. Daher sollten Aspekte einer lokalen Identität als eine Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten verstanden werden, territoriale Zugehörigkeit & Identitätskonstruktion zu verbinden. Einführung in die Europäische Ethnologie 61 • Dennoch: Der „Dauerbrenner“ Identität, wie es Konrad Köstlin ausgedrückt hat, spielt sich hauptsächlich auf lokaler Ebene ab: „in Gewohnheiten, im Dialekt, auf immer wieder gegangenen Wegen und landschaftlichem Bild basierend, bei Gerüchen und Geräuschen“. • Dieser lokale Raum ist für die Menschen von zentraler Bedeutung, hier findet ein Großteil jener identitätsstiftenden Interaktionen statt, die für Menschen so bedeutsam sind. • Dabei wird der Grundstein für jene Diskursformationen gelegt, als welche Aleida Assmann kollektive Identitäten sieht. Diese Identitäten stehen und fallen mit jenen Symbolsystemen, „über die sich die Träger einer Kultur als zugehörig definieren und identifizieren“. Einführung in die Europäische Ethnologie 62 • Lokale Identität speist sich einerseits aus Quellen der Kommunikation und Interaktion, andererseits aus den Möglichkeiten, eigene Bedürfnisse – z. B. nach Wohnen und Arbeit, nach der Teilhabe an politischen Entscheidungen, nach der Gestaltbarkeit usw. – in der eigenen Lebensumwelt zu befriedigen. • Einen besonderen Weg zur Erforschung und sogar Überprüfung lokaler Identität beschritt die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus. • Ausgehend von der Untersuchung von Dorferneuerungen, die mit den Modernisierungsprozessen seit den 1960er Jahren einhergingen, interessierte sie sich für die Einstellung der dörflichen Bevölkerung zu den Veränderungsprozessen. Einführung in die Europäische Ethnologie 63 • Sie rückte sowohl bei den Veränderungen als auch bei der Frage des Denkmalschutzes Fraugen der Raumbezogenheit und der Raumorientierung von Menschen ins Zentrum ihres Interesses. • Mit ihrem Vorgehen wollte sie ein öffentliches politisches Vorgehen erreichen, das ein die Privatinteressen übergreifendes und ortsbezogenes Handeln ermöglicht. Über aktive Mitgestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten sollte eine Identifikation der Bewohner mit ihrem Ort stattfinden. • Greverus stellte drei Hypothesen bezüglich räumlicher bzw. lokaler Identität auf: Einführung in die Europäische Ethnologie 64 1. Die Identifikation mit einem Raum hängt vom Grad der in diesem Raum möglichen Befriedigung von Lebensbedürfnissen ab, denen verschiedene Raumorientierungen zugrunde liegen. Je besser diese Bedürfnisse befriedigt werden, desto größer ist das Identifikationspotential, das zur Anerkennung dieses Raums führt. 2. Je konfliktreicher sich in einem gegebenen Raum für die Einzelnen die unterschiedlichen Raumorientierungen gegenüberstehen und je sozioökonomisch heterogener der Raum besetzt ist, desto stärker ist die Tendenz zur privatistischen Konfliktlösung im Rahmen individueller und/oder interessengruppenspezifischer Möglichkeiten. Einführung in die Europäische Ethnologie 65 3. Je stärker in eine räumliche Entwicklungsplanung eine kollektive Konfliktlösungsstrategie einbezogen wird, desto größer sind die Chancen für eine solidarische Zusammenarbeit der Bewohner hinsichtlich der Interessenvertretung ihres Lebensraumes. • Zur Überprüfung dieser Hypothesen hat Greverus dann ihr so genanntes Raumorientierungsmodell entwickelt, bei dem es sich um die Weiterentwicklung eines Modells des Soziologen Erik Cohen handelt. In ihrem Modell gibt es vier wesentliche Raumorientierungskategorien: 1. Die instrumentale Raumorientierung bezieht sich auf die Ressourcen für die materielle Existenzsicherung, ihre Erschließung und ihre Nutzungsmöglichkeiten. Einführung in die Europäische Ethnologie 66 2. Die kontrollierende Raumorientierung bezieht sich sowohl auf die formelle als auch informelle Kontrolle und Mitbestimmung, die die Bewohner im öffentlichen und privaten Bereich der Raumnutzung und – gestaltung besitzen. 3. Die soziokulturelle Raumorientierung erwächst aus der für die Entfaltung der Persönlichkeit wichtigen sozialen und kulturellen Betätigungsmöglichkeiten. Dazu zählen Interaktionsmöglichkeiten, Erholungsmöglichkeiten und insgesamt die verschiedenen Aktivitätsmöglichkeiten. 4. Die symbolische Raumorientierung bezieht sich sowohl auf ästhetische Präferenzen als auch auf die spezifischen Traditions-, Image- und Erinnerungswerte, die mit den Räumen und Raumdetails verbunden sind und in die Weltsicht der an ihnen orientierten Menschen eingehen. Einführung in die Europäische Ethnologie 67 • Je konfligierender sich nun in einem gegebenen Raum die unterschiedlichen Raumorientierungen gegenüberstehen, desto stärker wird die Identitätsdiffusion in und gegenüber diesem Raum sein, desto stärker wird die Identität beschädigt. • Hinter dem Raumorientierungsmodell steht der Gedanke, dass alle vier Kategorien für das menschliche Wohlbefinden von gleicher Wichtigkeit sind, gerade in den gegenwärtigen komplexen Gesellschaften aber von einem ausgewogenen Verhältnis der Raumorientierungen nicht mehr die Rede sein kann. • Bei Untersuchungen auf der Basis des Raumorientierungsmodells wurde auf eine ganze Palette von Untersuchungsmethoden zurückgegriffen. Einführung in die Europäische Ethnologie 68 • Wenn es um regionale Identität geht, finden sich oft positive Zuschreibungen an Orte Regionen etc. • Es gibt aber auch die Kehrseite solcher Identitätsbildungsprozesse. Dafür bringt Wolfgang Kaschuba in seiner Einführung in die Europäische Ethnologie ein glänzendes Beispiel: • Jean Améry (1912 in Wien geboren, im Salzkammergut aufgewachsen, und nach einer Buchhandelslehre in Wien an der Volkshochschule tätig, ehe er 1938 nach Belgien floh. Zweimal von den Nationalsozialisten verhaftet, schwer gefoltert und in die Konzentrationslager Auschwitz, Buchenwald und Bergen Belsen verbracht – überlebte und war nach dem 2. Weltkrieg als Essayist und Schriftsteller tätig, wählte 1978 den Freitod). Einführung in die Europäische Ethnologie 69 • Améry hat die Schwierigkeiten mit dem Begriff Heimat aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen immer wieder zum Thema gemacht – unter anderem in seinem Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ • Darin schildert er, wie er als österreichischer Jude – allerdings als assimilierter, katholisch erzogener Jude – und Linker 1938 vor dem Nazismus nach Belgien flieht, in Antwerpen als Exilant und Antifaschist jenes Deutschland bekämpft, sich zugleich aber auch vor Heimweh nach ihm verzehrt. • Améry beteiligt sich am aktiven Widerstand. Kurz bevor er 1943 verhaftet, gefoltert und ins Konzentrationslager gesteckt wurde, erlebte er Folgendes. Einführung in die Europäische Ethnologie 70 • Seine Wohnung, die als Stützpunkt der illegalen Arbeit dient, wird von einem im Hause wohnenden SS-Mann betreten, der sich nichts ahnend lediglich wegen des Lärms aus dieser Nachbarwohnung beschweren und seine Nachtruhe einfordern will. Die Situation wird für Améry grotesk und er schreibt: „Er stellt seine Forderung – und dies war für mich das eigentlich Erschreckende an der Szene – im Dialekt meiner engeren Heimat. Ich hatte lange diesen Tonfall nicht mehr vernommen, und darum regte sich in mir der aberwitzige Wunsch, ihm in seiner Mundart zu antworten. Ich befand mich in einem paradoxen, beinahe perversen Gefühlszustand von schlotternder Angst und gleichzeitig aufwallender familiärer Herzlichkeit, denn der Kerl … erschien mir plötzlich als ein potentieller Kamerad.“ Einführung in die Europäische Ethnologie 71 • Einerseits fühlt sich Améry überwältigt durch die Rührung, diesen seit Jahren nicht mehr vernommenen Dialekt als „Heimatklang“ wieder zu hören – die Sprache als den symbolischen Ort der Heimat. • Andererseits überwältigt ihn die Todesangst dieser Situation, in der sein Landsmann zu seinem Mörder werden könnte. Es ist ein fast absurder Zwiespalt, der gefühlsmäßige Momente eines völligen Identisch-Seins mit dem klaren Wissen eines absoluten Nicht Identisch-Seins verbindet. • Was heißt da Heimat, was nationale Identität, wenn er bei Fremden in Belgien Sicherheit finden, während er vom Nachbarn den Tod erwarten kann? Einführung in die Europäische Ethnologie 72 • Améry antwortet darauf: „Die Feindheimat wurde von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr verbunden war. Der mit Selbsthaß gekoppelte Heimathaß tat wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn mitten in der angestrengten Arbeit der Selbstvernichtung dann und wann auch das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz verlangte.“ • Interessant ist hier allerdings nicht nur die Frage, die Wolfgang Kaschuba stellt, was hier Heimat heißt. Ebenso interessant ist die Tatsache, dass Améry seiner Herkunftsregion affektiv so verbunden ist, dass er es trotz aller Schrecken und Geschehnisse nicht vermag, diese emotionale Bindung zu kappen. Einführung in die Europäische Ethnologie 73 • Identität konstituiert sich überhaupt erst durch die Bezugnahme auf ein Anderes. Diese klassische Konstruktion, das „Eigene“ vom „Anderen“ oder „Fremden“ zu unterscheiden, diente der Versicherung seiner selbst. • Das „Andere“ konnte als „Fremdes“ getrennt vom „Eigenen“ gedacht werden – es war sozusagen eine andere Welt irgendwo außerhalb des eigenen Kosmos. • Wenn heute die Rede von „kultureller Identität“ ist, dann häufig in einem ganz spezifischen und für unsere Disziplin gefährlichen Sinn – nämlich dann, wenn kulturelle und ethnische Identität gleichgesetzt werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 74 • Der Sozialwissenschaftler Frank-Olaf Radtke hat einmal einen groben historischen Überblick über Inklusions- und Exklusionsmechanismen gegeben. • Er meinte im Mittelalter wurde die Vorstellung von Innen und Außen durch die Religion geregelt. In der Zeit des Industrialismus und Kolonialismus sei die „Rasse“ als Unterscheidungskriterium in den Mittelpunkt getreten; danach hätten Volk und Nation, die auf einer positiven Bestimmung von Gemeinschaft beruhten, die Betrachtung von Innen und Außen bestimmt. • Am Ende des 20. Jahrhunderts sei es nun die „Kultur“, mit der die Differenz zwischen „eigen“ und „fremd“ ausgedrückt werde. Einführung in die Europäische Ethnologie 75 • In dieser von vielen Sozialwissenschaftlern geteilten Einschätzung erscheint das Konzept von „Kultur“ als Fortschreibung rassistischer und nationalistischer Ausgrenzungsstrategien. Demzufolge wird Kultur, so wie zuvor Rasse oder Nation, als Unterscheidungsmerkmal zur Einordnung von Menschen in feststehende Kollektive eingesetzt. • Bestehende Unterschiede in der Bevölkerung werden kulturalisiert, um die sozialen und ökonomischen Differenzen zu verschleiern. Die Zuschreibung Kultur lege Menschen auf eine Zugehörigkeit zu ethnischen Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaften fest. Französische Kritiker wie Pierre-André Taguieff bezeichneten Kultur daher als eine Art kollektiven Kerker, in dem das Individuum gefangen bleibt. Einführung in die Europäische Ethnologie 76 • Diese sozialwissenschaftliche Debatte ist auch in den ethnologischen Disziplinen nicht unbekannt. Auch hier wurde kritisiert, dass der Kulturbegriff zur Ausgrenzung von Migranten und Minderheiten herangezogen wird. • Wolfgang Kaschuba etwa thematisierte die verzerrte Interpretation von sozialen Problemen als Ausdruck kultureller Differenzen als eine zunehmende Tendenz zum Kulturalismus. • Mit dem Begriff des „Othering“ wurde darauf hingewiesen, dass praktisch aus der Disziplin selbst ein Beitrag zur Bereitstellung von Fremdheit als Ausgrenzungskategorie geleistet wird. Einführung in die Europäische Ethnologie 77 • Dennoch unterscheiden sich die Debatten in den Sozialwissenschaften und in den anthropologischen Disziplinen in einem Punkt maßgeblich. Die anthropologischen Disziplinen, wir haben das ja in dieser Vorlesung schon durchgenommen, gehen von einem Kulturbegriff aus, der weit über die Ethnisierung hinausweist. • Kultur verstehen wir als eine Praxis sozialer Verständigung und symbolischer Darstellung. Insbesondere geht es uns um die Analyse der Prozesse sozialen Wahrnehmens und Deutens, um die Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, dem Aushandeln von Sinnzusammenhängen und die Praktiken symbolischer Ein- und Ausgrenzung. Einführung in die Europäische Ethnologie 78 • Das verweist auf alle Phänomene der Alltagskultur und auf die Dynamiken, die sich etwa aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Gruppierungen ergeben. • Kultur wird nicht nur ethnisierend verstanden. • In den ethnologischen Disziplinen erschöpft sich Kultur also nicht in dem Aspekt menschlicher Kulturgebundenheit, die an den Traditionsbestand einer Herkunftsgruppe gebunden ist. • Zum Konzept der Kultur gehört genauso der Aspekt der Kulturfähigkeit, die es ermöglicht mit Situationen kreativ umzugehen. So führt das Aufeinandertreffen des Eigenen mit dem Anderen nicht automatisch zur Ausgrenzung, sondern führt meist sogar zur Entstehung von etwas Neuem. Einführung in die Europäische Ethnologie 79 • Dies steckt etwa schon in dem Bild von „Collage“, mit dem Ina-Maria Greverus gearbeitet hat und mit dem sie den produktiven Umgang von Menschen mit Fremdem zeigen wollte. • Auch Hermann Bausinger betonte, Kultur sei die Fähigkeit des Menschen, auf Veränderungen mit Veränderungen zu reagieren. • Diese prinzipielle Offenheit, die wir im Alltag ständig beobachten können, ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite ist aber die, dass sich Gruppen oder sogar ganze Gesellschaften dennoch nach dem Prinzip der Kulturgebundenheit voneinander abgrenzen. Dabei wird – bewusst oder unbewusst – die Fähigkeit zum Kulturaustausch und zur Durchlässigkeit außer Acht gelassen. Einführung in die Europäische Ethnologie 80 • Ethnische Fremd- und Selbstdefinitionen und ihre politische Verwendung scheinen gerade in den spätmodernen komplexen Gesellschaften wieder zuzunehmen. • In seinem Klassiker „Ethnic Groups and Boundaries“ ist Frederik Barth der Frage nachgegangen, wie sich ethnische Identität formiert und welche Rolle Kultur dabei spielt. • Seine Hauptthese meint, dass es keine vorexistente objektive Kultur ist, aus der eine ethnische Gruppe als natürliche Repräsentantin dieser Kultur hervorgeht. Vielmehr kreieren sich ethnische Gruppen aus ihren kulturellen Ressourcen Unterscheidungsmerkmale, um sich nach innen zu vergemeinschaften und nach außen abzugrenzen. Einführung in die Europäische Ethnologie 81 • Erst in diesem Prozess konstruiert sich die Ethnie als distinkte Gruppe mit eigenen Traditionen und eigener Herkunftsgeschichte. • Barth muss durch Ansätze aus der politischen Anthropologie und verwandter Disziplinen ergänzt werden, wofür die Namen Benedict Anderson, Ernest Gellner oder Eric Hobsbawm stehen. • Auch bei Ihnen wird die Konstruktion ethnischer Identität nicht als quasi zeitlose Form betrachtet, sondern als Produkt einer ganz bestimmten historischen Entwicklung. Es ist die Idee der Nation, die ausgehend vom 18. Jahrhundert an Bedeutung gewinnt. Einführung in die Europäische Ethnologie 82 • Und mit der Idee der Nation gewinnen auch das Prinzip des Ethnos und das Denken in ethnischen Kategorien an Bedeutung. • Das Ethnische ist hier eine Antwort auf die Auflösung der traditionalen Strukturen, die in der Moderne stattfinden. Das Ethnos erscheint dabei als ein Instrument kollektiver Unterscheidung, das sich mit der Moderne entwickelt und in der Figur des Nationalstaats seine Wirkung zeigt. • Erst im Rahmen dieser politisch-gesellschaftlichen Anwendung verliert das Prinzip ethnischer Grenzziehungen jene „Unschuld“, die es bei Barth noch hat. Einführung in die Europäische Ethnologie 83 • Die Grenzen stehen nun für faktische Machtverhältnisse, wie sie sich typischerweise in der asymmetrischen Beziehung zwischen ethnischen Minderheiten und nationalen Mehrheiten ausdrücken. • In der nationalistischen Version – vor allem in Deutschland – erhält Ethnos in seiner Übertragung auf den deutschen Begriff Volk aber nicht nur die Zuschreibung einer kulturellen Daseinsform, die in einer kollektiven Identität ihren Ausdruck findet. • Zur kulturellen Dimension, die an sich schon nicht unproblematisch ist, kommt das biologische Abstammungsprinzip. Einführung in die Europäische Ethnologie 84 • Volkszugehörigkeit wird als Resultat des Hineingeboren-Werdens in eine Abstammungsgemeinschaft verstanden. Sie meint eine blutsmäßige Bindung, die entsprechende Zuschreibungen physischer, mentaler und kultureller Verwandtschaft nach sich zieht. Sie verweist auf angeblich „angestammte“ räumliche Grenzen und Territorien. • Die Idee der Nation impliziert also eine radikale Umorientierung der Vorstellung, wie eine Gesellschaft im Innern organisiert sein sollte. • Bis dahin war das europäische Gesellschaftsbild geprägt von horizontal übereinander geschichteten und klar voneinander abgegrenzten Ständen, an deren Spitze ein Herrscher regierte. Einführung in die Europäische Ethnologie 85 • Das Modell „Nation“ eröffnete dagegen die Möglichkeit einer vertikal über alle sozialen Unterschiede hinweg organisierten Gemeinschaft, die alle zu einem Staatsvolk verbindet. • Diese Konstruktion enthält einerseits das sozialrevolutionäre Potential eines sich selbst regierenden, demokratisch verfassten Volkes und basiert auf der Idee der Gleichberechtigung aller Bürger. • Andererseits enthält sie aber genauso die Vorstellung eines Volkes, das seinen Exklusivanspruch auf einen Staat und ein Territorium ethnisch begründet. Einführung in die Europäische Ethnologie 86 • Und zwar begründet mit der Vorstellung einer jeweils eigenen, von anderen ganz klar abgrenzbaren Geschichte und Kultur als Grundlage nationaler Identität. Diese beiden Prinzipien des Demos und des Ethnos, und die sich daraus ergebenden Widersprüche und Konflikte sind in unterschiedlicher Gewichtung in allen modernen Staaten weiter repräsentiert. • Nationalisierungsprozesse sind allerdings nie vollständig abgeschlossen. Gerade in der Entwicklung moderner Staaten wechseln sich Phasen liberaler Offenheit mit Phasen nationaler Rückorientierung ab. Einführung in die Europäische Ethnologie 87 • Entlang solcher Konjunkturen lassen sich wenig ethnisierte bis zu hoch ethnisierten Kontexten beobachten. Immer jedoch behauptet sich das Denken in ethnonationalen Kategorien als zumindest latent vorhandenes Distinktionsmuster. • Besonders in Zeiten ökonomischer Krisen oder in gesellschaftlichen Umbruchsituationen scheint sich der offensive Rückgriff auf ethnonationale Unterscheidungsmuster und Grenzziehungen als politische Strategie anzubieten. • Das Denken in ethnischen Kategorien und ein dies scheinbar begründender Kulturbegriff ist – trotz aller Dekonstruktionsbemühungen der Wissenschaft - ein in die Moderne eingeschriebenes Muster. Einführung in die Europäische Ethnologie 88 • Dieses Muster ist nicht auf die Phantasien von Nationalisten und Neo-Rassisten beschränkt. • Wir alle haben gelernt, in diesen Kategorien zu denken und uns die Welt wie selbstverständlich in Nationalitäten und darauf gründende Staaten aufgeteilt vorzustellen. • Insofern schreibt Wolfgang Kaschuba, dass sich ethnische Zusammengehörigkeitsgefühle nicht nur aus Ideologie und Imagination zusammensetzen, sondern auf konkreten sozialen Praktiken beruhen. • Bilder ethnischer Identität sind fester Bestandteil unserer alltagskulturellen Vorstellungswelt und ein selbstverständliches Zuordnungsschema etwa in Arbeitswelt, Medien, Literatur oder Kunst. Einführung in die Europäische Ethnologie 89 • Noch die vehementesten Kritiker ethnonationaler Ausgrenzung bleiben in diesem Diskurs gefangen, wenn ihnen nicht bewusst wird, wie sehr ihr eigener Kulturbegriff ethnisch bestimmt und begrenzt wird. • Das wird nach Frank-Olaf Radtke gerade auch bei den Vertretern des Multikulturalismus klar, die „kulturelle Vielfalt“ gegen nationale Einheit verteidigen, aber letztlich nicht über die Zielvorstellung einer multiethnischen „Vielvölkerrepub-lik“ hinauskommen und so dasselbe Muster un-ter anderen Vorzeichen perpetuieren. • Aus anthropologischer Perspektive und unterstützt durch ethnographisches Material können ethnonationalistische Diskurse dekonstruiert werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 90 • So könnte auch die ethnisierte Verwendung von Kultur in manchen sozialwissenschaftlichen Diskursen überwunden werden. • Anknüpfend an Barth können wir nämlich feststellen, dass kulturelle Praxis stets die im ethnonationalen Diskurs angelegte Vorstellung einer abgeschlossenen Kultur überwindet. • Unsere Untersuchungsfelder Alltagskultur und Identität sind dabei jene Felder, an denen immer schon widerständige Erfahrungen unbedrohlicher, grenzüberschreitender Verständigung gemacht werden können. Und sie wäre zudem jenes Feld, in dem das Potential einer Vergemeinschaftung jenseits ethnonationaler Begrenzungen zu suchen ist Einführung in die Europäische Ethnologie 91 Gemeindeforschung • Gemeindeforschungen verfügen innerhalb der Sozialwissenschaften über eine lange, innerhalb der Volkskunde/Europäischen Ethnologie immerhin über eine gewisse Tradition. • In der Alltagsethnographie der Dorf- und Gemeindeforschung ging man davon aus, „daß sich im begrenzten Ausschnitt einer dörflichen Gesellschaft deren historische Erfahrungen und soziale Ordnungen, kulturelle Verkehrsformen und soziale Gruppierungen sehr präzise beobachten und in ihrem Zusammenwirken als ein überschaubares ‚soziales‘ Universum analysieren lassen“ (Kaschuba). Einführung in die Europäische Ethnologie 92 • Dabei gibt es ganz unterschiedliche Formen der Gemeindeforschung oder community studies. Die Bandbreite reicht von der Untersuchung kleiner Agrargemeinden, über rückständige Orte in urbanisierten Nationen über suburbane Gemeinden bis hin zu enthnischen Gruppierungen und Quartieren in Großstädten. In den USA wurden auch ganze Städte als communities untersucht. • Auch in der Volkskunde wurden community studies durchgeführt, besonders bekannt wurde etwa das von Tübingen aus viel untersuchte Kiebingen. • Gemeindestudien erfuhren aber auch einige Kritik. Einführung in die Europäische Ethnologie 93 • Gisela Welz hat einige Kritikpunkte zusammengefasst: „Gemeindeforschung reproduziert die Gemeinde (…) als eine Verknüpfung von Kultur und Identität. Immobilität, geringe Aktionsradien, intensive Binnenkommunikation, konformitätserzeugende Überschaubarkeit werden in der Sozialforschung gerne der kleinen Gemeinde und ihren Bewohnern zugeschrieben“. • Heute ist die Gemeindeforschung aus der Mode geraten ist. Noch 1967 hatte Sigurd Erixon die Gemeindeforschung zu den dringenden Fachaufgaben gezählt, aber nach einem kurzen Boom in den 1970er und zu Beginn der 1980er Jahren sind die entsprechenden Forschungen wieder zurückgegangen. Einführung in die Europäische Ethnologie 94 • Angesichts spätmoderner Diskurse von Globalisierung, Enträumlichung, Entbettung und wie die Begrifflichkeiten alle lauten, handelt es sich bei der Gemeinde um ein überholtes Konzept, wie manche meinen. • Für viele ist die Gemeinde heutzutage etwas Anachronistisches. Sie wird als ein Stadium einer Entwicklung gesehen, das überholt ist. • In komplexen Gesellschaften hätten kontraktuelle Beziehungen jene Bindungen und Interaktionen ersetzt, die für Gemeinden typisch gewesen seien. Einführung in die Europäische Ethnologie 95 • In diese Richtung gingen schon Argumentationen, bevor Gemeindestudien in Europa populär wurden. Auch Carola Lipp und Wolfgang Kaschuba haben den Begriff „Gemeinde“ bereits in den 1970er Jahren in Frage gestellt: „Vor der Beschäftigung mit Phänomenen des ‚Lebens in der Gemeinde‘ steht somit bei allen gesellschaftlichen Siedlungseinheiten immer die Frage nach der Gültigkeit des ‚Begriffs‘ als Definitionsrahmen; beschreibt er überhaupt noch die wesentlichen strukturellen Grundlagen gesellschaftlicher Existenz?“ • Aber mit solchen voreiligen Schlüssen sollte man vorsichtig sein. Einführung in die Europäische Ethnologie 96 • Zunächst gilt es zu klären: 1. Was ist unter Gemeinde zu verstehen? 2. Spielt sie in der Alltagswelt der Menschen eine Rolle 3. Stellt sie für die Disziplin weiterhin ein tragfähiges Konzept darstellt? • Ausgehend davon können wir den Veränderungen von Gemeinde nachspüren und die mögliche Irrelevanz des Konzeptes behaupten. • Gemeinde wird hier synonym mit dem englischen Begriff community benutzt. Im englischen community schwingt die Doppelbedeutung von Gemeinde und Gemeinschaft stärker mit als in der Verwendung des Begriffs Gemeinde in vielen deutschsprachigen Arbeiten zum Thema. Einführung in die Europäische Ethnologie 97 • Der Begriff Gemeinde kann in einem umfassenden Sinn verwendet werden, wie dies in der Kultur- und Sozialanthropologie üblich geworden ist. Gemeinde wird demnach durch zumindest drei Aspekte charakterisiert, die einander einschliessen können, aber nicht müssen. 1. Erstens kann Gemeinde als eine sozialräumliche Einheit verstanden werden, die den Lebensmittelpunkt einer Gruppe von Menschen darstellt. So sieht z.B. Hermann Bausinger die Gemeinde als eine sozialräumliche Einheit, die durch eine „Spannung zwischen Enge und Weite“ charakterisiert wird. Diese gemeinsame Lokalität kann darüber hinaus eine politische Einheit sein, wie z.B. ein Dorf. Einführung in die Europäische Ethnologie 98 2. Zweitens kann Gemeinde ein gemeinsames Sozialsystem oder eine gemeinsame Sozialstruktur bezeichnen, die lokal verankert sein können, aber nicht notwendigerweise müssen [z.B. Großbauern]. 3. Drittens kann sich das Konzept der Gemeinde auf gemeinsame Interessen zwischen Menschen beziehen [z.B. Sportverein]. • In allen Fällen stellt Gemeinde ein symbolisches und kontrastives Konstrukt dar, das durch ein gemeinsames Bewusstsein einer Grenze gegenüber andere soziale Gruppen bestimmt ist. Dabei können diese Grenzen je nach Perspektive variieren. Einführung in die Europäische Ethnologie 99 • Gemeinden existieren dementsprechend nicht vorwiegend aus sozialstrukturellen Systemen und Institutionen, sondern als Bedeutungswelten in den Vorstellungen ihrer Mitglieder. • In den meisten Gemeindestudien werden allerdings Gemeinden bzw. Gemeinschaften immer an eine spezifische Lokalität wie Stadt, Dorf oder zumindest Ortsteil geknüpft. • Ein Dilemma durchzieht fast alle Gemeindeforschungen. Es handelt sich um das Ideal von Gemeinde, das oft explizit, meist jedoch implizit in den Arbeiten zum Ausdruck kommt. • Um dies zu verstehen, muss auf ein frühes Konzept von Gemeinschaft zurückgeblickt werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 100 • Ferdinand Tönnies führte 1887 ein solches Konzept in die wissenschaftliche Diskussion ein. • Tönnies war ein bedeutender deutscher Soziologe – neben Max Weber und Georg Simmel der wichtigste in der Frühzeit der Soziologie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. • Sein Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ ist das erste – explizit als soziologisch ausgewiesene Grundlagenwerk des Faches. Die erste Auflage erschien 1887, aber erst die zweite Auflage 1912 wurde zum Erfolg, weil mittlerweile die Jugendbewegung zu jener Zeit, die nach Gemeinschaft suchte, dieses Werk populär machte. Einführung in die Europäische Ethnologie Ferdinand Tönnies (1855-1936) 101 Einführung in die Europäische Ethnologie 102 • Tönnies stellte dem Konzept der Gemeinschaft dasjenige von Gesellschaft gegenüber. Bei Gemeinschaft handelt es sich um ein romantisches, rückwärts gerichtetes Konzept, welches die ‚positiven‘ Aspekte der Gemeinschaft vorindustrieller Prägung den ‚negativen‘ Folgen der Industrialisierung gegenüberstellt, die sich im Bild der Gesellschaft bündeln. • Ungefähr zur gleichen Zeit – nämlich 1893 – hatte der französische Soziologie Émile Durkheim sein Werk „Über die Teilung der sozialen Arbeit“ – De la division du travail social – verfasst. Die moderne Industriegesellschaft – so führte Durkheim aus – unterscheide sich von anderen Gesellschaften durch die Arbeitsteilung. Einführung in die Europäische Ethnologie Émile Durkheim (1858-1917) 103 Einführung in die Europäische Ethnologie 104 • Durch die Arbeitsteilung nämlich und die daraus resultierende Spezialisierung seien die Menschen aufeinander angewiesen. Daraus ergeben sich zwei Formen von Solidarität: die mechanische und die organische Solidarität. • Die mechanische Solidarität sei die ältere Form, die für so genannten segmentäre Gesellschaften typisch sei. Diese Gesellschaften seien weniger gegliedert und würden durch Traditionen, Sitten und Sanktionen zusammen gehalten. • Die organische Solidarität zeichnet sich durch kontraktuelle Strukturen aus, in die Menschen in unterschiedlicher Form eingebunden sind. Einführung in die Europäische Ethnologie 105 • Auch Durkheim sah also im damaligen Zustand der europäischen Gesellschaften zwei Arten, wie Menschen miteinander verbunden sind. Der grundlegende Unterschied liegt jedoch in der Beurteilung der damaligen Strukturen. Bei Tönnies wirkt die Einschätzung der neuen Strukturen negativ (zumindest können seine Ausführungen so gelesen werden) und er bezeichnete die älteren Bedingungen der Gemeinschaft als „quasi-organisch“, während die moderne Gesellschaft „quasimechanisch“ sei. Für Durkheim wiederum war es genau umgekehrt, denn er sah die neueren Entwicklungen positiv. Für ihn waren die historisch älteren Formen mechanisch, während er die jüngeren als organisch bezeichnete. Einführung in die Europäische Ethnologie 106 • Beide Autoren hatten den lang andauernden Prozess sozialen Wandels auf zwei relativ statische Typen reduziert. Durkheim hatte aber wenigstens eine Entwicklung anzudeuten versucht, in dem er die Verbindung zwischen den beiden Typen darin sah, dass sie verschiedene Stufen der Arbeitsteilung darstellten. • Seit damals, so schreibt Norbert Elias, „blieb die Verwendung des Begriffes Gemeinde bis zu einem gewissen Grad mit der Hoffnung und dem Wunsch verbunden, noch einmal die geschlosseneren, wärmeren und harmonischeren Formen von Verbindungen zwischen Menschen wiederzubeleben, die vage früheren Zeiten zugeschrieben werden“. Einführung in die Europäische Ethnologie 107 • Gemeinde wurde gleichgesetzt mit „gutem Leben“ und in irgendeiner Form von Gemeinde möchte jeder Mensch leben. Als Resultat dieser Einstellung entstand eine Vermischung von empirischen Beschreibungen, was Gemeinde ist, und normativer Festschreibung, was sie sein sollte; sie ist also ein wissenschaftliches und ein moralisches Konzept. • Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde vorgeschlagen, den Begriff Gemeinde durch den der Lokalität zu ersetzen und die wechselseitigen Beziehungen von sozialen Institutionen in spezifischen Lokalitäten zu untersuchen. Die Problematik dieses Vorschlages liegt jedoch darin, dass Gemeindestudien damit immer an eine Lokalität gebunden wären, was jenen nicht an die Lokalität gebundenen Faktoren von Gemeinde nicht gerecht wird. Einführung in die Europäische Ethnologie 108 • Dieses hier skizzierte Dilemma, dass Gemeinde im Sinne von Gemeinschaft etwas Positives sei, zeichnet viele Gemeindestudien aus dem Umkreis der Europäischen Ethnologie aus. • Dabei ist Gemeinschaft häufig als ein traditionelles Gesellschaftsideal verstanden und dort vorausgesetzt worden, „wo sie gar nicht vorhanden war – ein Bezugsrahmen für die Annahme traditionsgeleiteter Einheiten, in denen soziales Gefälle, Desintegration und vor allem gesellschaftliche Binnenkonflikte kein Thema waren“ (Gyr). • Dem gleichen Problem unterliegen jene Studien, die den positiven Zuschreibungen die negativen Charakterisierungen entgegenhalten. Einführung in die Europäische Ethnologie 109 • Martin Bulmer warf die Frage auf, ob die große Nähe innerhalb von Gemeinden zur machtvollen Kontrolle über alle Mitglieder führen kann. • Um diese Positionen überwinden zu können, unterbreitete Hermann Bausinger den Vorschlag einer Perspektivenverlagerung und sprach von der „Einheit des Orts“: „Während der Ausdruck ‚dörfliche Einheit‘ unwillkürlich die Assoziation der Einigkeit weckt und damit der Vorstellung des in allen Teilen abgestimmten, geschlossenen Organismus nahekommt, steckt die Bezeichnung ‚Einheit des Orts‘ zunächst lediglich einen Raum ab, in dem sich das Geschehen vollzieht. Dieses Geschehen umfaßt … verschiedene Charaktere, sehr verschiedene Handlungen, er schließt Konflikte und Spannungen ein“. Einführung in die Europäische Ethnologie 110 • Conrad M. Arensberg hat die Unterscheidung getroffen, Gemeinde entweder als Objekt oder als Paradigma zu verstehen. • Wird die Gemeinde selbst zum Forschungsobjekt, so Arensberg, dann zielen die Fragen „alle auf die Natur der Gemeinde als Gegenstand eigener Art hin“. • „Auf der anderen Seite steht die hiervon deutlich unterschiedene Fragestellung, die die Gemeinde als ein Untersuchungsfeld oder Paradigma betrachtet, innerhalb dessen etwas anderes als die Gemeinde selbst erforscht werden soll“. Die Gemeinde soll dabei für ein Ganzes – die Gesellschaft oder die Kultur – kennzeichnend sein. Einführung in die Europäische Ethnologie 111 • Viele klassische Gemeindestudien waren so konzipiert. Robert und Helen Lynds erfolgreiche Untersuchung „Middletown. A Study in American Culture“ aus dem Jahr 1929 beispielsweise zielte nicht auf die Spezifik der untersuchten Stadt Muncie in Indiana, sondern wollte typisches amerikanisches Kleinstadtleben bzw. überhaupt amerikanisches Alltagsleben präsentieren. • Für ihre Auswahl der Gemeinde waren zwei Überlegungen entscheidend: „(1) sollte die Stadt für zeitgenössisches amerikanisches Leben so repräsentativ wie möglich sein, und (2) sollte sie gleichzeitig kompakt und homogen genug sein, um eine so umfassende Studie durchführbar zu machen“. Einführung in die Europäische Ethnologie 112 • Wollten die Lynds zunächst religiöse Vorstellungen und Praktiken untersuchen, so erkannten sie bald, dass dieses Phänomen nicht isoliert zu betrachten ist und die vielfältigen Beziehungen zu anderen sozialen Institutionen berücksichtigt werden müssen. Middletown diente über Jahrzehnte als Vorbild für andere Gemeindestudien und rief eine Reihe von ähnlichen Studien auf den Plan. • Sollte mit Middletown die amerikanische Kultur paradigmatisch erforscht werden, verfolgte Lloyd Warner ein noch umfassenderes Ziel. Er wollte verschiedene Gesellschaften auf der Welt miteinander vergleichen und anthropologische Methoden auf moderne Gesellschaften anwenden. Einführung in die Europäische Ethnologie 113 • Sein Ziel war eine Taxonomie aller Gesellschaften. • Mit einem Team untersuchte er in den 1930er Jahren den Ort Newburyport in Massachussetts nach allen Regeln der damaligen Anthropologie. Beeinflusst von Malinowski und Radcliff-Brown wählte Warner einen struktur-funktionalistischen Ansatz und verstand die Stadt als eine Art Organismus, in dem jeder Teil bestimmte Funktionen innehat. In seinem Programm stand Yankee City für die amerikanische Gesellschaft – sie war „ein mikroskopisches Ganzes, das die gesamte amerikanische Community“ repräsentiert. Einführung in die Europäische Ethnologie 114 • Diese Betrachtungsweise der Gemeinde als paradigmatisch für größere Zusammenhänge wie Regionen, Staaten oder nationale Kulturen findet sich in vielen Gemeindestudien wieder, erfuhr aber spätestens seit den 1960er Jahren eine heftige Kritik. • So sprach sich Norbert Elias gegen atomistische Traditionen aus, die die ganze Gesellschaft in kleine Teile zerlegen und damit wiederum das Ganze erklären wollen. • Clifford Geertz meinte, diese Vorgehensweise habe der Sache der Anthropologie besonders geschadet: Einführung in die Europäische Ethnologie 115 • Das „mikroskopische“ Modell („Jonesville-ist-dieUSA“), das die Welt in einem Sandkorn sieht, sei ein offensichtlicher Trugschluss. „Die Vorstellung, man könne das Wesen nationaler Gesellschaften, Zivilisationen, großer Religionen oder ähnliches in zusammengefasster und vereinfachter Form in so genannten ‚typischen‘ Kleinstädten und Dörfern antreffen, ist schierer Unsinn“. • Diese Position sieht Gemeindeforschung als eine Methode, wie es Bjarne Stoklund – ähnlich wie Clifford Geertz – für die Europäische Ethnologie ausgedrückt hat. Sein Anliegen ist, „das Gemeindestudium als spezifisch ethnologische Methode zu beleuchten. Einführung in die Europäische Ethnologie 116 • Es geht also nicht um das Studium von kleinen Gemeinden, sondern um das Studium in den kleinen Gemeinden. Oder anders gesagt: Gemeinde als Mittel, nicht als Objekt“. • Diese Ausrichtung grenzt sich ganz klar gegen zwei Positionen ab. Einerseits wird das bereits genannte mikroskopische Modell verworfen, nach dem eine Gemeinde für eine gesamte Kultur oder Gesellschaft steht. Zum anderen wird der Gemeinde als Forschungsgegenstand eigener Art die Forschungsrelevanz abgesprochen. • Allerdings ist diese zweite Position im Lichte neuerer theoretischer Ansätze nicht unproblematisch. Einführung in die Europäische Ethnologie 117 • Europäische Ethnologen untersuchen in Gemeinden spezifische Probleme, die nichts mit der Natur einer Gemeinde zu tun haben. Darüber hinaus gibt es aber kulturelle Spezifika von einzelnen Gemeinden, die diese selbst als interessant erscheinen lassen.Schließlich sollte nicht vergessen werden, dass das Konstrukt Gemeinde Strukturelemente aufweist, die den Fokus einer Richtung von Gemeindeforschung ausmachen. • Gemeindeforschung lediglich als eine Methode innerhalb der Ethnologie oder der Sozialwissenschaften zu begreifen, wirft ebenfalls Probleme auf. Einführung in die Europäische Ethnologie 118 • Für welchen Gegenstandsbereich liefert uns diese Methode Erkenntnisse? Kann überhaupt von einer Methode gesprochen werden, wo innerhalb von Gemeindestudien ein ganzes Set von Erhebungstechniken zum Einsatz kommt. • Arensberg meinte, „der Vorteil in der Anwendung der Gemeindeforschung ist die damit verbundene intensive Versenkung des Forschers in die innere komplexe Wirklichkeit der Gemeinde“. Man müsse in die Gemeinde fahren und längere Zeit dort verweilen. Denn nur durch den Prozess der Feldforschung und der empirischen Beobachtung können Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenen hergestellt werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 119 • Für die Soziologie – und hier wieder für den lange Zeit quantitativ operierenden Mainstream – meinte Hartmut Häußermann, die Gemeindestudien haben durch den Ausbau sozialwissenschaftlicher Infrastruktur und die Entwicklung leistungsfähiger Datenverarbeitungstechniken an Bedeutung verloren. • Anders liegt der Fall innerhalb der ethnologischen Disziplinen, die sich meist keinem quantitativen, sondern vielmehr einem qualitativen Paradigma verpflichtet fühlen, wo Fragen der Repräsentativität und der messtechnischen Validität keine Rolle spielen, sondern Theorie und Empirie in einem fortlaufenden Prozess weiterentwickelt werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 120 • Unabhängig vom methodischen Paradigma bleibt das prinzipielle Problem, für welche Bereiche die Gemeindeforschung Erkenntnisse liefern kann. • In der Gemeindeforschung muss zudem das Verhältnis von innen und außen berücksichtigt werden. Innen meint dabei die Gemeinde selbst, wie immer diese gestaltet sein mag. Außen meint alles, was nicht innerhalb der realen oder symbolischen Abgrenzungen einer Gemeinde selbst liegt. Dazu muss gesagt werden, dass es auch innerhalb von Gemeinden Grenzen geben kann und gibt. Einführung in die Europäische Ethnologie 121 • Die Debatte über die externen Einflüsse auf lokale Gemeinden ist nicht neu, sondern gehört seit längerer Zeit zu den entscheidenden Fragen der Gemeindeforschung. Daher sind auch viele Kritikpunkte, die heute am Konzept der Gemeindeforschung geübt werden, völlig überzogen, weil sie von einem simplifizierenden Idealtypus ausgehen, den es kaum einmal gegeben hat. Die Behauptung, Gemeindestudien würden beispielsweise Dörfer oder andere Einheiten als isolierte Entitäten betrachten, ist eine dieser Kritikmythen, die kontinuierlich behauptet, ohne auf ihre Stichhaltigkeit überprüft zu werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 122 • Bereits 1960 hatte Hermann Bausinger dagegen argumentiert, Dörfer als isolierte Gemeinden zu betrachten, die keine externen Einflüsse gekannt hätten. Er verweist auf die hohe Mobilität, die es in Dörfern immer schon gegeben hatte. Neben Handwerksburschen hätten sich auch die Knechte und Mägde von Ort zu Ort bewegt, auch die bäuerlichen Güter wechselten oft ihre Besitzer. Nach Kriegen und Seuchen setzte starker Zuzug von außen ein. • Politische, religiöse und ökonomische Beziehungen reichen über eine lokale Ebene hinaus, meinte Jeremy Boissevain: „Sie sind beeinflußt von Beziehungen und Prozessen, die jenseits der Gemeinde auf regionaler, nationaler oder sogar supranationaler Ebene liegen“. Einführung in die Europäische Ethnologie 123 • Ebenso hatte John Cole auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1977 betont, „dass die Gemeinden, die wir studieren, der Schauplatz sind, auf dem viele verschiedene Einflüsse zusammenkommen“. • Bei derselben Gelegenheit meinte Bjarne Stoklund, es müsse berücksichtigt werden, dass viele entscheidende Faktoren, die die Kultur determinieren, außerhalb der lokalen Gemeinde zu finden sind. Ein komparatives Studium von Gemeinden könne daher nicht ohne Rücksicht auf größere Zusammenhänge durchgeführt werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 124 • In einem Überblick über schweizerische Ortsmonographien führt Ueli Gyr zwei interessante Studien an. Die savoyische Hochgebirgsgemeinde Bessans etwa sei eine mobile Ortsgesellschaft, weil Teile der Bewohner traditionellerweise temporär in Paris als Taxichauffeure arbeiten. Und für den Ort Vernamiège wird nachgewiesen, „wie das relative Gleichgewicht einer ehemals ökonomisch geschlossenen Einheit durch exogene Einflüsse aufgelöst ... und traditionelle Existenzweisen zugunsten urbaner Ansprüche aufgegeben wurden“. • Innerhalb der Europäischen Ethnologie war man sich also schon länger im klaren darüber, dass der Mikrokosmos Gemeinde für sich nicht existiert. Einführung in die Europäische Ethnologie 125 • So meinte Orvar Löfgren: „Im Mikrokosmos der Gemeinde bekommt man das Gefühl, Überblick zu haben und eine Ganzheit ergreifen zu können. Allmählich aber entdeckt man, dass diese Ganzheit nur scheinbar ist, und dass andere größere Zusammenhänge immer wieder in die lokalen Lebensformen hineingreifen. Die Grenzen der Gemeinde fangen an, sich aufzulösen.“ • Ein anderes Problem liegt in der historischen Dimension, die bei Gemeindestudien häufig übersehen wird. Einführung in die Europäische Ethnologie 126 • Der britische Anthropologe A. Macfarlane meinte, die Verwendung von anthropologischen Methoden in der Gemeindeforschung habe zu einer Vernachlässigung der Geschichte geführt. Dadurch würde ein falsches Bild der sozialen Beziehungen in kleinen Gemeinden gezeichnet, wobei Integration und soziale Kohäsion dargestellt und Konflikte, Wandel und Instabilität ausgegrenzt würden. • Vor allem jene vom Funktionalismus beeinflussten Gemeindestudien konnten zwar die Strukturen innerhalb von Gemeinden zu einem gewissen Erhebungszeitpunkt herausarbeiten, die Prozesshaftigkeit von Kultur oder überhaupt Aspekte des kulturellen Wandels wurden so jedoch nicht erhoben. Einführung in die Europäische Ethnologie 127 • Das methodische Problem liegt nach Bjarne Stoklund darin, „synchrone Strukturanalyse mit diachroner Prozeßanalyse zu vereinigen“. • Dies ist methodisch kein leichtes Unterfangen, da es eine Verknüpfung von anthropologischen mit historischen Methoden verlangt. • Selbst wenn es aber gelingt, mit synchronen Querschnitten, die zu verschiedenen Zeitpunkten in einer Gemeinde durchgeführt wurden, genauere Informationen über verschiedene historische Zeitpunkte zu erhalten, gewährleistet dies noch keinen genauen Einblick über Verläufe und Ursachen von Wandelsprozessen, für die erst eine geeignete diachrone Perspektive geschaffen werden muss. Einführung in die Europäische Ethnologie 128 • Dennoch muss ein genauerer Blick auf Prozesse des Wandels versucht werden, um den häufig leichtfertig hingeworfenen Behauptungen, wie es gestern gewesen sei und morgen sein werde, eine tief schürfende Analyse von Vergangenheit und Gegenwart in ihrer historischen Bedingtheit entgegenzuhalten. • In den letzten 15 Jahren gab es viele Stimmen, die aufgrund der Globalisierung dafür plädieren, das Konzept der Gemeinde neu zu denken oder überhaupt zu verwerfen. • Norbert Elias hat einen nützlichen Vorschlag gemacht, wodurch sich lokal gebundene Gemeinden auszeichnen. Einführung in die Europäische Ethnologie 129 • Gemeinde ist für ihn eine Gruppe von Haushalten, die am selben Ort angesiedelt und durch funktionale Interdependenzen miteinander verknüpft sind, die stärker sind als jene Interdependenzen, die sie mit anderen Menschen im weiteren sozialen Umfeld verbinden. Dabei hatte er durchaus im Blick, dass diese Interdependenzen Wandlungsprozessen unterliegen, weil die Modernisierungsprozesse die reziproken Abhängigkeiten von Menschen verändert haben. • Diese Perspektive ist hilfreich, weil sie nicht von vornherein die Annahme verlangt, unter den Bedingungen der Globalisierung würde die Lokalität oder die Gemeinde keine Rolle mehr spielen. Einführung in die Europäische Ethnologie 130 • Dabei geht es keineswegs darum, Phänomene der Enträumlichung zu leugnen, aber mit Arjun Appadurai wäre zu fragen: „Was bedeutet Örtlichkeit als gelebte Erfahrung innerhalb einer globalisierten, enträumlichten Welt?“ • Für den Geograph Andrew Kirby ist der Ort in den sozialen Beziehungen nach wie vor von zentraler Bedeutung. „Der Ort ist die Arena, in der Ressourcen genutzt werden (Wohnung, Bildung und andere öffentliche Leistungen), und folglich sind die politischen Kämpfe um den Zugriff auf diese Ressourcen (zwischen Rassen, Klassen oder Homound Heterosexuellen) Ausdruck der Vitalität lokaler sozialer Beziehungen“. Einführung in die Europäische Ethnologie 131 • Roland Robertson versucht der Problematik mit dem Begriff Glokalisierung beizukommen, der die Anpassung „einer globalen Perspektive an lokale Umstände“ meint. Dabei habe die Globalisierung „die Wiederherstellung, in bestimmter Hinsicht sogar die Produktion von ‚Heimat‘, ‚Gemeinschaft‘ und ‚Lokalität‘ mit sich gebracht“. Diese Prozesse würden mit dem Begriff der Glokalisierung am besten gefasst, weil damit sowohl der Idee einer Homogenisierung durch Globalisierung als auch der Idee, Lokalität als eine Form der Opposition oder des Widerstandes gegen das hegemoniale Globale zu verstehen, widersprochen wird. Einführung in die Europäische Ethnologie 132 • Auf andere Weise betont Ulf Hannerz, dessen eigene Forschungen sich seit vielen Jahren mit transnationalen Phänomenen und mit dem Verhältnis lokaler Kulturen zu globalen Veränderungen beschäftigen, die bleibende Bedeutung des Lokalen. Im Lokalen finden die Face-to-face-Situationen und Langzeitbeziehungen zwischen Menschen statt, wobei diese Beziehungen einen hohen emotionalen Gehalt haben können. Dort können auch geteilte Bedeutungen in einem längeren Prozess ausgehandelt werden. Im Lokalen gebe es auch gegenseitige Kontrolle, Abweichungen können informell aber wirkungsvoll sanktioniert werden. Einführung in die Europäische Ethnologie 133 • Lokale Kultur, wie sie in einem Teil der Community Studies untersucht wird, kann so verstanden werden, dass wir einen konkreten Ort als eine Arena annehmen, wo sich die Bedeutungswelten verschiedener Menschen kreuzen und neue Bedeutungen ausgehandelt werden. • Wo diese Bedeutungswelten aufeinander stoßen, so schreibt Ulf Hannerz, hat auch das Globale, das anderswo lokal gewesen ist, eine Chance, heimisch zu werden. • Dies ist die besondere Bedeutung lokaler Kultur – sie ist wichtig, aber nicht autonom. Sie ist zwar in gewissem Sinn an eine Lokalität geknüpft, aber sie reagiert auch im Lokalen auf überlokale Kontexte. Einführung in die Europäische Ethnologie • 134 Das Entscheidende jedoch ist, dies hat seine Auswirkungen im Lokalen, für Menschen, die an einem konkreten Ort leben, auch wenn diese Menschen über vielfältige Beziehungen verfügen, die über diesen Ort hinausweisen. • Gemeindestudien können also auch unter den Bedingungen, die in spätmodernen komplexen Gesellschaften herrschen, sinnvoll sein, wenn folgende Aspekte berücksichtigt werden: 1. Gemeinde darf nicht als ein Mikrokosmos verstanden werden, der isoliert für sich selbst funktioniert. Gemeindeuntersuchungen müssen so konzipiert werden, dass an konkreten Orten Aspekte erforscht werden, die über die Lokalität Einführung in die Europäische Ethnologie 135 hinausweisen. Hier treffen globale kulturelle Flüsse auf spezifische Gegebenheiten und erfahren so jene Differenzierungen, die die Dynamik kultureller Prozesse ausmachen. Das bedeutet keineswegs, dass es nicht auch andere Untersuchungsformen und -bereiche gibt, mit und an denen kulturanthropolgische Themen sinnvoll erforscht werden können. Selbstverständlich kann die Komplexität des Zusammenspiels kultureller Flüsse, verschiedener Bedeutungsebenen und konkreter Praktiken heute nicht allein in einzelnen lokal gebundenen Gemeindestudien erforscht werden. Sollen transnationale Gemeinschaften in den Blick genommen werden, dann sind Formen Einführung in die Europäische Ethnologie 136 „mobiler Feldforschung“ an unterschiedlichen Orten unerlässlich. Hier interessiert allerdings, wie sich Veränderungen, die durch globale Prozesse angestoßen werden, in einer konkreten Gemeinde niederschlagen. 2. Es gibt so etwas wie ein Ethos von Gemeinden. Diese Eigenart, die Gemeinden oder auch Städte auszeichnen können und die sie unverwechselbar machen, hat Andrew Kirby zu folgender Feststellung veranlasst: „Die Kommunalpolitik von Houston unterscheidet sich von der von San Francisco, obwohl beide Städte komplexe urbane Wirtschaftsräume sind, in denen dieselben Ziele der Wohlstandswahrung und politischer Stabilität Einführung in die Europäische Ethnologie 137 verfolgt werden. Darüber hinaus gibt es unzählige weitere Unterschiede in den religiösen Überzeugungen, in den Einstellungen gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung, in der Wohnsituation und Architektur sowie in den kulturellen Praktiken, kurz gesagt: in all dem, was Clifford Geertz (1983) ‚lokales Wissen‘ genannt hat“. Eine Gemeindestudie muss also nicht nur jene Aspekte berücksichtigen, die über eine konkrete Gemeinde hinausweisen, sondern sie auch in ihrer Eigenart analysieren und darstellen. Ein Kennzeichen von Gemeinden ist auch eine Form von Zugehörigkeitsgefühl welches Menschen aus verschiedenen Gründen zu einer Lokalität entwickeln Einführung in die Europäische Ethnologie 138 können. Diese Einzigartigkeit von kleineren soziokulturellen „Gebilden“ in geeigneter Form zu repräsentieren, gehört nicht zu den schlechtesten Traditionen anthropologischer Forschung, obwohl dazu selbstredend auch der Blick über die Grenzen der Gemeinde zählt. 3. Eine Gemeindeforschung neuer Prägung muss vermeiden, ein holistisches Bild einer ganzen Gemeinde zu vermitteln und eine zeitlose Perspektive zu entwerfen. Es wurde bereits darauf verwiesen, wie problematisch die Unterscheidung von Gemeinde als Objekt oder Methode ist. Es gibt sinnvolle Gründe, beide Perspektiven im Auge zu behalten und zwar durchaus gleichzeitig. Einführung in die Europäische Ethnologie 139 Es gilt vor allem der Prozesshaftigkeit der kulturellen Phänomene gerecht zu werden, indem man nicht nur synchrone Ausschnitte produziert, die dann im ethnographischen Präsens präsentiert werden und ein zeitloses Bild einer einzigen Realität suggerieren. Es bedarf der Ergänzung durch eine diachrone Betrachtungsweise, wofür historische Methoden und Materialien herangezogen werden müssen, damit sich die Perspektiven einer Gegenwarts- und einer historischen Ethnographie verbinden können. 4. Den symbolischen wie realen Grenzen, die eine Gemeinde von einer Außenwelt oder von verschiedenen Außenwelten trennen, muss beson- Einführung in die Europäische Ethnologie • 140 dere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Diese Grenzen dürfen jedoch nicht als etwas Undurchlässiges verstanden werden, sondern als ein Raum oder ein Feld, in dem sich die Dinge vermischen und Neues entsteht. Gleichzeit muss auf die internen Grenzziehungen geachtet werden, denn Gemeinden sind nie harmonieträchtige Gebilde ohne Stratifizierungsmerkmale, sondern sind unter anderem durch Hierarchien, Machtverhältnisse und verschiedene Gruppierungen geprägt. Heute wird oft behauptet, lokale Identität, Ansässigkeit und face-to-face-Kommunikation spielten eine immer geringere Rolle und Gemeindefor- Einführung in die Europäische Ethnologie 141 schungen suggerierten oder konstruierten diesbezüglich etwas, was gar nicht mehr existiert. Dabei handelt es sich um einen voreiligen Abgesang an historisch entwickelte Lebenswelten. Die Reduktion von Komplexität führt nicht nur außerhalb sondern auch innerhalb der Akademie zu Vorausurteilen. Sicherlich, wenn die Europäische Ethnologie dahin tendiert, aus einer Schreibtischperspektive die kulturellen und sozialen Veränderungen in den europäischen Gesellschaften zu untersuchen, dann mag der Eindruck entstehen, als lösten sich bisherige Relevanzsysteme vollständig auf und die Menschen befänden sich in einem Zustand ständiger Mobilität, und in einem Reich Einführung in die Europäische Ethnologie 142 der Freiheit freiwillig gewählter Verortungen und Identitätskonstruktionen. Es soll nun nicht behauptet werden, Phänomene der Individualisierung, der Mobilität und der Enttraditionalisierung spielten keine Rolle, aber die Welt war schon immer komplexer, als die Produzenten einfacher Wahrheiten und „logischer“ Entwicklungsmuster uns glauben machen wollten. So können sich vermeintliche Ungleichzeitigen als besonders überlebensfähig erweisen. Wenn wir erst einmal die eigene Lebenswelt und die Zitadellen der Metropolen verlassen, so finden wir im Lokalen eine Vielzahl von Vergemeinschaftungs- und Identitätsbildungsprozessen, die einer genaueren Er- Einführung in die Europäische Ethnologie 143 forschung durch die Europäische Ethnologie harren, die damit zu einem komplexeren und realitätsgerechteren Bild sozialer Wirklichkeit beitragen könnte.